Tichys Einblick
Orbáns Politik als Gegenentwurf wahrgenommen

Debatten um Ungarn – Debatten um Deutschland?

Die ungarische bürgerliche Regierung von Viktor Orbán ist das Schreckgespenst der Linksliberalen und Grünen in ganz Europa, auch in Deutschland. Warum eigentlich? Eine Spurensuche. Von Bence Bauer

IMAGO / Christian Spicker

Die von Ministerpräsident Viktor Orbán seit 2010 geführte konservative Regierung in Ungarn gilt vielen grünen, linken und linksliberalen Parteigängern als Antipode ihrer eigenen Überzeugungen, als Negativbeispiel und Schreckgespenst. Doch auch viele Christdemokraten und Konservative in weiten Teilen Europas hadern mit der eigenwilligen, doch auch sehr erfolgreichen und selbstbestimmten Politik.

Worin liegt diese Haltung begründet? Bei genauem Hinsehen verraten die Debatten über Ungarn mindestens genauso viel über das gegenwärtige Deutschland und auch Europa mit all seinen gesellschaftspolitischen Tendenzen, die für nicht wenig Furore sorgen.

Neue Tendenzen in Deutschland

In den letzten Jahren haben in Deutschland und weiten Teilen Europas beachtenswerte Entwicklungen Einzug gehalten. Bedingt durch die aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland überschwappenden Bewegungen verändern sich akademisches, journalistisches, politisches, gesellschaftliches und öffentliches Leben schnell und tiefgreifend. Diese werden gemeinhin mit den Begriffen Wokismus, Genderismus, Antirassismus, Cancel Culture, Identitätspolitik, Diskursverengung, Kontaktschuld umschrieben und begründen Verhaltensweisen, die auf Dekonstruktion, Transformation und Ablehnung vieler Grundlagen unseres Wertesystems beruhen und zutiefst ideologisch sind. Dabei werden andere Meinungen ausgeblendet und stigmatisiert, verurteilt und bekämpft. Dies geschieht im Namen der Liberalität, die in Wahrheit keine mehr ist. Viel mehr trägt diese Attitüde die Merkmale einer autoritären Ausgrenzung in sich.

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Besonders in Deutschland treffen diese Ideen und Vorgehensweisen auf fruchtbaren Boden, bedingt durch die immer schon vorherrschenden gesellschaftlichen Debatten der Nachkriegszeit, begünstigt durch die gesellschaftlich tief verankerten Grünen, katalysiert durch den Hang zu Moral und Moralismus, die anderswo leicht als Überheblichkeit und Besserwisserei empfunden werden können. Dass ausgerechnet in Deutschland diese neuen Überzeugungen so stark sind, sagt mehr über seine gesamtgesellschaftlichen Umstände aus als jede wahre oder vermeintlich wahre Kritik an der konservativen Regierungspraxis in Ungarn. In Deutschland werden gesellschaftliche oder politische Überzeugungen sehr ernst genommen und Überzeugungen intensiv gelebt, mitunter einhergehend mit einer Mischung aus Gerechtigkeitsempfinden, Sendungsbewusstsein und einer moralischen Überhöhung der eigenen Positionen.
Herausforderungen der bürgerlichen Mitte in Deutschland

In dieser Gemengelage wird besonders deutlich, wie stark die Grünen die Oberhoheit übernommen haben, Debatten prägen und Deutungsmuster bestimmen. Damit entfalten sie als Oszillationspunkt all jener obig beschriebenen Tendenzen, Bewegungen und Weltanschauungen die größtmögliche Resonanz, Verbreitung und Unterstützung und verkörpern somit quasi den neuen Mainstream des öffentlichen Lebens. Dabei sind sie und ihre Wähler in weiten Teilen etabliert, wohlhabend und Hüter der „herrschenden Meinung“. Dahingegen wirkt die bürgerliche Mitte sprach-, orientierungs- und handlungslos. Sie hat sich in der Zeit der Merkel-Regierungen mit den Sozialdemokraten erschöpft und erscheint für viele Beobachter inhaltlich ermattet.

Zum einen verfügt die bürgerliche Mitte in Deutschland kaum über Anknüpfungspunkte an den weit überwiegenden Teil der Medienlandschaft. Die politischen Meinungen einer mehrheitlichen Zahl der in Deutschland tätigen Journalisten tendieren eindeutig nach links. In solch einem Umfeld vermögen die Bürgerlichen kaum ihre Weltsicht zu artikulieren, sie stehen ständig unter Beobachtung und werden gleichsam unter Druck gehalten. Zugang zu eigenen wirkungsmächtigen Medien haben sie weitgehend nicht und wenn es doch bürgerliche Neugründungen gibt, laufen diese Gefahr, allzu leicht stigmatisiert, nach rechts durchgereicht oder bestenfalls ignoriert zu werden.

Das Phänomen der Kontaktschuld verhindert es für die Bürgerlichen zudem, hier effektiv Plattformen wahrzunehmen, zu besetzen und auszubauen, da sie ihrerseits nicht stigmatisiert und ausgegrenzt werden wollen. Damit sind sie dem medialen wie politischen Mainstream hoffnungslos ausgeliefert. Eine robuste konservative Politik wie in Ungarn ist in Deutschland bereits aus diesen Gründen gegenwärtig undenkbar. Schon die Sympathie für die Politik des ostmitteleuropäischen Landes wäre ein Tabubruch und würde vom medialen Mainstream sanktioniert werden. Kann man vor diesem Hintergrund jemals ein ausgeglicheneres Ungarnbild in den deutschen Medien erwarten?

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Zweitens haben sich durch die oft kritisierte „Sozialdemokratisierung der Union“, die Annäherung an tatsächliche oder vermeintliche grüne gesellschaftliche Erwartungen und die eigene inhaltliche Auszehrung originär bürgerliche Positionen weitgehend verflüchtigt. Sie sind allenfalls nur noch diffus vorhanden und wenn doch, werden sie weder prägnant artikuliert noch entschieden verfolgt. Eine markante konservative Politik wie in Ungarn erscheint auf deutsche Verhältnisse bezogen wie ein Anachronismus. Vergleiche zu Deutschland der achtziger Jahre werden laut und tatsächlich sagte Viktor Orbán vor Kurzem über seine Politik: „Das ungarische Modell ist so, als hätte Helmut Kohl eine Zweidrittelmehrheit in Deutschland gehabt.“ Der Weg der Selbstfindung der Union dauert an und wenig spricht dafür, dass sie in einem gesamtgesellschaftlich nach links gerücktem Umfeld eine konservative Wende oder Erneuerung wagen würde. Es ist eher davon auszugehen, dass sie ihre Themen – wenn überhaupt – nur noch in einer abgespeckten, grün-kompatiblen Soft-Version anbieten werden.

Drittens haben die Bürgerlichen durch die Zersplitterung der Parteienlandschaft praktisch keine Chancen mehr auf eine eigene Mehrheit, sondern sind hinsichtlich einer Regierungsmehrheit auf absehbare Zeit wohl auf die Grünen oder Sozialdemokraten angewiesen. Im Bundestag sind sogar acht Parteien vertreten, und nicht nur auf Bundesebene, auch in vielen Ländern regieren Dreiparteienkoalitionen. Die Ampel verfügt nur in Hamburg, Niedersachen, Rheinland-Pfalz und im Saarland über eine eigene Mehrheit, muss sich also im Bundesrat mit der Union abstimmen. Ferner macht den Bürgerlichen die Repräsentationslücke zu schaffen, in der 20 bis 25 Prozent der bürgerlichen Wähler einer politischen Artikulation ermangeln. Sie sind zwischen einer nach rechts gerückten AfD und den früher (CDU/CSU) oder später (FDP) mit den linken Parteien koalierenden Formationen praktisch aufgerieben.

Ohne die Mobilisierung dieser Wählerschichten wird es aber keine bürgerlichen Mehrheiten in Deutschland geben. Viel genehmer scheint es in dieser Lage, sich dem vermeintlich Unabänderbaren zu fügen und gleichsam eine Zusammenarbeit mit der SPD oder am besten mit den Grünen anzusteuern. So gesehen mögen sich viele ungarische Beobachter die Augen gerieben haben, als in Situationen, in denen es eine bürgerliche Mehrheit ohne die AfD gegeben hätte, die CDU doch lieber mit den Grünen regiert als mit der FDP, so geschehen in Schleswig-Holstein. In einem anderen Bundesland toleriert sie sogar Rot-Rot-Grün. In Ungarn hingegen verfügen die beiden bürgerlichen Parteien über eine solide gesellschaftliche Basis und eine breite Unterstützung, die ihnen die Umsetzung einer freiheitlich-konservativen Agenda problemlos ermöglicht.

Die Rolle der europäischen Parteipolitik

Ähnliche Entwicklungen sind auch im Europäischen Parlament zu beobachten. Noch zersplitterter als der Bundestag, haben es die Bürgerlichen hier noch schwerer, Mehrheiten zu finden und ihre Positionen zu artikulieren. Die Herausforderungen für die Vertreter der bürgerlichen Mitte, deren Konzept- und Ideenlosigkeit treten auf europäischer Ebene noch markanter hervor. Die Europäische Volkspartei kann nicht einmal darauf hoffen, im Parlament Mehrheiten zu erreichen, im Übrigen gab es solche abgesehen von der Legislaturperiode von 1999 bis 2004 auch nie. Zudem lassen sich alle gesellschaftlichen Bewegungen in Brüssel wie mit dem Brennglas beobachten. Sie sind hier besonders auf engstem Raum fokussiert. Das Europäische Parlament als Forum der europäischen politischen Debatten beheimatet die unterschiedlichsten Politikkonzepte, hier treffen die Ansichten scharf aufeinander, dennoch müssen am Ende oft alle einem Kompromiss zustimmen.

Besonders wuchtig trat dieses Phänomen in Erscheinung, als der ungarische Ministerpräsident mehrfach dem Plenum Rede und Antwort stand. Dabei wirkte seine markige Politikauffassung wie ein Aphorismus des Undenkbaren oder Unbegreifbaren, der Lebensrealität vieler Europarlamentarier entrückt. In diesem Umfeld wird Politik definiert, umgesetzt und ausgeweitet und das Urteil über das merkwürdige konservative Land in Ostmitteleuropa war demnach auch sehr schnell gefällt. Daher verwundert es nicht, dass in linksliberalen und grünen Kreisen das Szenario einer erfolgreichen, populären und international beachteten bürgerlichen Politik, die sich all jenen identitätspolitischen Tendenzen entgegenstellt, als Drohkulisse und reale Gefahr wahrgenommen wird. Nur so lassen sich auch die bis ins Mark gehenden Angriffe gegen die ungarische Regierungspolitik und gegen die Person Viktor Orbán erklären.

Was ist illiberal?

Die bürgerliche Regierung von Viktor Orbán verwirklicht in Ungarn eine klassisch freiheitlich-konservative Reformagenda, die eigentlich vergleichbar ist mit der Politik vieler liberaler, konservativer oder christdemokratischer Parteien in Europa. Für den ausländischen Beobachter eher verwirrend mag daher der Fakt sein, dass der ungarische Ministerpräsident im Jahre 2014 vom „illiberalen Staat“, später von der „illiberalen Demokratie“ sprach. Dieses Gedankenkonstrukt basiert zum einen auf einer sehr stark im amerikanischen politischen Denken beheimateten Grundannahme, wonach „liberal“ die Linksliberalen, die US-Demokraten oder auch die heute als Wokismus bezeichneten Bewegungen meint.

Berichterstattung über Ungarn
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Zweitens haben die in Ungarn von 1994 bis 1998 und wieder von 2002 bis 2008 mit den Postkommunisten regierenden ungarischen Linksliberalen dem klassischen Liberalismus wahrlich keine Ehre erwiesen. Es dominierte in dieser Zeit gesellschaftspolitische Beliebigkeit, ein Ausverkauf der Werte und auch der heimischen Wirtschaft. Zugleich führte diese Politik zu einer tiefen sozialen, politischen, gesellschaftlichen und moralischen Krise der Jahre 2006 bis 2010. Außerdem wurde von Viktor Orbán die These vertreten, dass die Demokratie keine Attribute brauche, schließlich hätten „die Liberalen“ kein Vorrecht auf diese gepachtet, auch Sozialdemokraten und Christdemokraten seien Demokraten.

Gerade in Ungarn ist die Erinnerung an eine einzig mögliche Variante der Demokratie immer noch mit einem schlechten Beigeschmack verbunden. Eine Entsprechung findet sich im weit verbreiten Slogan „Marktwirtschaft ohne Attribute“ von Vaclav Klaus. Es hilft also für das Verständnis der westeuropäischen Betrachter, nicht unbedingt auf das Etikett, die Fremd- oder Selbstwahrnehmung, sondern vielmehr auf den alles bestimmenden Inhalt zu achten.

Ausgleich zwischen Individualinteresse und Gemeinwohl

Die Politikgestaltung der seit 13 Jahren regierenden ungarischen Konservativen sollte also fernab jeglicher Attribute beleuchtet werden. Für den Zeitgenossen aus dem Ausland mutet das Land mit seiner sehr fremden Sprache, der Betonung der Geschichte, dem massiven Antikommunismus, den andersgelagerten Debatten und der robusten konservativen Agenda zumindest merkwürdig, unverständlich und anachronistisch an. Doch verwirklicht die Regierung von Viktor Orbán bei Lichte besehen eine Politik der Mitte, eine Politik, die großen gesellschaftlichen Anklang findet und die vor allem eine solide Erfolgsbilanz vorzuweisen hat. Nicht umsonst wurde der Langzeitministerpräsident bereits dreimal wiedergewählt und jedes Mal mit einer parlamentarischen Zweidrittelmehrheit ausgestattet, zuletzt im April 2022 mit einem Rekordergebnis in absoluten wie relativen Stimmzahlen. Damit ist er der dienstälteste Regierungschef im Europäischen Rat. Nimmt man die vier Jahre seiner ersten Regierungszeit in den Jahren 1998 bis 2002 hinzu, so kommt er auf stolze 17 Jahre – mehr als Angela Merkel oder Helmut Kohl vorweisen können.

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Es geht den Ungarn um einen neuen Gesellschaftsvertrag, um einen sozialverträglichen Ausgleich zwischen Individualinteresse und Gemeinwohl und um ein Bekenntnis zu Werten, die als Fundament von Staat, Gesellschaft und Gemeinwesen dienen können. Die Ungarn gelten als sehr individualistisches Volk, mit einem feinen seismographischen Gespür für Bedrohungen ihrer Freiheit durch Obrigkeiten von außen oder von innen. Die Kritik der Ungarn an den negativen Folgen eines radikalen Liberalismus beruht in erster Linie auf den schmerzhaften eigenen Erfahrungen in den Jahren nach der Wende. Die Nachteile der gesellschaftlichen Individualisierung äußerten sich in einem Wettbewerbsegoismus, der erfahrungsgemäß die Bande zwischen den Menschen kappt und zu Identitätsverlust und Entwurzelung führt. Weiterhin zerstörte der Neoliberalismus die Mittelschicht, da er Ungleichheiten erzeugte. Dementgegen stellt Orbán den Begriff der Gemeinschaft von Interessen und Werten als Objekt politischen Denkens.

Die Gesellschaft setzt sich demzufolge aus den Polen der individuellen Freiheit und der gemeinschaftlichen Interessen zusammen, zwischen denen es ein Gleichgewicht herzustellen gilt. So werden bereits in der Verfassung gemeinschaftliche Grundrechte den individuellen beigeordnet. Auf diese Weise strebt man eine Verknüpfung von Rechten und Pflichten an, die die Rechte des Individuums in eine gemeinschaftliche Verpflichtung einbindet, ohne den Freiheitsgedanken loszulassen. Orbáns „illiberale Demokratie“ kritisiert den entfesselten, zügellosen und ungeordneten Liberalismus der 90er-Jahre in seiner spezifisch ostmitteleuropäischen Ausprägung und seinen Individualismus, verwirft aber nicht die klassisch liberalen, freiheitlichen Prinzipien. Sie ist die Schlussfolgerung aus der Lehre, dass der Mensch zur sinnstiftenden Selbstverwirklichung eine soziale und moralische Fundierung durch kulturelle Strukturen braucht.

In diesem Sinne lässt sich die ungarische Betonung von Familie, Heimat und Nation verstehen. Sie sind die Bausteine, die Ungarn von einer Ansammlung von Individuen zu einer Verantwortungsgesellschaft, einer Gemeinschaft von Gemeinschaften, machen. Den Freiheitssinn der Ungarn in ein Verhältnis der praktischen Konkordanz zu Gemeinsinn und Gemeinwohl zu bringen, ist eine raffinierte und fein austarierte Aufgabe und eine tägliche Belastungsprobe für die ungarische Politik. Dabei kann nur sehr sensibel und behutsam vorgegangen werden.

Bürgerliche Reformagenda

Die liberal-konservative Reformagenda umfasst sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens und justiert dort nach, wo es in den Jahren vor 2010 Versäumnisse gab. Insbesondere die Betonung von Heimat, Staat, Nation, Kultur und Identität, des abendländischen Wertekanons, der jüdisch-christlichen Grundlagen und der staatstragenden Rolle des Christentums geben die Rahmenbedingungen des modernen Ungarn vor. Dabei handelt das bürgerliche Lager nach der Maxime, dass es allen Ungarn gut gehen sollte, unabhängig davon, welche Parteien sie wählen. „Niemand wird am Wegesrand zurückgelassen“, so das mehrfach prononcierte Motto der konservativen Regierungsparteien. In der konkreten Politikgestaltung lassen sich diese Grundlagen aus der tiefen Werteorientierung, der soliden inneren Verfasstheit der Bürgerlichen im Lande und aus dem Bewusstsein herleiten, endlich vollwertig zu Europa zu gehören.

Dabei stehen beispielsweise Gesellschafts- und Familienpolitik ebenso im Mittelpunkt wie Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, Nachbarschafts- und Sicherheitspolitik, Energie- und Klimapolitik oder auch die interessengeleitete und europaweit bekannte Migrationspolitik. In vielen dieser Politikfelder findet das bürgerliche Regierungshandeln auch bei Anhängern der Opposition Unterstützung und Anerkennung. Gerade in diesen Bereichen erzielte Ungarn in der jüngsten Vergangenheit beachtliche Fortschritte.

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Die aktuelle bürgerliche Gesellschaftspolitik der ungarischen Regierung liest sich fast wie ein Gegenentwurf zur identitätspolitischen Linken und achtet die natürlich gewachsenen Gemeinschaften, die dreizehn anerkannten autochthonen Volksgruppen sowie die immense religiöse Vielfalt des Landes und möchte diesem keine ideologischen und missionarischen Scheuklappen anlegen. Es herrscht in Ungarn durch die Bank eine interessierte, offene und vorurteilsfreie Diskussionskultur. In der Familienpolitik konnten die Geburtenraten dank bewusster Besserstellung junger erwerbstätiger Frauen aus der gesellschaftlichen Mittelschicht in den vergangenen zwölf Jahren um 25 Prozent gehoben werden, die Abtreibungen sanken ohne eine Verschärfung der (in Ungarn sehr liberalen) Strafrechtspraxis, sondern ausschließlich durch die vielfältigen positiven Anreize. Zudem erreicht die Zahl der Eheschließungen neue Höchstzahlen.

Dreh- und Angelpunkt der Wirtschaftspolitik sind Arbeit und Beschäftigung, niedrige Steuern und die Stärkung des heimischen Klein- und Mittelstandes. In den Jahren ab 2010 konnten durch Steuersenkungen, Entbürokratisierung und ABM-Programme zur Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt mehr als eine Million Menschen in Lohn und Brot gebracht werden, die Steuersätze sind historisch niedrig, die Steuereinnahmen sprudeln und die Schattenwirtschaft konnte dank Digitalisierung und mehr Steuergerechtigkeit massiv zurückgedrängt werden. Ungarn geht auch einen neuen Weg in der Nachbarschaftspolitik, setzt auf Vertrauen, Ausgleich und Kooperation mit seinen Nachbarn. Die Beziehungsgeflechte waren lange Zeit aufgrund des historischen Traumas des Friedensvertrages von Trianon sehr angespannt, nunmehr gilt es aber, die „100 Jahre ungarische Einsamkeit“ in Mitteleuropa zu bewältigen und zum Mittelpunkt einer neuen Verständigung zu werden.

Ungarns Sicherheit kann nur im Verbund mit seinen Nachbarn sichergestellt werden, so die Grundüberzeugung. Daher beteiligt sich Ungarn intensiv an Systemen gemeinsamer Sicherheit, so etwa beim Schutz des Luftraumes der Slowakei oder des Baltikums durch ungarische Kampfjets. Der äußeren Sicherheit liegt ein umfassender Sicherheitsbegriff gegen innere Bedrohungen zugrunde, mit einer beachtlichen Stärkung der Schengen-Außengrenzen, der Aufrüstung der Polizei und einem bemerkenswerten Rückgang der Kriminalitätszahlen. In diesem Zusammenhang kommt der rigiden Migrationspolitik eine Schlüsselrolle zu. Für viele Ungarn stellen die seit Jahren anhaltenden immensen Migrationsbewegungen eine neue Völkerwanderung dar, die unser Gemeinwesen und die europäische Identität massiv bedrohen. Sie haben durch ihre Geschichte ein fast schon seismographisches Gespür für Bedrohungen und Gefährdungen entwickelt. Sie wollen ihre Freiheit in Europa, ihre ungarische und europäische Identität nicht aufgeben und suchen nach einer Selbstbehauptung des Landes in demographischer, kultureller, religiöser, aber auch in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht.

Deutsche Blaupausen für ungarische Lebenswahrheiten?

Es kann gar nicht verwundern, dass diese ungarische Politikgestaltung in der deutschen Lebenswirklichkeit medialer Berichterstattung, politischer Debatten und gesellschaftlicher Prozesse ein völlig aus der Zeit gefallenes, mit den Lebensrealitäten des modernen Deutschlands kaum mehr vereinbares Bild abgibt. Damit maßt sich aber die deutsche politische und mediale Mehrheit auch ein falsches, verzerrtes und einseitiges Ungarnbild an. Diese Betrachtungsweise entspringt dem originären deutschen Denken, dieses Mal auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, moralisch höherwertig zu handeln und die als gesinnungsethisch einzig als wahr empfundene Meinung absolut zu setzen, sie zu verbreiten und alle anderen, hiervon abweichenden Auffassungen auszublenden.

Wenn also in Ungarn eine konservative Regierung ein Programm umsetzt, das diesen Erwartungen zuwiderläuft, kann die aufgeregte deutsche mediale Öffentlichkeit gar nicht anders, als mit dem moralischen Fallbeil all das zu kritisieren, wofür Viktor Orbán und seine Regierung, die ungarischen Konservativen, aber auch der weit überwiegende Teil der ungarischen Bevölkerung stehen. Aus dieser Hinsicht erscheint es gar nicht unangemessen, die heftigen deutschen Reaktionen auf das Handeln Ungarns in erster Linie dem deutschen Zeitgeist zuzuschreiben und erstmal nicht persönlich zu nehmen.

Kontaktschuld

Allen voran das Phänomen der in Deutschland und Europa existierenden Kontaktschuld liefert das zusammenfassende Erklärungsmuster, warum auch die Bürgerlichen mit der ungarischen Politikgestaltung hadern. Sie wollen nicht in den medialen, gesellschaftlichen und politischen Sog hineingezogen werden, denen die Ungarn aus Gründen der inneren Kohäsion und Verfasstheit zu widerstehen imstande sind. Die Bürgerlichen in Deutschland müssen bei der Unterstützung ungarischer Positionen nicht nur erheblichen Argumentationsaufwand betreiben, sondern sehen bisweilen auch die Grundlagen ihrer politischen Arbeit als gefährdet an.

Dieses Risiko erscheint vielen daher oft als zu groß. Anders als in Ungarn bestimmen die gesellschaftlichen Debatten in ihren Ländern fast ausschließlich die Linken und diese haben auch die Hoheit über das akademische, wissenschaftliche und geistestheoretische Leben. Damit sind vermeintliche oder tatsächliche Solidarisierungen mit dem von diesen Kräften ausgegrenzten „System Orbán“ unentschuldbar und können mit Retorsionen belegt werden. Dass diese nur wenige im Kauf nehmen wollen oder können, erscheint logisch wie menschlich nachvollziehbar.

Fazit

Die Politik der bürgerlichen Regierung in Ungarn verwirklicht trotz anderslautender Unterstellungen und diverser Missverständnisse eine klassisch freiheitlich-konservative Agenda. Sie kann sich hierbei auf einen großen Teil des ungarischen Elektorats stützen, die insbesondere in den Bereichen der Familien-, Migrations- und Wirtschaftspolitik das Regierungshandeln goutiert. Ungarn befindet sich auf einem guten Weg im Sinne der angestrebten europäischen strategischen Souveränität und der Selbstbehauptung in einem sich wandelnden globalen Umfeld.

Damit erscheint diese Politik linksgerichteten internationalen Kreisen wie ein Fremdkörper und als ein zu bekämpfendes Konzept. Dabei kann sich diese Kritik auf eine breite mediale wie politische Basis in Deutschland und Europa stützen und auf die in Deutschland herrschende akademische, gesellschaftliche, mediale wie politische Klasse. Zugleich sind diese Einstellungen nicht losgelöst von den innerdeutschen Debatten, in denen Ungarn als Gegenentwurf wahrgenommen wird. Daher ist es kaum verwunderlich, wenn die konservative ungarische Politik mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln angegangen wird. Damit verrät aber diese Politik mehr über das aktuelle Deutschland und seine Debatten und Prozesse, denn über das gegenwärtige Ungarn.


Bence Bauer ist der Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit am Mathias Corvinus Collegium in Budapest/Ungarn. Er ist auch Mitherausgeber des Monatsmagazins „Hungarian Conservative“ und schreibt regelmäßig für deutschsprachige Medien.

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