In Frankreich hat bereits der Wahlkampf um das Präsidentenamt begonnen, obwohl mehrere mögliche Bewerber ihre Kandidatur noch nicht offen erklärt haben. Auffällig ist, dass die EU ganz anders als vor Kurzem bei uns ein zentrales Thema des Wahlkampfes sein wird. Die Linkssozialisten und die Anhänger von Marine Le Pen sowie weitere rechtsgerichtete Gruppierungen waren schon immer „Souveränisten“, das heißt sie wollten die Unabhängigkeit Frankreichs gegen Brüssel verteidigen, aber sie sind heute nicht mehr allein. Mittlerweile diskutieren auch die möglichen Präsidentschaftskandidaten der Republikaner, die das allerdings deutlich geschwächte bürgerlich-konservative Lager vertreten, offen darüber, wie man der EU Kompetenzen, die sie sich im Laufe der letzten 20 Jahre angeeignet hat, wieder entreißen könnte. Nicht zuletzt Michel Barnier, der für die EU den Austrittsvertrag mit Großbritannien mit harter Hand ausgehandelt hat und nun Präsidentschaftskandidat werden möchte, gehört zu diesen Politikern. Diskutiert wird unter anderem über eine Aussetzung des Schengen-Abkommens, um die illegale Immigration abzubremsen. Auffälliger Weise trifft auch der polnische Aufstand gegen Brüssel bis weit ins bürgerliche Lager hinein in Frankreich auf eine gewisse Sympathie.
Nichts von den Vorschlägen zu einer Eindämmung der Übermacht Brüssel wird vermutlich kurzfristig umgesetzt werden, zumal Macron, wenn er keine allzu großen Fehler macht und genug Geld aus dem Füllhorn des staatlichen Haushaltes ausschüttet, mit hoher Wahrscheinlichkeit wiedergewählt werden wird und sich gern als überzeugter Europäer inszeniert, was immer damit in der Praxis gemeint sein mag. Dennoch sind diese Debatten bedeutsam, denn sie zeigen, dass die Idee einer Auflösung der Nationalstaaten zugunsten eines gemeinsamen europäischen Staates in Frankreich von einer Mehrheit der Bevölkerung deutlich abgelehnt wird, was so für Deutschland wohl nicht gilt.
Morelle ist in vieler Hinsicht ein ganz typischer französischer Patriot oder, wenn man so will, Nationalist in der Tradition des linken Republikanismus. Die EU sieht er nicht zuletzt deshalb kritisch, weil sie ihm viel zu wirtschaftsliberal ist, eine Tendenz, für die er auch den wahren Architekten des Euro und der jetzigen EU, Jacques Delors, verantwortlich macht, obwohl dieser nominell der sozialistischen Partei angehörte. Soweit es eine gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik gibt, soll sie sich aus der Sicht Morelles auf die Förderung großer „global champions“ wie Airbus richten, eine Forderung, die ganz der französischen Industriepolitik entspricht, die allerdings auch mit dafür verantwortlich ist, dass in Frankreich die mittelständischen Unternehmen eine recht schwache Stellung haben, ganz anders als in Deutschland. Würde das wirklich zur offiziellen Politik der EU – und Macron verfolgt durchaus solche Pläne –, wäre das für Deutschland jedenfalls fatal.
Ein gestörtes Verhältnis zum deutschen Nachbarn
Morelle versteigt sich aber zu der Äußerung, das über Kredite finanzierte Corona-Hilfsprogramm der EU, das jüngst beschlossen wurde, sei vor allem ein deutscher Trick, um die eigenen Absatzmärkte in der EU zu sichern, und den Rest der EU von sich in Abhängigkeit zu halten. Angeblich gingen 60 Prozent der deutschen Exporte in den EU-Raum. Vor dem Brexit war das in der Tat annähernd richtig, nach dem Brexit sind es freilich nur noch gut 50 Prozent, und nur ca. 37 Prozent der deutschen Exporte gehen heute noch in die Eurozone – als sie begründet wurde waren es ca. 45 Prozent (wenn man alle heutigen Mitglieder dazu rechnet). Das heißt die Bedeutung der Eurozone als Exportmarkt hat abgenommen, und man darf auch nicht übersehen, dass die Mittelmeerländer ihre Importe aus Deutschland indirekt in erheblichem Maße über zinslose Kredite der Bundesbank, die sogenannten Targetsalden, finanzieren, ein Posten, der offiziell zum deutschen Auslandsvermögen gehört (in einer Höhe von rund 1,1 Billionen), aber eigentlich ganz wertlos ist, sodass Deutschland einen Teil seiner Exportwaren nicht verkauft, sondern faktisch verschenkt, wenn man es genau nimmt. Darüber hinaus sind die Leistungsbilanzen von Ländern wie Spanien und Italien mittlerweile ausgeglichen oder weisen sogar einen Überschuss auf, was für die französische Leistungsbilanz freilich nicht in gleicher Weise gilt. Frankreich hat sich eben angewöhnt, über seine Verhältnisse zu leben, das ist kaum die Schuld Deutschlands.
Aber selbst wenn man von diesen Details absieht, wäre es natürlich im deutschen Interesse gewesen, die über Kredite finanzierten Subventionen des Corona-Fonds an klare Auflagen zu binden, etwa im Sinne struktureller Reformen. Das ist aber nicht wirklich der Fall, und die Auflagen, die es gibt, werden vermutlich, so wie in der EU üblich, zu einem großen Teil unterlaufen werden, weil die EU-Kommission weder gewillt noch in der Lage ist, elementare Standards durchzusetzen. Ein großer Teil des Geldes wird daher wie so oft vergeudet werden.
Projekt eines Imperiums ohne kulturelle Identität
Imperien haben selten feste Grenzen, eher vage Grenzzonen, sind oft auf permanente Expansion hin angelegt und treten meist mit einem Anspruch auf universale Geltung ihrer Normen und Werte auf, sind von daher auf die Möglichkeit einer zumindest moralischen Weltherrschaft hin angelegt. All dies trifft auf die heutige EU sicher der Tendenz nach zu, (so lächerlich ihr globaler Geltungsanspruch oft auch wirken mag), zumal sie in ihrer Zusammensetzung ähnlich heterogen ist, wie die großen Imperien der Vergangenheit, etwa das der Habsburgermonarchie.
Aber was hält die EU zusammen? Hier sieht Morelle große Defizite, denn die EU-Elite wagt weniger denn je, sich zu einer spezifisch europäischen kulturellen Tradition zu bekennen. Diese Tradition ist für Morelle ganz eindeutig die der lateinischen Christenheit des Mittelalters – schon der orthodoxe Osten gehört einer anderen Kultur an. Damit will er nicht sagen, dass das Europa der Zukunft so etwas wie die Verkörperung des „christlichen Abendlandes“ sein soll, in dem womöglich für Nicht-Christen kein rechter Platz wäre, sondern dass diese ursprünglich christliche Zivilisation der Baum sei, von dessen Früchten wir noch heute zehren, auch wenn er heute ganz andere Früchte tragen kann und trägt als vor 300 oder 600 Jahren – eine recht glücklich gewählte Metapher.
Morelle ist absolut zuzustimmen, dass das ganze europäische Projekt sinnlos ist, wenn wir nicht wissen, welche Ziele wir damit verfolgen, und für wen wir es betreiben. Europa als kosmopolitischer Weltstaat im Kleinen oder als unvollendetes globales Imperium – die Vision, die von den heutigen EU-Eliten am ehesten geteilt wird – ist ein Europa, das sich selber auflöst, auch indem es die Nationen zum Verschwinden bringt, die Europa konstituieren, und ohne die es aufhört, wahrhaft europäisch zu sein.
Das Besondere Europas ist aus der Sicht des Autors, dass hier aus einer großen Vielfalt nationaler Kulturen doch so etwas wie eine im ständigen Dialog verfestigte kulturelle Einheit hervorgegangen ist. In seiner Verteidigung der Einmaligkeit der europäischen Kultur, der wir am Ende die moderne Wissenschaft ebenso wie den Verfassungsstaat verdanken, stützt er sich auf so illustre Denker wie Edmund Husserl und den Anthropologen Claude Levi-Strauss. Keiner von beiden dürfte im Verdacht stehen, ein düsterer Reaktionär gewesen zu sein.
Dementsprechend tritt Morelle als Franzose und Europäer für einen „patriotisme civilisationnel“, einen kulturellen Patriotismus ein. Ein bloßer Verfassungspatriotismus im Sinne von Habermas sei eine totgeborene Idee, denn eine Verfassung als Text könne man nicht lieben, und legitim sei eine Verfassung auch nur, wenn eine Nation, ein Volk, sich diese Verfassung gegeben habe, nicht, wenn die Verfassung diese nationale Gemeinschaft überhaupt erst schaffen solle. Hier muss man Morelle dezidiert zustimmen.
Wie kann man die EU zum Besseren verändern?
Freilich lässt sich die EU in ihrer jetzigen Form leicht kritisieren. Aber kann man sie auch reformieren? Hier sind Zweifel angebracht, aber einige Vorschläge weiß Morelle doch auf den Tisch zu legen. Mit Befriedigung stellt er fest, dass in den letzten Jahren in Brüssel in den entscheidenden Momenten es der Rat der Regierungschefs war, der die wirklich wichtigen Entscheidungen traf, nicht das Parlament oder die Kommission. Zurecht betont er, dass die einzelnen europäischen Regierungen über eine echte demokratische Legitimation verfügen, die Kommission als Pseudo-Regierung hingegen keineswegs und das Parlament im Grunde genommen auch nicht. Er schlägt vor, die Kommission wieder zu dem zu machen, was sie einmal sein sollte, ein administratives Gremium von Experten. Auch ist sich Morelle bewusst, dass seine Vision eines Europa der kooperierenden Nationen, die dennoch ihre Autonomie bewahren, faktisch die Auflösung des Euro in einer jetzigen Form voraussetzt, der ja bewusst geschaffen wurde, um die Konstruktion eines europäischen Staates oder Reiches zu erzwingen, und zwar ohne auf den Willen der Bürger groß Rücksicht nehmen zu müssen. Nach Morelle fiel die Entscheidung dazu schon einige Monate vor dem Fall der Mauer, war also nicht der Preis, den Deutschland für die Wiedervereinigung zahlen musste. Auch hier sieht er wieder den sinistren Einfluss Deutschlands, das bis 2012 auch die Politik der EZB mit seiner absurden Doktrin des harten Geldes ganz dominiert habe, eine Politik, die nun glücklicherweise der Vergangenheit angehöre.
Was bedeutet die Kritik Morelles für die Zukunft der EU?
Die Vorschläge von Morelle sind durchaus beachtenswert, auch wenn man die oft sehr billige Kapitalismuskritik und seine überzogene Polemik gegen den vermeintlichen Neoliberalismus der offiziellen EU-Politik in Abzug bringen muss, um sie zu würdigen. Aber die Berufs-Europäer, die den Kurs der EU bestimmen, werden sie natürlich ignorieren. Nicht ganz wird freilich Macron nach seiner Wiederwahl die erneut gewachsene EU-Skepsis der Franzosen beiseiteschieben können. Vermutlich wird er so verfahren wie bisher: Er wird die europäische Karte spielen, wenn es darum geht, noch mehr gemeinsame europäische Schulden zu schaffen und Druck auf Deutschland auszuüben, und wird – anders als Morelle meint – als unerbittlicher Verteidiger nationaler Souveränität auftreten, wenn es um elementare Interessen Frankreichs geht. Eigentlich verhalten sich die meisten europäischen Politiker so, nur dass man in Deutschland dieser Janusgesichtigkeit der Politik unserer Nachbarn keinerlei eigene Konzepte entgegensetzen kann.
Das war im Wesentlichen unter Merkel so, und es wird unter Scholz sicherlich auch so bleiben, denn es gilt als oberstes Prinzip der deutschen Politik, eigene Interesse außerhalb primär handelspolitischer Fragen nie oder fast nie offen zu artikulieren, sondern eher über Bande zu spielen. Es ist aber gerade diese Mischung zwischen der rein defensiven, konzeptionslosen deutschen Politik und dem sehr selektiven und oft auch rein zynischen Eintreten für mehr Zentralisierung bei unseren Partnern in der EU, allen voran Frankreich, die nichts Gutes für die Zukunft der EU verspricht. Ihre Legitimationskrise, die sich zur Zeit ja auch im Konflikt mit Polen manifestiert, wird sich verstärken. Am Ende werden es die Vertreter der EU-Ideologie vermutlich wirklich schaffen, die Nationalstaaten so zu schwächen, dass sie nicht mehr lebensfähig sind, ohne etwas anderes Neues an ihre Stelle setzen zu können, wie Morelle zurecht befürchtet. Aber eine Umkehr auf diesem verhängnisvollen Weg ist nicht sichtbar.
Aquilino Morelle, L’opium des élites. Comment on a défait la France sans faire l’Europe, Paris 2021, 590 S.