„Get Brexit done“, das war die Devise, mit der Boris Johnson die letzten Unterhauswahlen gewonnen hat. Nun ist das Werk vollbracht, jedenfalls fürs Erste. Allerdings stehen Großbritannien und der EU noch schwierige Verhandlungen über die dauerhafte Regelung des gegenseitigen Verhältnisses bevor. Dass diese Verhandlungen vollständig scheitern, bleibt weiterhin denkbar, denn die EU möchte vermeiden, dass Großbritannien Zugang zum Binnenmarkt erhält, wenn es nicht seinerseits garantiert, bei Produktstandards, bei Umweltvorschriften, aber auch beim Arbeitsrecht die gleichen Regeln anzuwenden wie die EU-Mitgliedstaaten. Ein unfairer Wettbewerb soll vermieden werden. Umgekehrt will die britische Regierung sich auf keinen Fall der Jurisdiktion des EuGH unterstellen und auch nicht Regeln übernehmen müssen, die die EU in Zukunft, ohne die Briten zu konsultieren, beschließen könnte.
Der Brexit beflügelt die Zentralisten im EU-Parlament
Allerdings gibt es auch Gegenkräfte. Zu diesen ist sicherlich der unnachahmliche Guy Verhofstadt (mit vollem Namen Guy Marie Louise Verhofstadt) zu rechnen, der einmal mehr eine flammende Rede im EU-Parlament hielt, in der er die wirklichen Gründe für den Brexit mit bestechender Klarheit identifizierte: zu wenig Zentralisierung. Wäre die EU ein echter Staat und die Nationalstaaten nur noch reine Provinzen dieses Staates, dann hätte es nie einen Austritt der Briten gegeben. Offenbar hat Verhofstadt nicht verstanden, dass in Großbritannien das Verschwinden des eigenen Nationalstaates anders vielleicht als in Deutschland oder auch in Verhofstadts eigenem Belgien, das freilich nur noch die Fassade eines Nationalstaates bietet, weil es schon längst in Teilstaaten zerfallen ist, nie konsensfähig war.
Was Politiker wie Verhofstadt, seines Zeichen immerhin einer der führenden Köpfe der Liberalen im EU-Parlament, nicht begreifen, ist, dass die EU gerade deshalb in eine Dauerkrise geriet, weil sie zu oft den zweiten Schritt vor dem ersten gemacht hat: Eine Währungsunion ohne politisches Fundament und offene Binnengrenzen ohne gesicherte Außengrenzen und eine gemeinsame Migrationspolitik sind nur zwei besonders eklatante Beispiele dafür. Fraglich bleibt aber auch die Idee eines einheitlichen europäischen Staates an sich, denn Europas Stärke war in der Vergangenheit immer seine Vielfalt, übrigens auch und gerade mit Blick auf die unterschiedlichen Wirtschaftsmodelle und -kulturen.
Eine nüchterne Bilanz des Brexit
Wie aber wird es in Großbritannien selber weitergehen? Bemerkenswert ist, dass es nun doch erste Signale der Aussöhnung zwischen den verfeindeten Lagern von Seiten der Remainers gibt, jedenfalls in England, weniger wohl in Schottland. Im Guardian rief Timothy Garton Ash, ein überzeugter Remainer und ein sehr angesehener liberaler Wissenschaftler und Publizist, dazu auf, nun dafür zu sorgen, dass die möglichen negativen wirtschaftlichen Folgen des Brexit das Land nicht zu hart treffen. Hier müssten auch die besiegten Remainers sich aktiv engagieren. Mit einer gewissen Berechtigung wies er aber auch darauf hin, dass Großbritannien außerhalb der EU nur prosperieren kann, wenn auch die EU wirtschaftlich leidlich erfolgreich ist. Die Verflechtung der Volkswirtschaften ist einfach zu eng. Ash, ein kluger Mann, der auch an anderer Stelle zeigt, dass seine eigenen politischen Sympathien die Ausgewogenheit seines Urteils nicht allzu sehr beinträchtigen, will damit freilich nicht jenen Verfechtern eines englischen Sonderweges beistimmen, die für England nationale Freiheit und für den Kontinent einen zentralisierten Staat fordern. Zu ihnen gehört etwa der Cambridger Historiker Brendan Simms, für den namentlich Deutschland der europäischen Einigung seine eigene Existenz und seinen schwindenden Wohlstand bedingungslos opfern muss, wenn Europa als neues Imperium gedeihen soll. Hier ist er sich dann mit EU-Fanatikerinnen wie der großartigen Ulrike Guerot, der Titania McGrath des EU-Enthusiasmus, ganz einig. Nein, Ash macht selbst darauf aufmerksam, dass die verbleibenden EU-Länder einen großen Fehler machen würden, wenn sie sich dem Irrglauben hingäben, dass der britische Aufstand gegen die EU nur Ausdruck der bekannten britischen Neigung zum Exzentrischen sei.