Der Protest wird nicht leiser, aber beständiger: Nur ein Teil der diskriminierenden Maßnahmen ist gefallen
Matthias Nikolaidis
Obwohl in vielen Ländern Notstandsregelungen ebenso wie einzelne Maßnahmen zurückgenommen werden, glauben viele Menschen noch nicht an die Entwarnung. Der kommende Herbst wird von vielen als Zeit der Wahrheit gesehen. Die Proteste breiten sich derweil aus. Diese Woche neu dabei: Finnland, Chile und Taiwan.
Ähnlich wie in Deutschland bleibt es auch im Rest Europas bei regelmäßigen Protesten gegen die Pandemiepolitik, auch wenn viele Maßnahmen derzeit angesichts unbelasteter Gesundheitssysteme auslaufen. Doch viele Menschen bleiben misstrauisch. Dabei spielen auch Befürchtungen eine Rolle, dass ein Teil der Maßnahmen bestehen bleibt und für eine schleichende Umgestaltung des alltäglichen Lebens sorgen könnte – etwa durch Anforderungen durch private Unternehmen oder durch die Reaktivierung der nun teils ausgesetzten digitalen Nachweissysteme, die eine Art Social-Credit-System bringen könnten.
Es ist daher kein Wunder, wenn Demonstranten weltweit auf Rückkehr zur alten Normalität beharren und gegen die Komplikationen der Covid-Politiken protestieren. In Österreich, den Niederlanden und der Schweiz setzte sich der Protest mit Demonstrationsmärschen fort, etwa in Innsbruck, Bregenz oder Amsterdam.
Im ordentlichen Basel hielt man den Kuhglocken-Protest von angeblich „rund 500 Corona-Skeptikern“ aus. Hält man die 80 Demonstranten gegen den Ukraine-Krieg in der Stadt dagegen, scheint diese Zahl nicht mehr so klein.
Im Norden schließen sich die Finnen in Helsinki dem internationalen Protest gegen verpflichtende Impfnachweise an.
Auch im Zentrum von London fand eine große Demonstration gegen Covid-Impfungen (besonders für Kinder) statt, die zugleich gegen das geplante Gesetz zur „Internet-Sicherheit“ gerichtet war. Der Gesetzesentwurf namens „Online Safety Bill“ enthält Maßnahmen gegen „schädigende Rede“, die – vergleichbar dem deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetz – Online-Portalen wie Facebook und Twitter eine Handhabe zur Einschränkung der Redefreiheit geben. Auch in Liverpool regt sich der Protest gegen eine „medizinische Tyrannei“. Daneben stehen auf den Transparenten eingängige Slogans zu lesen, etwa: „Fliegen sterben wie die Fußballer“.
Frankreich: „Noch immer gibt es einen Haufen unzusammenhängender Maßnahmen“
In Frankreich wurde der „pass vaccinal“ zum 14. März für die meisten Bürger ausgesetzt. Doch die Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung und die Impfpflicht im Besonderen enden damit nicht. So gab es in Paris erneut die gemeinsame Demonstration der Gelbwesten und Maßnahmengegner sowie eine zweite Demonstration der „Patrioten“ um Florian Philippot, die sich ebenfalls – neben anderen Zielen – gegen den „Impfpass“ wendet. Auch in Frankreich bleibt es für die Mitarbeiter im Gesundheitswesen und in der Pflege bis auf Weiteres bei der neuen „Passpflicht“.
In Lyon gab es am Sonnabend einen Demonstrationsmarsch unter dem Motto „Lyon für die Freiheit“. Daneben richtet sich die Lyoner Demonstration auch gegen die Inflation, gegen den „großen Reset“ und tritt für die Wiedereinstellung der suspendierten Pfleger ein. In Nizza versammelten sich laut France Bleu Demonstranten gegen den Impfpass. Einer der Teilnehmer sah keinen Widerspruch in seinem Protest: „Pfleger, die es ablehnen, sich impfen zu lassen, sind noch immer suspendiert. Immer noch gibt es einen Haufen unzusammenhängender Maßnahmen.“ Außerdem habe man ja schon vor der Einführung des „Impfpasses“ begonnen zu demonstrieren.
Italien: Aufruf zur Einheit und zum Verzeihen trotz Diskriminierung
Im norditalienischen Modena haben sich Hunderte Menschen (laut Angaben aus der italienischen Presse) aus verschiedenen Städten versammelt, um weiterhin gegen die Regierungsmaßnahmen zu protestieren – auch wenn Mario Draghi zuletzt die Aufhebung des Notstands und die Aufhebung der Impfpflicht verkündet hat. Dabei war auch der Rock-Musiker und Anführer der Bewegung „Hafenarbeiter gegen den Pass“ aus Triest, Stefano Puzzer, der in seiner Ansprache unter anderem sagte: „Die größte Kraft, die wir besitzen, ist die, denen zu verzeihen, die uns diskriminieren, die uns an den Rand gedrängt haben und uns verurteilen. Wir urteilen über niemanden. Wir wollen unsere Rechte verteidigen. Ich möchte, dass mein Sohn einmal zu mir sagen wird: ‚Danke, Papa, dass du meine Rechte verteidigt hast.‘“ Puzzers Haltung enspricht natürlich dem biblischen „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet“, und ist als Ausdruck moralischer Größe zu verstehen.
Puzzer kritisierte auch die Fahnen unter den Zuschauern (etwa einige für den Italexit) und betonte, dass man in diesem Kampf vor allem geeint sein müsse, jenseits der Parteien und Bewegungen. Aber er mahnte auch zur Standhaftigkeit angesichts der Lockerungen: „Wenn wir jetzt weich werden, werden sie im Oktober die Kette wieder anziehen, die uns Rechte und Freiheiten geraubt hat.“
Man dürfe auch die Angestellten im Gesundheitswesen nicht vergessen: Sie seien erst als Helden gefeiert worden, um dann als erste von allen diskriminiert zu werden. Und heute gehören sie, so Puzzer, zu den letzten, die noch immer diskriminiert werden. Noch immer brauchen sie einen Impfnachweis, um arbeiten zu können. Das soll bis zum Jahresende so bleiben. „Wenn wir an unsere Arbeit zurückkehren, dann lasst uns an die denken, die das nicht tun können. Werte wie Brüderlichkeit, Menschlichkeit, Solidarität kann uns niemand wegnehmen.“ Im Hafen von Olbia schlossen sich Taxifahrer dem Protest der Arbeiter an.
Kanada: Der nicht abflauende Protest, trotz Gerichtsverfügungen
Im kanadischen Calgary versuchte man die wöchentlichen Anti-Maßnahmen-Proteste durch eine Gerichtsverfügung vom Freitag einzugrenzen. Friedliche Demonstrationszüge werden so zur „Blockade“ und Lärmbelästigung umstilisiert. Auch „kommerzielle Aktivitäten in Parks“ soll es nicht mehr ohne Erlaubnis geben. Der Erfolg war bisher begrenzt. Die Demonstranten ließen sich jedenfalls nicht entmutigen.
Die Geschäftsstraße 17 Avenue blieb dieses Wochenende allerdings verschont, die Proteste konzentrierten sich auf den Central Memorial Park und das Rathaus der einstigen Olympiastadt. Diese Demonstrationen werden als „weitgehend friedlich“ beschrieben. Trotzdem gab es fünf Festnahmen aufgrund der neuen Gerichtsverfügung und Dutzende Strafzettel, zum Teil wegen Parkdelikten. Die Festnahmen betrafen laut Polizeichef Mark Neufeld die Mitglieder der „Anti-Regierungs-, Anti-Impfpflicht-Protestgruppe“.
Auch in Toronto hupten die Trucker erneut, verstärkt von Krankenpflegern. Neben der kanadischen Fahne sieht man auch die Flaggen der USA oder Australiens. In Québec soll zwar der „Gesundheitsnotstand“ in den nächsten Wochen vorerst enden, aber noch bis zum Jahresende will man sich die Möglichkeit offenhalten, ihn wieder zu aktivieren. Die Städte Montreal, Victoria und Vancouver sahen ebenfalls Proteste.
Die internationale Presse von der New York Times bis zu Aljazeera hat inzwischen den Spin gefunden, den sie dem kanadischen Truckerprotest geben will. Der Toronto Star deckte auf, dass es sich keineswegs nur um eine Anti-Impfpflicht- oder einen Anti-Maßnahmen-Protest gehandelt habe, vielmehr habe sich das Phänomen Truckerprotest schon im Januar 2019 zum ersten Mal in Ottawa gezeigt. Schon damals gab es Kritik an der Regierung Justin Trudeaus.
Dieser Aspekt ist im Grunde nichts Neues: Auch heute nehmen die Covid-Proteste in vielen Ländern Protestthemen auf, die schon vor den Pandemiemaßnahmen existierten. Schwierig wird das Argument allerdings, wenn man dem schwarzen Ex-Polizeichef von Ottawa, Peter Sloly, unterstellt, er habe gemeinsame Sache mit weißen Suprematisten gemacht, was der Toronto Star immerhin nicht tut, dafür aber andere.
USA: Auch die Trucker in Washington geben ein Beispiel für die Einheit
Ähnlich ist das Framing der New York Times für den US-amerikanischen Truckerprotest, der nicht nur Anti-Covid-Protest sei, sondern daneben auch Einblicke über die amerikanische Rechte biete. Aber ist das ein Wunder, wenn die US-Demokraten – ähnlich wie Linke, „Liberale“ und Grüne in Europa und anderswo – sich fast ausschließlich als „Maßnahmen-Partei“ verstehen und präsentieren? Damit öffnet sich ganz automatisch eine Tür für ein Bündnis zwischen Maßnahmen-Protest und der konservativen (oder einer neu entstehenden) Opposition.
Das Lager der Trucker in Hagerstown (Maryland) direkt vor den Toren Washingtons wird derweil zum Ort eines Happenings, vielleicht auch der Folklore. Einige Trucker haben sich in die Hauptstadt getraut und werden dort von ihren Gegnern zum Teil wüst beschimpft. Die derart angegriffenen Trucker reagierten nicht nur gelassen und verwundert über die Aggression, sondern sogar herzlich, und wünschten dem Mann, dass der Rest seines Tags hoffentlich besser würde.
Die Polizei versucht noch immer, Einfallstraßen in die Hauptstadt zu blockieren, und könnte damit selbst zum Verkehrsstau beitragen.
In New York setzen sich die „Restaurant-Proteste“ gegen Gastwirte fort, die Impfnachweise einfordern, obwohl keine gesetzliche Notwendigkeit dazu besteht.
„Nein zum Mobilitätspass“ auch in Chile
Auch in Südamerika beginnen sich Covid-Pass-Proteste zu beleben, so in Uruguay und Chile, dort unter dem Slogan: „Es ist nicht für deine Gesundheit, es ist Kontrolle und Korruption. Nein zum Mobilitätspass“. Ein Polizeieinsatz folgte, bei dem ein Demonstrant bewusstlos zu Boden ging.
Auch in Taiwan breitet sich eine Protestbewegung aus, die sicher noch in den Kinderschuhen steckt.
Australien und Neuseeland: Protest in zahlreichen Städten
In Melbourne, das im letzten Jahr eine Insolvenzwelle erlebte und langsam aus dem selbstauferlegten Lockdown der Bürger erwacht, waren erneut Hunderte auf der Straße. Auch der Protest in der Hauptstadt Canberra bleibt lebendig. Aus Cairns im nördlichen Bundesstaat Queensland wird ebenfalls von neuen Freiheitsmärschen berichtet. Die Demonstranten hielten Schilder wie „Liebe, Ehre, Wahrheit, Zustimmung, Mitgefühl“ oder auch „Die ganze Wahrheit“ hoch.
Auch in Neuseeland wird die Frage nach den politischen Auswirkungen der Proteste auf kommende Wahlen gestellt. Ein Drittel der Neuseeländer ist demnach gegen eine Impfpflicht, ein Viertel unterstützte den 23-tägigen Protest am nationalen Parlament. Der frühere Parlamentsabgeordnete Matt King trat aus der ländlich-agrarisch orientierten National Party aus und gründete die Partei DemocracyNZ, die den Bürgern eine Stimme geben will. Auch konservative Politiker und Bürgerinitiativen haben sich mit den Protesten solidarisiert oder gar geholfen, sie zu organisieren.
Premierministerin Jacinda Ardern rechtfertigte sich für die Aussetzung des Impfpasses in Neuseeland, aber hielt auch fest, dass er in der Zukunft erneut als opportunes Mittel zum Einsatz kommen könnte.
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