Tichys Einblick
Postmoderne Musikforschung

Dekolonialisierung in Oxford: Mozart und Beethoven als »sklavenzeitliche« Komponisten

Einige Dozenten der Universität sind zu der Erkenntnis gelangt, dass ihre Fakultät sich zu sehr auf »weiße europäische Musik aus der Zeit der Sklaverei« konzentriert, also zum Beispiel auf Klassiker wie Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven.

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Einige Professoren an der Musikfakultät der Universität Oxford haben ein Papier verfasst, in dem vom »kolonialen« Erbe der klassischen Musik die Rede ist. Davon betroffen sind auch die Werke Mozarts und Beethovens. Doch die Forscher bohrten noch tiefer: Am Grund des Problems fanden sie die seit Guido von Arezzo entwickelte abendländische Musiknotation und deckten so ein koloniales Züchtigungsinstrument auf, das seines gleichen sucht.

Oxford – das ist ein Name, der auch und gerade bei Musikbüchern einen guten Klang hat. Die Oxford Companions boten lange verlässliche und reichhaltige Informationen zu den unterschiedlichsten Themen aus der Musik. Seit 2004 wird auch das New Grove Dictionary of Music vom universitätseigenen Verlag herausgegeben. Nun sind allerdings Papiere aus der Faculty of Music der Oxford-Universität an die Öffentlichkeit gedrungen, die nahelegen, dass dem Lehrplan der ehrwürdigen Institution ein deutlicher Einschnitt bevorstehen könnte. Wie der Londoner Telegraph erfuhr, soll das grundständige Studium vor seiner definitiven »Dekolonisierung« stehen, natürlich alles im Gefolge der Black-Lives-Matter-Bewegung. Endlich soll die »Komplizität« des Lehrplans mit der »weißen Hegemonie« zumindest in Oxford überwunden werden.

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Einige Dozenten der Universität sind zu der Erkenntnis gelangt, dass ihre Fakultät sich zu sehr auf »weiße europäische Musik aus der Zeit der Sklaverei« konzentriert, also zum Beispiel auf Klassiker wie Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven. Denn natürlich waren die beiden Komponisten – wie eigentlich alle Menschen damals – Zeitgenossen der großen Sklavenraubzüge in Afrika. Etwas früher hatte ein gewisser Georg Friedrich Händel sogar Geld in die britische South Sea Company investiert, die afrikanische Sklaven nach Südamerika bringen sollte, aber (zu Händels heutigem Glück) bald Pleite ging.

Müssen wir also nach einigen Scherzen von John Cleese, Monty Python und Little Britain nun auch auf Mozarts Klarinettenkonzert und die Mondscheinsonate, auf »Ombra mai fu« und den Messiah verzichten? Schaffen wir es vor der großen Reinigung noch, das Wiener Singspiel Die Neger von Antonio Salieri wiederzuentdecken, das übrigens keine rassistischen Untertöne aufweist, vielmehr für ethnisch gemischte Ehen plädierte? War nicht Beethoven selbst eventuell ein Schwarzer, wie es vor knapp zwei Jahren hieß? Seitdem will ein Filmemacher einen DNA-Test an den Überresten des großen Boomers, nein Bonners, durchführen lassen. Der moderne Klavierheroe Alfred Brendel hatten das bekanntlich vorab durch ein Dada-Gedicht bestätigt.

Doch den Oxforder Musikologen geht es gar nicht mehr um Kleinigkeiten wie ein paar falsch investierte Guineas, wie sie etwa den berühmten Philosophen David Hume in Edinburgh zu Fall brachten. In Oxford besinnt man sich auf ein wirklich großes Thema: die musikalische Notation. Seit dem mittelalterlichen Benediktinermönch Guido von Arezzo kann man Musik als schwarze Punkte auf weißem Papier notieren und so als international handelbares Gut in alle Welt verschicken. Selbst am anderen Ende der Welt kann ein entsprechend ausgebildeter Mensch das Notenbuch namens Partitur öffnen und die notierte Musik spielen oder singen. Das ist trotz aller Vorläufer eine geradezu einmalige Errungenschaft der abendländischen Kultur, die ein Fortleben der notierten Werke sogar im Falle einer außerirdischen Übernahme wahrscheinlich macht.

Für einige Oxford-Professoren ist genau das »kolonialistisch«. Warum? Weil inzwischen auch halb Asien für Schubert und Tschaikowski schwärmt? Weil im brasilianischen Urwald ebenso wie in Kasachstan und Australien seit kurz oder lang Opernhäuser stehen? Die musikalische Notation habe ihre »koloniale Vergangenheit« noch nicht abgeschüttelt, heißt es allen Ernstes in einem Papier, das dem Telegraph vorliegt. Auch das Erlernen eines Tasteninstruments oder das Dirigieren sehen die Autoren als schädlich an, da beide Musizierarten um ein Repertoire kreisen, das sich »strukturell auf weiße, europäische Musik konzentriert« und daher »students of colour« große Schmerzen verursacht: Great distress, indeed!

An ideologischen Lehrthemen herrschte schon bisher kein Mangel

Als schmerzhaft gilt außerdem, dass sogar die Dozenten in ihrer übergroßen Zahl »weiße Männer« sind. Schaut man aber genauer auf die Liste des musikwissenschaftlichen Lehrpersonals in Oxford, so findet man mehr Vielfalt, als diese Behauptung nahelegt. Und tatsächlich wird einem dort einiges klar. Denn manche der Professoren scheinen ihre politischen Steckenpferde zu Lehrthemen ausgebaut zu haben. So geht es etwa um: »the construction of identity through music«, »communism« (natürlich hat kein Dozent »capitalism« oder »free market theory« angegeben), »the application of ecological theory to music perception«, »ecocriticism and the environmental humanities«, »Migration«, »Intercultural music«, »female vocality« (ich glaube, ein Forschungsgebiet wie »male vocality« gibt es gar nicht) oder auch »the cultural tradition of psychedelic music in San Francisco«.

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Man sieht, wo andere ihre dürren Fachgebiete angeben, die aber vollkommen ausreichend sind, um den wissenschaftlichen Nachwuchs zu orientieren, haben einige ihre Stellenbeschreibungen zu individuellen Sonderforschungsbereichen ausgebaut. Eine Institution, die einst auf die universale, möglichst objektive Wissensvermittlung ausgerichtet war, hat sich innerlich ideologisiert.

Das ist offenbar der Grundstein für das, was nun folgt: die Abschaffung der freien Lehre und Forschung zu klassischer Musik. Es kann kaum um die Abschaffung der klassischen Musik gehen, denn die bleibt als Vermächtnis bestehen, egal, was die Nachkommenden von ihr halten. Aber wie wir uns heute mit ihr beschäftigen, ob und wie wir sie spielen, singen, interpretieren, das ist eine offene Frage, die jeden Tag von neuem entschieden wird.

Ein Sprecher spricht von »einigen aufregenden neuen Elementen«

Auch nicht-europäische Musikformen scheinen an der Oxforder Fakultät bereits einen gewissen Raum einzunehmen: Hip-Hop und Jazz werden dort schon heute unterrichtet. Diesen Bereich will man nun noch weiter ausbauen. So könnten statt frühneuzeitlicher Messen oder Schubert-Liedern bald »African and African Diaspora Musics«, »Global Musics« oder auch »Popular Musics« auf dem Lehrplan stehen. Man beachte jeweils den Plural. Die Behauptung, es gäbe ein einheitliches Themenfeld »Musik«, wäre offenbar schon repressiv.

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Am Ende würde man nur zu gerne dem Oxford-Sprecher glauben, der namens der Musikfakultät mitteilte, dass man dem Curriculum lediglich »einige aufregende neue Elemente« hinzufügen wolle, die schon seit einigen Jahren in Planung gewesen seien. Dazu gehören neben nicht-westlicher und populärer Musik einige Kurse zur Psychologie und Soziologie der Musik (auch eher als Modethemen). Aber natürlich solle durch diese »aufregenden« Elemente nicht die »traditionelle Exzellenz« bei der Analyse, Geschichtsschreibung und dem Spielen der »westlichen Kunstmusik« (ein verräterischer Begriff) geschmälert werden.

Auch Komposition, Musikpädagogik und – dann doch wieder – das angeblich »strukturell weiße« Dirigieren von Orchesterwerken sollen auch weiterhin in Oxford gelehrt werden. Anscheinend geht es doch nicht um eine Ausmerzung dieses angeblich »kolonialen« Erbes. Man will nur kurz so tun und ein paar Sonderforschungsbereiche mehr gründen, um sich zumindest zeitweise mit etwas weniger Anstrengendem als Giovanni Pierluigi da Palestrina, Richard Wagner oder Karlheinz Stockhausen zu beschäftigen.

Der Glaube, nicht dazu zu gehören, als identitäres Erlebnis

Der gedankliche Ursprung des ganzen Vorhabens dürfte im übrigen jenseits des großen Teichs zu suchen sein. Im September vergangenen Jahres veröffentlichten ein Musiker und Musikologe einen Gastbeitrag auf dem US-Internet-Portal Vox.com, in dem sie etwas überspitzt alle Üblichkeiten und Konventionen des klassischen Konzerts aus einem Stück ableiten: Beethovens fünfter Symphonie mit dem Klopfzeichen-Thema, die bekanntlich auch als Schicksalssymphonie bezeichnet wird. Der Hauptfehler des sicher einflussreichen Werks: Es wurde von einem inzwischen verstorbenen weißen Mann komponiert und wirke – so die These der beiden Autoren – heute nicht mehr anziehend auf »Frauen, LGBTQ+-Menschen, People of Colour«.

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Wahr ist, dass unter anderem auch Beethovens Symphonien durch ihren geistigen Anspruch für eine Überformung des Konzertrituals in Westeuropa sorgten. Genauso gut könnte man hier Haydn, Mozart und Schubert nennen. Irgendwann im 19. Jahrhundert wurde das klassische Konzert, so wie wir es heute kennen, geboren. Aus einer bunten Stückrevue wurde damals ein erhabener Akt und ein intellektuelles Unterfangen, begleitet von zaghaftem Husten und vermiedenem Applaus, doch potentiell aufregender als jeder Thriller.

Das journalistische Stück kam zu dem Ergebnis, dass Beethoven zu groß sei, als dass man ihn heute noch spielen könnte, ohne die Beschädigung der Zeitgenossen zu riskieren. Als Kronzeuge zitierten die Autoren den Musikkritiker James Bennett II, der etwas mysteriös dekretierte: »Wenn man die Idee perpetuiert, dass die Giganten der Musik alle gleich aussehen, versteht der ›Andere‹, dass er keinen Platz in dieser Musik findet.« Der Andere? Das ist bekanntlich eines der schlimmsten fiktiven Konzepte, die je den Planeten gesehen haben. Der Glaube, nicht dazu zu gehören, als identitäres Erlebnis.

Der schwarze Klarinettist der New Yorker Philharmoniker, Anthony McGill, schlussfolgerte, dass man das Publikum nur abschrecken werde, wenn man behauptet, dass es nur Beethoven gäbe und seine Musik unübertrefflich ist (wer tat das übrigens?). Stattdessen müsse man heutige Komponisten nach vorne rücken, die versuchten, »die Beethovens ihrer Zeit zu werden«. Nur zu, der Wettbewerb ist eröffnet.

Nennt ihre vollen Namen! Von der positiven Diskriminierung durch Abkürzung …

Erstaunlich an dem Text war letztlich weniger sein Inhalt, als dass er so breite Wellen schlug. Denn der Grundgedanke war keineswegs neu. Seit langem bemühen sich kreative Klangkörper und Klassikveranstalter darum, ein neues, jüngeres Publikum durch alternative Programme und Konzertformate zu gewinnen. Neu an dem Vox-Text war allenfalls die Verbindung mit den Themen der Rasse und des Geschlechts. Durch sie gewann die Grundthese sozusagen neue Aktualität in den durch eine vorgebliche Schwarzenrechtsbewegung geschüttelten Vereinigten Staaten.

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Die Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit ist real
An dem Text entzündete sich eine ganze Literatur. Weiter ging es mit relativ harmlosen Aufrufen, neben Mozart und Beethoven doch auch den einen oder anderen unbekannteren »composer of colour« zu hören oder die Werke einer der inzwischen nicht mehr so seltenen Komponistinnen zu spielen. Dann gab es eine Fraktion, die sich an scheinbaren oder wirklichen Kleinigkeiten aufhält … zum Beispiel bei der Tatsache, dass wir zwar häufig von Bach, Beethoven und Brahms, aber von Clara Schumann und Scott Joplin sprechen. Fällt Ihnen etwas auf? Genau, die drei großen Bs haben keine Vornamen, die komponierende Pianistin vom 100-Mark-Schein und der schwarze Ragtime-Komponist aber schon. Wie diskriminierend man doch sein kann, ohne je daran gedacht zu haben. Natürlich müssen von jetzt an alle Komponisten mit Vornamen genannt werden.

Und dann gab es noch die Leute, die eine verrückte Liebe zur klassischen Musik hegten und trotzdem Sätze schrieben wie: »Es ist nicht ungewöhnlich seinen Misshandler zu lieben.« – »Die westliche klassische Musik ist auf People of Color angewiesen, um ihre Fassade als moderne, fortschrittliche Institution aufrecht zu erhalten.« – »Solange People of Color Kunst machen, bleibt die Kultur lebendig.« Und am Ende: »Es ist Zeit, die klassische Musik sterben zu lassen.«

Liest man Texte wie diesen von 2019, kommt man am Ende bei der Erkenntnis an, dass die klassische Musikkultur Europas vielleicht wirklich nicht ohne die Europäer als ihr Substrat überleben kann. Aber vielleicht eben doch … dank der von alten weißen Männern erfundenen musikalischen Notation.


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