Tichys Einblick
Aus "nationalem Interesse" Ungarns

Der nächste Plan gegen Orbán

Gegen Viktor Orbán ist Ungarns Opposition weiterhin ohnmächtig. Das Seufzen ist groß in Brüssel, Berlin und in moralisch überlegenen westlichen Medien. Nun kommt eine neue Idee: Orbán soll sich selbst ablösen.

IMAGO/LePictorium

Ungarns Opposition kann es einfach nicht. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán sitzt fester im Sattel als je zuvor. Die jüngste Meinungsumfrage (von IDEA, 20.7.) sieht Fidesz bei 54 Prozent der Sympathien „sicherer Wähler“. Im Oppositionslager haben sich die Gewichte erheblich verschoben: Die einst „vereinte“ Opposition ist zerfallen, mehrere Politiker tragen sich mit dem Gedanken, neue Parteien zu gründen, Sozialisten und die einst rechte Jobbik-Partei versinken in Bedeutungslosigkeit. Die angeblich linke, in Wahrheit neoliberale „Demokratische Koalition“ des allerdings weithin verhassten, früheren Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány hat die Reste der zerbröselnden Sozialisten aufgesaugt und liegt laut Idea-Umfrage relativ unverändert als stärkste Oppositionspartei bei 14 Prozent der „sicheren“ Wahlabsichten.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Spektakulär ist hingegen der Aufstieg einer neuen Rechtspartei: „Mi Hazánk“ („Unsere Heimat“) liegt in der Studie bei 9 Prozent der überzeugten Wähler und überflügelt damit Jobbik – von der sie sich 2018 abspaltete. Bereits bei der Parlamentswahl im April übertraf sie alle Erwartungen mit 5,7 Prozent der Stimmen und dem Einzug ins Parlament.

Diese Entwicklung dürfte ein Grund sein für Orbáns kontroverse Formulierung in seiner Rede vom 23. Juli in Siebenbürgen, Mitteleuropäre wollten keine „gemischtrassigen“ Gesellschaften werden. Das wich ab von seinem gewohnten Stil – sonst sagt er immer, Europas christliche Zivilisation müsse verteidigt werden gegen den wachsenden kulturellen Einfluss muslimischer Einwanderer.

De facto ist es dasselbe – wenn Durchschnittsbürger die Formel „muslimische Einwanderer“ hören, denken sie vermutlich an Menschen anderer Hautfarbe. Aber das Wort Rasse ist eben nicht dasselbe wie „Kultur“, das Konzept selbst ist unwissenschaftlich, und die Verwendung des Begriffs war außenpolitisch ein Fehler. Orbán hat dies zuerst indirekt eingeräumt, auf einer Pressekonferenz in Wien („manchmal äußere ich mich missverständlich“), und mittlerweile auch öffentlich gegenüber Tichys Einblick („über Rasse zu sprechen, war ein Fehler“).

Aber innenpolitisch mag dieser „Fehler“ dazu beitragen, einer tatsächlich rassistisch verwurzelten Partei, nämlich „Unsere Heimat“, den Wind aus den Segeln nehmen.

Wie auch immer, Orbán sitzt wie immer fest im Sattel, und die Verzweiflung ist entsprechend groß im Lager der Opposition und jener Politiker und Medien im Westen, die in Orbán ein großes Übel sehen. Wie soll er je von der Macht getrennt werden, wenn es über Wahlen nicht geht?

Es gibt einen Plan B: über das Geld. Wenn die Opposition nicht siegen kann, soll die Regierungspartei selbst ein Einsehen haben und sich von Orbán befreien. Eventuell möge Orbán selbst erkennen, dass er zur Last geworden sei für sein Land, und den Platz freimachen für einen Nachfolger. Oder eine Nachfolgerin. So lautet ein Vorschlag des sozialistischen Europa-Abgeordneten István Ujhelyi. Begründung: Ungarn wird unter Orbán niemals die EU-Gelder bekommen, die dem Land eigentlich zustehen. Es sei also gegen die Interessen des Landes, an Orbán festzuhalten. Und das nationale Interesse sei doch das Leitmotiv der gesamten Fidesz-Philosophie.

In die gleiche Kerbe schlagen Kommentare in westlichen Medien, wonach Orbán nicht mehr in die EU gehöre. Am klarsten formulierte es Thomas Schmid in der „Welt“: Orbán (nicht Ungarn, und nicht die Regierungspartei Fidesz, sondern Orbán) habe in der EU „nichts verloren“. Zwischen den Zeilen: Ein Ungarn unter Fidesz, aber ohne Orbán, darüber ließe sich eventuell reden.

Netzwerk „konservative Internationale“
Warum Amerikas Konservative Orbán als Vorbild sehen
Einiges spricht dafür, dass Orbáns kontroverse Formulierungen – sowie konkrete Schritte der von ihm geführten Regierung – tatsächlich ein erhebliches Hindernis darstellen für die Auszahlung von EU-Mitteln an Ungarn. Sieben Milliarden Euro aus dem Covid-Topf der EU wurden auf Eis gestellt, nachdem Ungarn ein Kinderschutzgesetz verabschiedete, das die sexuelle Erziehung von Minderjährigen deren Eltern vorbehält. Ohne deren schriftliche Erlaubnis dürfen LGBTQ-Aktivisten und NGOs Minderjährige an Schulen nicht für die Feinheiten geschlechtlicher Identität „sensibilisieren“. Kurz davor hatte – ungarischen Quellen zufolge – Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen signalisiert, dass Ungarns Plan für die Verwendung der Gelder in Ordnung sei und bald unterzeichnet werden könne. Dann kam das Gesetz, und von der Leyens öffentliche Reaktion: Es sei eine „Schande“.

Die Gelder werden seither zurückgehalten. Auch die Kohäsions-Mittel der EU für die kommenden Jahre sollen über den neuen „Rechtsstaatlichkeitsmechanismus” gekürzt werden – wenn Ungarn nicht einer ganzen Reihe von Forderungen nachkommt. Die wichtigste bleibt offiziell ungenannt: Wenn Ungarn der neuen EU-Staatsanwaltschaft beitritt, dürfte es zu einer Lösung kommen. Der Beitritt ist „freiwillig“, aber es gibt wenige Zweifel, dass ohne diesen freiwilligen Schritt die Zwangsmaßnahme der finanziellen Gängelung nicht so bald zurückgenommen wird.

Einen Kompromiss zu finden, das ist die Aufgabe des neuen ungarischen Ministers für die Verwendung von EU-Geldern, Tibor Navracsics – ein neu geschaffener Posten. Alle paar Wochen sagt er, dass es vorangeht und es eigentlich kaum noch ungeklärte Sachfragen gibt. Letztlich komme es auf den politischen Willen an. Aber jedesmal, wenn ein wenig Hoffnung aufkommt, sagt Orbán etwas, auf das die Reaktion in Brüssel und im EU-Parlament eigentlich nur negativ sein kann. Die „Rasse“-Rede war für Orbáns Gegner natürlich besonders gut auszuschlachten.

Insofern kann es gut sein, dass Ungarn tatsächlich kein Geld bekommt aus den EU-Töpfen. Aber nur, wenn die rechtsstaatlichen Regeln von der EU selbst missachtet werden und Geld aus politischen Gründen vergeben oder zurückgehalten wird, statt nach objektiven, messbaren Kriterien.

EuGH weist Klage Ungarns und Polens ab
Ein „Rechtsstaatsmechanismus“ als Mechanismus der Macht
Schadet Orbán also dem nationalen Interesse Ungarns? Eine entscheidende Frage ist wohl, ob die Gelder problemloser kämen, falls Orbán seine Rhetorik etwas zurückschraubte. Wahrscheinlich eher nicht, denn das eigentliche Problem ist das EU-Parlament. Von dort, und von vielen Medien, ist extremer Druck zu erwarten auf die EU-Kommission, sollte diese Ungarn oder auch Polen unter ihren gegenwärtigen Regierungen das ihnen geschuldete Geld geben. Egal, was diese Regierungen sagen oder tun.

Aber „nationales Interesse“ ist nicht nur Geld. Eine gute Wirtschaftspolitik muss für gesunde Finanzen sorgen, nicht Abhängigkeit von EU-Mitteln. Eine Regierung, die da versagt, wird meist an den Urnen abgestraft. Aber Polen und auch Ungarn stehen in Sachen Wirtschaftswachstum Jahr für Jahr besser da als die meisten Länder der Eurozone.

Das nationale Interesse besteht vor allem darin, für das jeweilige Land einen möglichst weiten politischen Spielraum zu schaffen. Das ist ein anderes Wort für Freiheit. Sich politischem Druck zu beugen, gekoppelt mit finanziellem Druck, wäre das Gegenteil davon.

Anzeige
Die mobile Version verlassen