Tichys Einblick
Urteil in der Schweiz

Das Zürcher Bezirksgericht grüßt einen woken Gessler-Hut

Kritische Berufung auf die Bibel unterliegt der „Rassismus-Strafnorm“ und gilt dem Zürcher Bezirksgericht als „in Mitteleuropa nicht zeitgerechte Ansichten“. Das Gericht meint mit Meinungsfreiheit wohl woke Gesinnungstreue.

IMAGO/ Andreas Haas

Diese TE-Recherche passt zum Datum: Am 1. August feiern die Schweizer ihren Nationalfeiertag – auch „Bundesfeiertag“ genannt. Der Feiertag geht zurück auf den „Bundesbrief“ von Anfang August 1291, dem Gründungsjahr der Eidgenossenschaft durch die Talschaften Uri, Schwyz und Unterwalden. Der Text des „Bundesbriefes von damals beginnt mit den Worten: „in nomine domini amen“ (deutsch: Im Namen des Herrn, Amen). Diese Gründung lieferte Friedrich Schiller 1804 den Stoff für den „Wilhelm Tell“, der als der sagenhafte, allerdings nicht reale Nationalheld der Schweiz gilt. Dass sich die drei Urkantone gegen die vom Habsburger Rudolf eingesetzten und reichlich ungeliebten Vögte wappnen wollten, ist freilich verbürgt.

In Schillers Drama war es ein Landvogt namens Hermann Gessler, der die Schweizer schikanierte. Unter anderem hatte er das Volk damit gedemütigt, dass er in Altdorf in Uri auf einer Stange einen seiner Hüte aufstellen hat lassen, den die Passanten ehrerbietig zu grüßen hätten (von daher auch die Redewendung „Gesslerhut“!). Nicht verbürgt ist, auch wenn die Legende als Urbild eines legitimen Tyrannenmordes gilt, dass Wilhelm Tell den Landvogt Hermann Gessler mit der Armbrust erschoss. Nachgedichtet ist auch der Text des „Rütlischwurs“ – hier von Schiller: „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, / in keiner Not uns trennen und Gefahr. / … Wir wollen trauen auf den höchsten Gott / und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.“

15.200 Franken Geldstrafe auf Bewährung für einen christlichen Strafprediger

Warum diese Vorgeschichte? Ganz einfach: Weil ein Zürcher Bezirksgericht mit den beiden Bezügen auf den „Herrn“ und auf „Gott“ nichts anzufangen weiß. Das war geschehen: Ein gewiss übereifriger, ja eifernder fundamentalistischer Lehrer und Christ (63) hatte im Sommer 2021 auf der Zürcher Bahnhofstraße gegen Homosexualität gewettert. Die „Neue Zürcher Zeitung“ nannte es eine „homophobe Tirade“. Der 63-Jährige soll unter Berufung auf die Bibel von Homosexualität als „böser Lust“ und „schändlicher Begierde“ geredet haben.

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Nun ist der selbsternannte Strafprediger am 29. Juli 2022 vom Bezirksgericht Zürich wegen homosexuellenfeindlicher Äußerungen zu einer Geldstrafe von 15.200 Franken (etwa 15.600 Euro) auf Bewährung verurteilt worden (95 Tagessätze). Sollte er binnen zwei Jahren derartige Äußerungen öffentlich wiederholen, muss er zahlen. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Freiheitsstrafe von acht Monaten auf Bewährung gefordert.

Erstaunlich ist die Begründung des Zürcher Urteils: Der Angeklagte habe gegen die „gesetzliche Erweiterung der Rassismus-Strafnorm“ verstoßen und Ansichten vertreten, die im Jahr 2022 in „Mitteleuropa nicht zeitgerecht“ seien. Das heißt: Die Verurteilung erfolgte nach einem neuen Gesetz gegen homosexuellenfeindliche Hassrede. In der Schweiz stehen seit 2020 „Hass“ auf homo- und bisexuelle Menschen und ihre Diskriminierung unter Strafe. Bei einer Volksabstimmung votierten damals 63,1 Prozent der Bevölkerung für die Ausweitung der sogenannten Anti-Rassismus-Strafnorm auf die sexuelle Orientierung.

Nun, der zornige Strafprediger mag noch so schräg sein: Er hat wohl keine konkreten Personen beleidigt, sondern mehr oder weniger die Bibel zitiert oder auch eigensinnig interpretiert. Dass das Gericht das als „nicht zeitgerecht“ einstuft, zeigt, dass dieses Gericht mittlerweile selbst ehrfurchtsvoll unter den Gessler-Hüten einer rot-grünen Community vorbeidefiliert und mit Meinungsfreiheit wohl woke Gesinnungstreue meint.

Wie weit ist es da noch zu einer Initiative, die 2010 – bislang erfolglos – von der „Freidenker-Vereinigung der Schweiz“ (FVS) 2010 initiiert wurde? Die FVS hatte damals gefordert, alle Gipfelkreuze auf Bergen der Schweiz zu entfernen. Begründung: Der öffentliche Raum müsse frei sein von religiösen Symbolen. Klar, so fügen wir hinzu, dann kann sich die Schweiz aber auch ihr Gründungsnarrativ abschminken. Und wir fragen: Wie wäre das Zürcher Urteil ausgefallen, wenn der 63-Jährige homophobe Texte aus dem Islam zitiert hätte?

Zwei Erinnerungen: Meldeportale in NRW und Bibel-Urteil in Finnland

Wir kramen in unserem Kurzzeitgedächtnis (das Langzeitgedächtnis lassen wir mal außen vor) und erinnern uns folgender Pläne bzw. Ereignisse:

Erstens: Soeben hat die neue, „grüne“ NRW-Ministerin „für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration“ mit dem Namen Josefine Paul „Meldestellen“ eingerichtet für antisemitische, menschenfeindliche, queerfeindliche, antimuslimische, antiziganistische, antiasiatische und sonstige Formen von Rassismus. Die „Meldestellen“ werden im Rahmen eines „landesweiten Interessenbekundungsverfahrens“ ausgewählt. Damit sollen Vorfälle erfasst werden, die – so wörtlich – „unterhalb der Strafbarkeitsgrenze“ liegen. Und weiter: „Ich freue mich, dass wir für die vier weiteren Meldestellen erfahrene und gut vernetzte Träger gefunden haben …“, erklärte die Ministerin.

Ein hochkarätiger vormaliger Richter, der frühere Präsident des NRW-Verfassungsgerichtshofes Michael Bertrams, hat diese Meldeportale aktuell in einem Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger scharf kritisiert, weil diesen Meldestellen die gesetzliche Grundlage fehle und deren Trägervereine nach ihrem Selbstverständnis gar nicht neutral sein könnten.

Zweitens: Nach zermürbenden Monaten wurde Ende März 2022 die ehemalige finnische Innenministerin Päivi Räsänen von der Anklage der „Hassrede“ freigesprochen. Frau Räsänen war angeklagt worden, weil sie öffentlich ihre christlichen Überzeugungen zu Ehe und Familie kundgetan hatte. Was hatte sie getan: Die von 2011 bis 2015 amtierende Innenministerin Finnlands, die den finnischen Christdemokraten angehört, hatte 2010 erklärt, dass die gleichgeschlechtliche Ehe nicht mit dem christlichen Glauben vereinbar sei. Für Frau Räsänen gerade noch einmal gut gegangen – wie lange aber noch in diesem Europa?

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