Tichys Einblick
Justiz in den USA

Oberster Gerichtshof der Vereinigten Staaten stellt Glaubensgemeinschaften über das Gesetz

Der Oberste Gerichtshof der USA hat gesprochen: Vereinfacht gesagt, müssen sich nach dem Urteil Gläubige nicht mehr unbedingt an alle Gesetze halten. Es ist eine weitreichende Entscheidung mit unabsehbaren Folgen gerade in Zeiten der Corona-Maßnahmen.

Im Schatten der Corona-Krise passieren viele wichtige Dinge. Die meisten davon bleiben unbemerkt, weil der Umgang mit dem Virus unsere Wahrnehmung so dominiert, dass daneben schlicht kaum Platz mehr für anderes ist: nicht in den Nachrichten und nicht in unseren Köpfen.

Das Erntedankfest („Thanksgiving“) ist der wichtigste Feiertag in den USA. Am Vorabend dieses wohl weltweit größten Truthahn-Gemetzels hat der Oberste Gerichtshof des Landes – der US Supreme Court (USSC), vergleichbar etwa mit dem deutschen Bundesverfassungsgericht – eine Entscheidung veröffentlicht, deren Tragweite so groß ist, dass man sie eigentlich gar nicht überschätzen kann.

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„Die ich rief, die Geister,
werd‘ ich nun nicht los.“
(Johann Wolfgang von Goethe: „Der Zauberlehrling“, 1797)

Der Anlass passt in unsere Zeit: Es geht um Anti-Corona-Maßnahmen, also um Einschränkungen des öffentlichen Lebens zur Bekämpfung der Pandemie.

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Der Bundesstaat New York ist von der Seuche heftig gebeutelt. Gouverneur Andrew Cuomo von der Demokratischen Partei hat deshalb ein umfangreiches und auch recht kompliziertes System von Regelungen erlassen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Dazu gehört, dass sich in besonders stark betroffenen Landkreisen nicht mehr als zehn Menschen gleichzeitig an „Orten des Gebets“ aufhalten dürfen.

Das klingt hart. Tatsächlich aber werden Gotteshäuser hier sogar noch privilegiert behandelt: Denn alle anderen vergleichbaren „öffentlichen Zusammenkünfte mit festen Anfangs- und Endzeiten“ (Lesungen, Konzerte, Theateraufführungen, …) sind komplett verboten.

Trotzdem hat die Erzdiözese des New Yorker Stadtteils Brooklyn gegen diese Einschränkung geklagt – und gewonnen.

Es geht hier ausdrücklich nicht darum, was man von Anti-Corona-Maßnahmen im Allgemeinen und von denen im Staate New York im Besonderen hält oder auch nicht hält. Dazu mag man stehen, wie man will. Bemerkenswert, ja geradezu bahnbrechend ist das Urteil wegen der Begründung – und wegen der möglichen (oder besser: wegen der wahrscheinlichen) Folgen.

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Mit „Roman Catholic Diocese of Brooklyn v. Cuomo“ wirft das USSC seine eigene Rechtsprechung der vergangenen 30 Jahre quasi über den Haufen.

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Die Fälle, in denen es im weitesten Sinn um Religionsfreiheit geht („religious liberty cases“), haben in den USA schon immer besonderes Aufsehen erregt und waren, ebenfalls schon immer, auch bei den Obersten Richtern selbst besonders umstritten. Letztlich geht es um Kläger, die ein bestimmtes allgemeines Gesetz nicht befolgen wollen und das damit begründen, dass Handlungen, die dieses Gesetz vorschreibt, mit ihrem Glauben nicht zu vereinbaren seien.

In den vergangenen drei Jahrzehnten war der USSC extrem zurückhaltend damit, Klägern, die sich auf ihren Glauben berufen, zu gestatten, für sich aus religiösen Gründen eine Ausnahme von einem allgemeinen Gesetz geltend zu machen.

Irgendwie lustig, aber vor allem richtungweisend war hier 1990 das Urteil im Fall „Employment Division v. Smith“: Zwei US-Amerikaner indianischer Abstammung wurden von ihrem Arbeitgeber – einem privaten Drogenrehabilitationszentrum – wegen dienstlicher Verfehlungen gefeuert, weil sie, nun ja, während eines Rituals in ihrer indianischen Freikirche ein traditionelles indianisches Halluzinogen konsumiert hatten.

Dummerweise konnte man im US-Bundesstaat Oregon, wo sich das Ganze zutrug, keine Arbeitslosenhilfe beantragen, wenn man – wie die beiden Betroffenen – wegen dienstlicher Verfehlungen entlassen wurde. Also klagten die Beiden gegen das Arbeitsministerium des Bundesstaats: Das Verbot des rituellen Konsums einer traditionellen Droge verstoße gegen ihr Grundrecht auf freie Religionsausübung.

Der Fall landete schließlich beim USSC, und der entschied, dass auch Gläubige „neutrale Gesetze von allgemeiner Anwendbarkeit“ befolgen müssen, solange diese Gesetze gleichermaßen für gläubige wie für nicht-gläubige Bürger gelten (was ja praktisch auf alle Gesetze zutrifft).

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Ein erster Schritt in die entgegengesetzte Richtung kam 2014.

Die als „Obamacare“ bekannten Gesetze, stark verkürzt gesagt, verpflichteten die US-Unternehmen, ihren Mitarbeitern eine Krankenversicherung zu bezahlen – und zwar ausdrücklich auch solche Versicherungen, bei denen Verhütungsmittel mit abgedeckt sind.

Das wollten zwei Unternehmer nicht. Ihnen ging es gar nicht darum, überhaupt keine Krankenversicherung zu bezahlen: Sie wollten nur keinen Versicherungsschutz mitfinanzieren, der auch Verhütungsmittel umfasst. Dabei beriefen sich die Firmeneigentümer auf ihre von der Verfassung geschützte religiöse Überzeugung – und wurden von der Regierung verklagt, die ihre gesetzliche Krankenversicherungspflicht (samt Finanzierung von Verhütungsmitteln) durchsetzen wollte.

Der USSC gab den Unternehmern Recht. Das Urteil im Fall „Burwell v. Hobby Lobby“ war seit den 1960er-Jahren der erste relevante Richterspruch, der es jemandem (in diesem Fall sogar einem Unternehmen und nicht nur einer Privatperson) gestattete, sich aus religiösen Gründen NICHT an ein allgemein gültiges Gesetz halten zu müssen.

Allerdings ging es in dem Fall um ein BUNDESgesetz und dessen Anwendbarkeit. Ausnahmen von BUNDESSTAATSgesetzen aus religiösen Gründen erlaubte das Urteil (noch) nicht.

Dann kam Erntedank 2020.

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„In den USA kam nie die Säkularisierung an die Macht.“
(Peter Sloterdijk – Interview am 17. November 2020)

Für einen durchschnittlichen Europäer – auch für jemanden, der kein militant-atheistischer Religionshasser ist – erscheint das Verhältnis Amerikas zum Glauben befremdlich. Das liegt wohl daran, dass in den USA (anders als in Europa) so etwas wie eine Säkularisierung tatsächlich nie stattgefunden hat.

Der Glaube ist nicht nur, wie so vieles in den Vereinigten Staaten, ein großes Geschäft, von dem sehr viele Menschen in und um die unzähligen Freikirchen leben (in Europa würde man wohl viele davon als Sekten einstufen). Der Satz „In God we trust“ („Wir vertrauen auf Gott“) wird, gesetzlich vorgeschrieben, auf jede Münze geprägt und auf jede Banknote gedruckt. Das Motto wurde vom US-Kongress als offizieller Wahlspruch des Landes festgelegt – nicht irgendwann in grauer Vorzeit, sondern 1955.

Religion ist für die amerikanische Kultur konstitutiv.

Noch als die heutigen US-Bundesstaaten an der Ostküste britische Kolonien waren, gab es in den 1730er-Jahren das sogenannte „Great Awakening“: eine gigantische protestantische Erweckungswelle, der mehrere weitere folgten – und zwar bis in unsere Tage hinein. Im Weißen Haus sind nicht nur evangelikale Prediger Dauergäste, auch einige Präsidenten (aus beiden großen Parteien) können durchaus als christliche Fundamentalisten gelten: Der aktive Baptist Jimmy Carter bezeichnete sich selbst – ganz in der Tradition der Erweckungsbewegungen – als „wiedergeborenen Christen“, genauso wie der konvertierte Methodist George W. Bush.

Nicht erst seit „Employment Division v. Smith“ 1990, aber vor allem seitdem, beklagen christliche Fundamentalisten eine aus ihrer Sicht zu liberale, sozusagen säkulare Rechtsprechung am USSC, die angeblich nicht genügend Rücksicht auf das individuelle Glaubensbekenntnis nimmt. Insbesondere Urteile zur gleichgeschlechtlichen Ehe (z. B. Obergefell v. Hodges, 2014) und zur Abtreibung (z. B. Planned Parenthood of Southeastern Pa. v. Casey, 1992) werden von den Religiösen kritisiert.

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Donald Trump gelang es dann 2014, dieses große Wählerpotenzial für seine Republikaner mit dem Versprechen zu aktivieren, das religiöse Anliegen zu schützen. Vor allem sagte er zu, die von den christlichen Fundamentalisten empfundene kulturelle Entmachtung mithilfe der Gerichte zu stoppen und offene Richterstellen entsprechend zu besetzen. (So erklärt sich auch, dass die Religiösen dem mehrfach verheirateten Trump – einem offenkundig gar nicht religiösen notorischen Ehebrecher – eisern die Treue hielten.)

Trump hielt Wort. Während seiner vierjährigen Amtszeit konnte er drei Richter am USSC ernennen. Er wählte drei bekennende und praktizierende Christen: Neil Gorsuch (episkopalisch), Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett (beide katholisch).

Interessanterweise sind alle drei insgesamt gar nicht einmal die konservativsten Richter am USSC. Teilweise haben sie in der Vergangenheit sogar liberaler geurteilt als ihre jeweiligen Vorgänger. In Fällen, die mit Religion zu tun hatten, waren alle drei aber stets verlässlich auf der Seite des Glaubens und seiner traditionellen Auslegung.

Bei christlichen Fundamentalisten in den USA wächst deshalb die Hoffnung, der USSC könne von ihnen als falsch empfundene Tendenzen zurückdrehen. Tatsächlich wurde aus der Mitte des Gerichts gerade angeregt, das Urteil über die gleichgeschlechtliche Ehe bei nächster Gelegenheit doch wieder zu ändern.

Und „Roman Catholic Diocese of Brooklyn v. Cuomo“ geht in dieselbe Richtung.

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Die Freude tiefreligiöser Kreise in den USA über diese Entwicklung mag etwas den Blick trüben. Denn bei näherer Betrachtung schafft das USSC-Urteil mehr Probleme, als es löst – gerade auch für Christen.

Man mag es ja als Sieg für die Religion empfinden, wenn man sich als Katholik in der Diözese Brooklyn jetzt auf seinen Glauben berufen kann und deshalb dann nicht mehr alle Gesetze befolgen muss. Allerdings gilt dieses Privileg nicht nur für eine Glaubensrichtung, sondern für alle.

Schon bei „Roman Catholic Diocese of Brooklyn v. Cuomo“ geht das USSC in der Urteilsbegründung ausdrücklich auch auf den Fall einer jüdischen Gemeinde in New York ein (Agudath Israel of America), die ebenfalls – natürlich aus Gründen der Religionsfreiheit – trotz Corona-bedingten Verbots weiter Gottesdienste in ihrer Synagoge durchführen wollte. Und dieser jüdischen Gemeinde wurde dasselbe Recht wie der Diözese zugesprochen, sich nicht an New Yorks Anti-Corona-Regeln halten zu müssen.

Man mag sich kaum vorstellen, was passiert, wenn die Obersten Richter der USA ihre neue Linie in Bezug auf die Religionsfreiheit konsistent beibehalten.

Allein im christlichen Glauben gibt es in den USA zwölf größere und schier unendlich viele kleinere Religionsgemeinschaften, die offiziell anerkannt (und auch steuerlich begünstigt) sind. Die Zahl der anerkannten jüdischen, muslimischen, buddhistischen und hinduistischen Gemeinden sowie der anerkannten Sekten ist praktisch nicht zu ermitteln. Kein Wunder: Der „Satanische Tempel“ ist in den USA ebenso eine anerkannte Religionsgemeinschaft wie Scientology.

Was passiert, wenn die sich jetzt alle auf „Roman Catholic Diocese of Brooklyn v. Cuomo“ berufen und – selbstverständlich aus religiösen Gründen – Ausnahmen von allgemeinen Gesetzen fordern? Bisher müssen sich auch Mormonen an das Verbot der Polygamie halten. Bleibt das so? Geht künftig Religion über Tierschutz, darf geschächtet werden? Können in bestimmten Fällen religiöse Regeln statt allgemeiner Gesetze angewendet werden – zum Beispiel die Scharia in Familienangelegenheiten?

Und was ist, wenn jemand eine Sekte gründet, deren Glaubensbekenntnis das Zahlen von Steuern verbietet? Diese Religion hätte sicher reichlich Zulauf.

Schnell wird klar, wie problematisch der Richterspruch zugunsten der Diözese von Brooklyn ist. Die Freude christlich-fundamentalistischer Kreise mag verständlich sein – weitsichtig ist sie nicht.

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