Es soll selbstverständlich nicht an das Afghanistan-Desaster erinnern, was an diesem Donnerstagmorgen in einer gemeinsamen Erklärung in Paris verkündet wird: Die französischen, deutschen und anderen europäischen Militärkontingente, darunter auch deutsche Soldaten, im nordafrikanischen Mali werden einen „koordinierten Rückzug“ antreten. Natürlich steht da auch, man habe den „Willen“, ein Engagement in der Sahara-Region zu erhalten.
Am Abend zuvor, am 16. Februar, hatte in Paris ein informelles Treffen in Sachen Mali stattgefunden. Beteiligt waren hochrangige EU-Vertreter, Vertreter acht afrikanischer Staaten aus der Region um Mali (ohne den Regierungschef von Mali) sowie weitere Regierungschefs. Bundeskanzler Scholz war durch den deutschen Botschafter in Paris vertreten. Es ging am Vorabend eines nachfolgenden Brüsseler EU-Afrika-Gipfeltreffens, das ein Höhepunkt der französischen EU-Ratspräsidentschaft sein sollte, um die internationale Militärpräsenz in Mali bzw. den Anti-Terror-Kampf in der Sahelzone. Ziel war ein abgestimmtes Vorgehen. Das Thema „Ukraine“, das das Thema „Mali“ zuletzt in den Hintergrund gedrängt hatte und wohl auch bei der unmittelbar anstehenden Münchner Sicherheitskonferenz MSC am Wochenende dominieren wird, war damit zumindest vorübergehend hintangestellt.
Entscheidend war, dass das in Mali federführende EU-Land Frankreich kaum noch Aussichten auf einen Verbleib seiner Soldaten in dem westafrikanischen Land sah. Dass die anderen Truppensteller, erst recht Deutschland, ohne Frankreich nicht weitermachen würden, war absehbar.
Ein wenig Landeskunde zu Mali
Mali ist mit 1,24 Millionen Quadratkilometern etwa viermal so groß wie Deutschland. Es leben dort rund 20 Millionen Menschen, der größte Teil im südlichen Teil. Die Nachbarn von Mali sind die politisch ebenfalls nicht in jeder Hinsicht stabilen Länder Mauretanien, Algerien, Niger, Burkina Faso, Senegal, Guinea und Elfenbeinküste. Die Situation in der Region ist brandgefährlich und reich an Putschen und Putschisten. Ende Januar gab es im benachbarten Burkina Faso einen Putsch – der vierte in Westafrika in 18 Monaten. Ein weiterer Putsch wurde Ende Januar in Guinea-Bissau versucht.
Zusammen mit Niger gehört das aus 30 verschiedenen Ethnien bestehende Mali zu den ärmsten Ländern der Welt. 90 Prozent der Bevölkerung leben im Süden, 10 Prozent im Norden. In der Mitte und im Norden des Landes sind es vor allem die Tuareg, ein nomadisches, islamisches Berbervolk, das die vor allem aus Wüste und Halbwüste bestehende Landeshälfte dominiert.
Der aktuelle Bürgerkrieg in Mali begann 2012 damit, dass Tuareg-Rebellen nordmalische Städte erobern konnten – mit Islamisten von Al Kaida und Co im Schlepptau. Indirekt wurde dies durch den Fall des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi begünstigt. Nach dessen Tod im Oktober 2011 kehrten zahlreiche Tuareg bis an die Zähne bewaffnet nach Mali zurück. Sie hatten sich in den üppig ausgestatteten lybischen Waffenlagern bedient. Die Rebellen besetzten große Gebiete im Norden Malis und setzten dort das Recht der Scharia durch. In ihrem Unabhängigkeitsbestreben zerstörten die Islamisten unter anderem Weltkulturgüter in Timbuktu. 2013 wurde Timbuktu von malischen und französischen Truppen zurückerobert. Neben den Tuareg-Rebellen gibt es mittlerweile allerdings auch zahlreiche andere bewaffnete Gruppen. Hier finden verstärkt Drogenhandel, Waffenschmuggel und Entführungen statt.
Auf Bitten der malischen Regierung griff Frankreich im Jahr 2012 in den Konflikt ein. Die UN-Friedensmission wurde am 25. April 2013 mit Resolution 2100 vom UN-Sicherheitsrat beauftragt. Mit bis zu 13.000 Blauhelmsoldaten ist sie eine der größten Missionen weltweit. Davon stellte Frankreich zeitweise bis zu 5.000 Mann. Der Einsatz in Mali ist zudem der opferreichste der UNO überhaupt. Seit 2013 sind mehr als 200 UN-Soldaten gefallen, darunter zwei deutsche und 53 französische Soldaten. Mali gilt damit als einer der gefährlichsten Einsatzorte für UN-Blauhelme.
Im August 2020 wurde dann die demokratisch gewählte Regierung von Mali, die von Paris unterstützt wurde, durch einen Militärputsch gestürzt. Die Öffentlichkeit in Mali und Oppositionspolitiker standen an der Seite der Putschisten. Im Mai 2021, neun Monate vor dem für Februar 2022 angesetzten Wahltermin, ließ Oberst Goïta den Präsidenten, den Premierminister und den Verteidigungsminister absetzen. Er selbst übernahm das Amt des Interimspräsidenten. Im Januar 2022 setzte die Regierung von Goïta die für Februar 2022 geplanten Wahlen bis ins Jahr 2025 aus.
Macron hat die Nase voll
Im Januar 2013 intervenierte Frankreich als ehemalige Kolonialmacht in Mali. Seitdem hat es dort drei Militärputsche gegeben. Die Beziehungen zwischen Frankreich und der ehemaligen, 1960 in die Unabhängigkeit entlassenen französischen Kolonie Mali sind mittlerweile total zerrüttet. Mali hatte zuletzt sogar den französischen Botschafter ausgewiesen. Und nicht nur am Rande: Malis nördlicher Nachbar Algerien hatte französischen Militärflugzeugen den Überflug verboten.
„Ich will nicht in Mali gefangen sein“, hatte Emmanuel Macron zu Beginn seiner Amtszeit im Frühsommer 2017 gesagt. Nun stehen für Macron, der seine erneute Kandidatur immer noch nicht offiziell erklärt hat, am 10. April 2022 (erster Wahlgang) Präsidentschaftswahlen an. Da spielt die Operation „Barkhane“ in Mali eine größere Rolle als die Ukraine. Schließlich geht es auch um viel Geld. Frankreich hat der Einsatz in Mail bislang rund 8 Milliarden Euro gekostet.
Gleichwohl: Dieser Rückzug ist vor allem für Macron eine schmerzhafte Erfahrung. Manche sprechen sogar von einem „Waterloo“, zumal Macrons Mitbewerber politisches Kapital aus der Situation schlagen werden. Wenn Mali während des Wahlkampfs zu einem wichtigen Thema würde und das Problem bis dahin nicht entschieden wäre, könnte sich Mali tatsächlich als „Macrons Waterloo“ erweisen, spekulieren Auguren. Von Journalisten, zum Beispiel den Nachrichtenagenturen Reuters und AFP, wurde darum damit gerechnet, dass Macron aus „Mali“ aussteigen und einen Teil der französischen Truppen ins benachbarte Niger verlegen werde. Macrons Außenminister Jean-Yves Le Drian hatte das schon angedeutet und davon gesprochen, dass Frankreich den Kampf gegen den Terrorismus mit anderen Partnern in der Sahel-Zone fortsetzen werde. Macron sagte zudem: „Es ist nicht die Rolle der französischen Armee, für die Tatenlosigkeit des malischen Staates einzuspringen.“
Spaniens Außenminister Jose Manuel Albares, dessen Land das größte Kontingent für ein EUTM-Ausbildungsprogramm stellte, sagte unterdessen, dass Europas Mission fortbestehen werde, um die Instabilität und den Dschihadismus in der Sahel-Zone zu bekämpfen.
Und Deutschland?
Seit 2013 sind deutsche Soldaten an zwei Stabilisierungsmissionen beteiligt: zum einen mit rund 80 Soldaten an der EU-Maßnahme “European Union Training Mission” (EUTM) und zum zweiten mit fast 1.000 Soldaten an der UN-Mission „Multidimensionale Integrierte Stabilisierungsmission“ (MINUSMA). Ihr Ziel sollte die Bekämpfung von Fluchtursachen sein. Im Mai 2022 will der Bundestag über die Zukunft der Beteiligung an beiden Einsätzen entscheiden. Bereits am 13. April will das Bundeskabinett die Vorschläge für die weitere Mandatierung beschließen. Ob es nun nach der heutigen Entscheidung von Paris dabei bleibt, ist fraglich.
In Vorbereitung auf diese Entscheidungen hatte Verteidigungsministerin Lambrecht am 14. Februar digital mit ihren Amtskollegen aus Mali und Niger konferiert. Es ging um den Verbleib der Bundeswehr in der Region. Lambrecht betonte, sie könne es nicht akzeptieren, dass Überflugrechte zum Schutz der Bundeswehr in Mali eingeschränkt worden seien. Der Einsatz deutscher Soldaten war zuletzt durch verwehrte Überflugrechte und Beschränkungen für Drohnen- und Hubschrauberflüge innerhalb des Landes belastet worden. Die Verteidigungsministerin erklärte weiter, dass sie die Frist der malischen Regierung von vier bis fünf Jahren bis zu demokratischen Wahlen für untragbar halte. Außerdem kündigte sie an, dass die Bundeswehr keine malischen Streitkräfte weiter ausbilden werde, wenn diese am Ende mit russischen Söldnern kooperierten.
Allerdings hatte Lambrecht erst kürzlich markant mitgeteilt, die Bundeswehr werde vor Russlands Söldnern nicht weglaufen: „Wir werden nicht weichen, so einfach machen wir es den Russen nicht“, so die SPD-Politikerin noch Ende Januar in einem Interview der Welt am Sonntag.
Hat Putin die Finger im Spiel?
Man weiß, dass eine „Gruppe Wagner“, eine private russische Söldnertruppe, in Mali die Finger im Spiel hat. Diese „Gruppe“ ist nicht zum ersten Mal im kriegerischen Einsatz. Zuvor schon wurde sie in der Ostukraine, in Syrien, in der Zentralafrikanischen Republik und in Libyen gesichtet. Gegründet hatte sie der russische Unternehmer und vormalige russische Oberstleutnant Dimitri Utkin (51) im Jahr 2013. Der Name „Wagner“ ist eine Anspielung auf Hitlers Lieblingskomponisten Richard Wagner. Die „Gruppe“ soll bis zu 2.500 Mann in Marsch setzen können. In Mali sollen es rund 1.000 sein. Der „Gruppe“, die schon mehr als hundert „Gefallene“ zu verzeichnen hat, werden in Syrien unter anderem Kriegsverbrechen und schlimme Greueltaten vorgeworfen.
Und was weiß der Kreml-Chef davon? Putin gibt sich ahnungslos, während auf Kundgebungen der Regierung in Malis Hauptstadt Bamako auffallend oft russische Fähnchen und sogar die Forderung „Poutine, aidez-nous“ (Putin, hilf uns) zu sehen sind. Der Kreml habe mit russischen Söldnern der „Gruppe Wagner“ nichts zu tun, betonte Putin am 7. Februar nach einem Treffen mit Macron. Nach der Logik der Nato, so Putin weiter, könnten sich Staaten wie Mali selbst aussuchen, wer für ihre Sicherheit sorge. Mit Blick auf die Söldnerfirma in Mali meinte er: „Sie verhandeln dort selbst, die örtlichen Machthaber laden sie auf staatlicher Ebene ein und danken ihnen für die geleistete Arbeit. Aber der russische Staat hat hier überhaupt keine Aktie.“ Die Firmen verfolgten kommerzielle Interessen. Und: „Die russische Regierung, der russische Staat hat nichts gemein mit diesen Firmen, die in Mali arbeiten.“ Soll man das glauben? Putin wäre nicht Putin, würde er nicht Chancen sehen, mit Söldnern in das entstehende französische Vakuum vorzustoßen. Und Macron den Wahlkampf zu vermiesen. Immerhin hatte sich die korrupte „Übergangsregierung“ von Goïta ja bereits mit der Bitte um militärische Hilfe an Russland gewandt.
Europa erneut vor einem Dilemma
Die Sicherheitslage in Mali hat sich stetig verschlechtert, jährlich verdoppelt sich die Zahl der Todesopfer. Der Terrorismus greift im Norden und im Zentrum Malis um sich. Während die Welt nach Russland und in die Ukraine blickt, geriet aus dem Blick, dass Mali zum Tummelfeld dschihadistischer Aktivitäten wurde. Deren Aktionsradius wird sich auf Dauer nicht auf Westafrika verengen.
Dennoch muss man auch hier wie nach 20 Jahren des Anti-Terror-Einsatzes in Afghanistan sagen: Alles, was der Westen bzw. was Europa in Afghanistan und in Mali geleitet haben, war ein Tropfen auf den heißen Stein. Fluchtursachen zu bekämpfen, hieß das Motto. Dieses Motto blieb nichts als ein frommer Wunsch. Der demographisch explodierende Erdteil Afrika mit derzeit 1,3 Milliarden und im Jahr 2050 mit womöglich 2,5 Milliarden Menschen wird, wie die jüngste Geschichte Malis deutlich macht, nicht mit noch so vielen Billionen Dollar und noch so vielen Soldaten demokratisch, friedlich und rechtsstaatlich werden. Afrika stehen vielmehr ein islamistischer Terrorismus sowie eine Kolonialisierung durch China und womöglich durch Russland bevor. Diese Probleme wird eine EU mit noch so vielen humanitaristisch geprägten Resolutionen des Europäischen Parlaments nicht lösen.
Europa wird sich vielmehr darauf besinnen müssen, wie es sich vor dem Übergreifen dieser Probleme vom Süden her über das Mittelmeer wappnen kann. Es mag politisch inkorrekt, ja gar „pfui“ sein: Aber man wird – ob man will oder nicht – über eine „Festung Europa“ debattieren müssen. Die USA haben es da – abgepuffert durch zwei Ozeane – etwas leichter.