Dass man nach dem gewaltsamen Tod George Floyds in Minneapolis auf eine Reform der lokal organisierten Polizei sann, ist verständlich. Die Anwendung von Würgegriffen aller Art oder auch Fixierung am Nacken soll der Vergangenheit angehören. Mit dieser und weiteren Neuerungen will der demokratische Bürgermeister Jacob Frey den »systemischen Rassismus entwurzeln«, den er der Polizei seiner Wahlheimat attestiert.
Die Auseinandersetzung um diese Polizeipraxis bleibt parteipolitisch allerdings ein Patt, denn wie sich zeigt, haben auch seit langem demokratisch geführte Bundesstaaten und Stadtverwaltungen hier Nachholbedarf. So gehen auch die Bundesstaaten Kalifornien und New York unter dem Demokraten Andrew Cuomo gerade erst daran, den polizeilichen Würgegriff zu verbieten.
Öffentlich vertreten wird der Beschluss von der Ratsvorsitzenden Lisa Bender, die sich allerdings schwer tut, ihre Politik oder gar das Rationale dahinter öffentlich zu erklären. Vielleicht ist das aber schlicht so, weil es tatsächlich weder Sinn noch Verstand in dem von ihr unterstützten Beschluss gibt. Auf CNN wurde sie befragt, was das eigentlich bedeutet: Demontage des Minneapolis Police Department, oder auch jenes Wort von der »polizeifreien Zukunft«. Das könnte, so die Moderatorin, doch einige Bürger nervös machen: »Was mache ich, wenn mitten in der Nacht in mein Haus eingebrochen wird? Wen rufe ich dann?« Bender gab zu Protokoll, dass auch sie solche Ansichten laut und deutlich vernehme, von ihren Nachbarn und – ja! – auch von sich selbst, aber sie wisse auch, dass das die Fragen der Privilegierten seien (»that comes from a place of privilege«). Alle, für die das alte System funktioniert habe, sollten sich nur einen Moment lang fragen, was es bedeutet, in der Realität zu leben, in der der Ruf nach der Polizei »mehr Schaden« bewirkt.
Volkstribunal gegen den Bürgermeister
Bender, von Beruf Stadtplanerin, scheint eine genaue Idee vom guten Regieren zu haben, indem sie eine Institution, die angeblich oder offenbar (je nach Standpunkt) für einige Bürger nicht mehr funktioniert, schlicht abschaffen will. Dann verdünnt sie ihr Argument und sagt, dass die Polizei zu häufig unnötigerweise wegen mentaler Probleme, häuslicher Gewalt oder anderen »Themen mit Gesundheitsbezug« (?) gerufen werde. Klar ist nur: Man surft auf der emotionalen Welle, die George Floyds gewaltsamer Tod ausgelöst hat. Es ist ein Anti-Gefühl, nicht viel mehr, das sich in radikalen Forderungen und – nun auch – Beschlüssen ausdrückt, die kaum folgenlos bleiben werden.
In einer Szene, die an ein Revolutionstableau erinnerte, wurde der Bürgermeister kurz darauf auf Herz und Nieren geprüft und für zu leicht befunden. »We don’t want no more police, is that clear?«, rief die junge Schwarze mit der an einem Ohr hängenden Gesichtsmaske und stellte dem Bürgermeister nur scheinbar eine Frage. »Wir wollen keine Polizei mehr, keine Leute mit Pistolen, die in unseren Gemeinschaften herumstolzieren und uns niederschießen. Werden Sie dem Minneapolis Police Department die Mittel entziehen? Ja oder Nein?« Die Antwort des Bürgermeisters von Minneapolis kann man zunächst durch eine Art Baulärm im Hintergrund nicht verstehen.
Aber von Frey – der sich seit Beginn der Unruhen zwischen allen Stühlen sieht – kam hier ein klares Nein, er sei keineswegs für die Abschaffung der städtischen Polizei. Und genau darauf hatte die Masse gewartet, der Dialog war damit vorbei. Es folgte ein Gang zum metaphorischen Schafott. Die Masse öffnete – halb respektvoll – eine Gasse für den Bürgermeister und rief ihm – eher respektlos – ein vielmaliges »Geh nach Hause, Jacob, geh nach Hause!« hinterher. Die junge Volkstribunin hatte zuvor bereits angedeutet, was Freys negative Antwort bedeuten würde: Keine Stimmen von dieser »Gemeinschaft« bei den nächstes Jahr anstehenden Kommunalwahlen.
Die Enthauptung der Stadt in ihrer schwersten Stunde
Die Radikalisierung der Black-Lives-Matter-Bewegung – wenn es ihrer noch bedurfte – wird so immer deutlicher fassbar. Denn zuvor hatte Frey den Demonstranten praktisch alles zugestanden, was man von einem Bürgermeister in dieser Lage erwarten kann: eine strukturelle Reform der Polizei an Haupt und Gliedern, unter Ausmerzung des ihr innewohnenden »systemischen Rassismus«, Zurückdrängung des Einflusses der Polizeigewerkschaft. Was konnte man mehr verlangen? Eben nur die Abschaffung der Polizei.
Es handelt sich um eine Forderung linker Kreise, die wohl unter Obama in verschiedenen Splittergruppen und vereinzelt bei Regierungsbeamten aufkam und heute fröhliche Urstände feiert. Doch wird diese Bewegung damit vermutlich mittelfristig den Kontakt mit der breiteren Anti-Trump-Bewegung in Medien und Politik verlieren und dadurch geschwächt werden. Oder aber sie obsiegt als genuin revolutionäre Kraft und fegt das liberale Establishment hinweg.
Ob Freys deutliches »Nein« am Ende ein formales Veto gegen den Stadtratsbeschluss sein wird, bleibt unklar. Einige erklären den Ratsbeschluss an sich schon für »veto-proof«, während andere warnen, das »Veto« des Bürgermeisters könnte erneut vom Stadtrat überstimmt werden. Doch was folgt dann? Wird Frey zurücktreten, während die Polizei von Minneapolis aufgelöst wird? Das wäre wohl eine Enthauptung der Stadt in ihrer schwersten Stunde. Klar ist eins: Die Stadt kann sich in der aktuellen Lage wohl eines am wenigsten leisten, den Verzicht auf eine einsatzbereite Polizei.
Anleitung zum Aufstand
Woher kommt also der Gedanke einer Definanzierung der Polizei? Vertreten wird er beispielsweise von einer ehemaligen Angestellten des Justizministeriums unter Barack Obama, die inzwischen zur Hochschullehrerin avancierte. In ihrem aktuellen Beitrag für die Washington Post meint Christy E. Lopez, es sei wichtig, von der »Abschaffung« der Polizei zu sprechen, weil dieses Wort daran erinnere, dass deren Tätigkeit »das primäre Hilfsmittel für jene Gewaltanwendung war, die ihrerseits die ungerechtfertigte ›weiße Kontrolle‹ über die Körper und Leben schwarzer Menschen aufrechterhielt, welche wir seit der Sklaverei mit uns herumtragen«. Man merkt schon an diesem Bandwurmsatz, dass das, von dem Lopez hier sprechen will, etwas äußerst Kompliziertes ist, das sich durch Amerikas Geschichte windet wie ein unübersichtlicher Fluss, bei dem man nie weiß, was hinter der nächsten Biegung kommt: gefährliche Stromschnellen, ein apokalyptischer Wasserfall oder doch die Fischerhütte zum Rastmachen?
Was schlägt Lopez praktisch vor? Auch sie spricht (wie Bender) von zu vielen Einsatzbereichen der Polizei, obwohl der gesunde Menschenverstand einem sage, wie unnötig das sei – beispielsweise bei Verkehrsunfällen, Drogendelikten oder der absichtlichen oder unabsichtlichen Verwendung von Falschgeld. Angeblich will sie nur mit der »Kriminalisierung von Sucht und Armut« abschließen, doch tatsächlich fordert Lopez eher die Aufgabe des öffentlichen Raums durch die Polizei. Die bisherigen Polizeimittel will sie dann in Prävention und Sozialprogramme investieren.
Immerhin ist aber auch Lopez klar, dass mit der Polizei nicht alle Übel der amerikanischen Kultur – wie institutionalisierter Rassismus oder soziale Ungleichheit – untergehen würden: Die »Beschädigungen durch die Tätigkeit der Polizei« seien nur »das Produkt dieser breiteren Pathologien«. So haben angeblich Rassenvorurteile, die dem Gesundheitssystem inhärent seien, die höhere Sterblichkeit von Schwarzen bewirkt. Das alles ist eine Rhetorik, die vom Rückblick lebt und die zweifellos existierende Geschichte des Rassismus in der amerikanischen Gesellschaft bis ins Heute fortschreiben muss, um nur irgendeinen Sinn zu ergeben. Wie glaubwürdig das ist, muss allerdings die amerikanische Gesellschaft selbst sagen. Beim Thema der Polizei wird aber deutlich, dass man Hand an Institutionen legen will, die für viele Amerikaner Sicherheit und Schutz bedeuten.
Von revolutionären Massen getriebene Bürgermeister
In zahlreichen Städten – Chicago, Portland, Washington und anderen mehr – wurden nun Forderungen nach deutlichen Einsparungen bei der Polizei laut. Fox News bemerkt, dass der anschwellende Druck die Politiker noch vor dem leisesten Affront gegen die neue »Bewegung« zurückschrecken lässt. So versprach Bürgermeister Bill de Blasio, die Mittel für die New Yorker Polizei zusammenzustreichen; das Geld will er stattdessen – Lopez-gerecht – für Jugend- und Sozialhilfe ausgeben. Der Bürgermeister von Los Angeles kündigte an, ganze 150 Millionen Dollar, also etwa ein Zehntel des bisherigen Polizeibudgets, auf People-of-Color-Projekte umzuleiten. Es scheint eine simple Gleichung: Flute die Hotspots der Kriminalität mit sozialen Mitteln und vermindere so die Aufgaben der Polizei, die ohnehin seit langem über Überlastung klagt. Allerdings will man das Einsparpotential bei der Polizei, das sich eigentlich erst mittelfristig ergeben könnte, jetzt und sofort ausschöpfen. Wenn diese Rechnung bloß aufgehen könnte!
In Chicago scheinen Einsparungen bei der Polizei einstweilen nicht auf der Tagesordnung zu stehen. Aus ihren Gesprächen mit Bürgern hat die schwarze Bürgermeisterin Lori Lightfoot gelernt: »Die Leute wollen mehr Schutz durch die Polizei, nicht weniger.« Lightfoot ist nicht nur Demokratin, sondern auch die erste lesbische Afroamerikanerin an der Spitze von Chicago. Sie hat allerdings schon seit längerem Bekanntschaft mit den Vorläufern der heutigen Pressure-Groups gemacht, die eine Demontage der Polizei forderten. 2015 hatte Chicago seinen eigenen Polizei-Skandal. Ein Video war veröffentlicht worden, das einen Beamten bei der Tötung eines schwarzen Teenagers zeigte. Wochenlange Straßenproteste folgten. Lightfoot wurde damals von ihrem Vorgänger Rahm Emanuel in das aufsichtführende Chicago Police Board berufen und zeigte sich als Vorsitzende bemüht, hart gegen Polizeiwillkür durchzugreifen. In drei Viertel der berichteten Fälle von polizeilichem Fehlverhalten wurden die beteiligten Beamten aus dem Dienst entlassen.
Heute steht auch Lightfoot in Chicago erneut unter Druck – zum einen durch einen revolutionären Mob auf der Straße, dann durch Kritiker von der Rechten, die ihr mangelndes Durchgreifen in den aktuellen Unruhen vorwerfen.
In Minneapolis hat nun ein Unternehmer angekündigt, samt seinem Betrieb und dutzenden Jobs wegzuziehen, weil die Stadt nicht länger seine Sicherheit garantiere. Als ein anderer Betrieb in seiner Nachbarschaft im Verlauf der Unruhen niederbrannte, musste Kris Wyrobek mit ansehen, wie die Feuerwehr nichts unternahm, um die Flammen zu löschen. Eine Lokalzeitung berichtet, dass seit Beginn der Unruhen nahezu 1.000 Geschäfte und Betriebsstätten beschädigt wurden. 52 von ihnen wurden vollkommen zerstört, weitere 30 stark beschädigt. Der Gesamtschaden wird auf 500 Millionen Dollar geschätzt, etwa ein Drittel des Schadens der Unruhen von Los Angeles 1992 (1,4 Mrd. Dollar). Der landesweite Schaden dürfte diese Summe bei weitem übertreffen.