Wenn man einen Blick auf die chaotischen Auseinandersetzungen im englischen Parlament über Theresa Mays Brexit-Vereinbarungen mit der EU wirft, und sich die sichtbare Hilflosigkeit der Premierministerin anschaut, dann ist man versucht, einen zentralen Satz aus den Romanen des Schriftstellers P. G. Wodehouse (1881-1975) zu zitieren, zumal einige der Hauptakteure des Brexit-Dramas, etwa Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg, ohnehin den Eindruck erwecken, sie seien den Büchern von Wodehouse entstiegen.
Wann immer ein Plan der bekanntesten Kunstfigur der absurden Wodehouse-Welt, Bertie Wooster – ein intellektuell nicht besonders großzügig ausgestatteter und ohne seinen Butler kaum überlebensfähiger Angehöriger der edwardianischen Oberschicht vor dem 1. Weltkrieg – einmal mehr völlig daneben gegangen ist, kommentiert er dies resigniert mit den Worten: „It seemed like a good idea at the time“ – damals schien es eine gute Idee zu sein. Ähnliches könnte man vielleicht auch über den britischen Plan sagen, die EU zu verlassen.
Sicherlich, die europäischen Verträge erhalten eine Klausel, die einen Austritt aus der Union gestattet, aber es hätte den Briten eigentlich klar sein müssen, dass diese Bestimmung von Anfang eine ähnliche Funktion hatte, wie die berühmte no-bail-out Klausel des Vertrages von Maastricht, die es deutschen Politikern erlauben sollte, ihren Wählern zu erzählen, dass sie nie für die Schulden anderer europäischer Ländern bürgen müssten.
Wirklich ernst gemeint war das aus Brüsseler Sicht oder auch aus der Sicht Frankreichs und der südlichen EU-Länder natürlich nie; jedenfalls waren am Ende die Deutschen fast die einzigen, die das anders sahen und sich damit weithin unbeliebt machen. Wie konnte man so kleinlich sein, auf dieser lächerlichen, rein rhetorischen Floskel zu bestehen? So verhält es sich offenbar auch mit der Möglichkeit des Austritts aus der EU. Eine solche Klausel in den europäischen Verträgen erweckt den Eindruck, der Prozess der europäischen Einigung sei eine freiwillige Veranstaltung, denn wer mit der allgemeinen Entwicklung der EU nicht einverstanden sei, könne ja jederzeit aussteigen.
Ganz so einfach ist es freilich nicht, denn die EU folgt einer Systemlogik, die letzten Endes den immer weiteren Abbau nationaler Souveränität unausweichlich macht. Ob die Bürger auf nationalstaatlicher Ebene damit einverstanden sind oder nicht, ist eigentlich zweitrangig, denn, wie es der gegenwärtige Kommissionspräsident Juncker einmal vor rund 20 Jahren so schön formuliert hat: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter.“
Man kann es auch etwas subtiler ausdrücken und auf den „permissive consensus“ verweisen, auf dem der europäische Einigungsprozess lange Zeit beruhte. Die große Mehrheit der Wähler in der EU sprach sich zwar nie explizit für die Abschaffung der Nationalstaaten aus, war aber vor Ausbruch der Euro-Krise doch vielfach bereit, den Ausbau der Macht der EU, der sich oft hinter den Kulissen und stillschweigend, etwa auch durch Urteile des stets integrationsfreundlichen EuGH vollzog, ohne wirklichen Widerstand hinzunehmen. Wenn freilich die Wähler doch einmal nach ihrer Meinung gefragt wurden, konnte es auch zu einem Aufstand gegen diesen Prozess kommen.
Der Vertrag von Maastricht wurde 1992 in Frankreich nur mit einer hauchdünnen Mehrheit in einem Plebiszit gebilligt und der Entwurf einer europäischen Verfassung scheiterte 2005 sowohl in Frankreich wie in den Niederlanden, als man so „unklug” war, dort Referenden abzuhalten. Das hätte man damals als Warnsignal sehen können, den Bürgern Europas keine Integration aufzuzwingen, die sie in Wirklichkeit nicht wollten. Der ehemalige französische Außenminister Hubert Védrine äußerte sich neben anderen damals so. Aber die pro-europäischen Eliten zogen den umgekehrten Schluss: Man dürfe die normalen Bürger gar nicht erst zu Wort kommen lassen, und müsse im Gegenteil den Prozess der europäischen Integration noch beschleunigen, notfalls eben auch ohne explizite demokratische Legitimation (Ashoka Mody, Euro Tragedy: A Drama in Nine Acts, Oxford 2018, S. 191.). Die durch den Euro geschaffenen Zwänge ließen einem freilich auch kaum eine andere Wahl, wie man zugeben muss.
Der Austritt als ein Akt der Notwehr gegen die stille Erosion von Souveränität?
Sicherlich, in Deutschland haben sowohl das Verfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil von 2009 als auch namhafte Juristen wie Dieter Grimm immer wieder Vorbehalte gegen diesen stillschweigenden und nur unzureichend legitimierten europäischen Staatsbildungsprozess vorgebracht (Dieter Grimm, Europa ja – aber welches?, München 2016). Praktische Wirkungen hat das aber nicht. Kaum jemand in Deutschland würde ernsthaft daran denken, daraus reale Konsequenzen zu ziehen und über einen Austritt aus der EU auch nur nachzudenken. Selbst innerhalb der AfD dürfte das eine Außenseiterposition sein.
Das war in England anders, denn der EU-skeptische Flügel der konservativen Partei glaubte in einem solchen Austritt wirklich ein Heilmittel gegen die schleichende Erosion nationaler Rechte gefunden zu haben. Allerdings war der Austritt dann auch das einzige Heilmittel, denn trotz der vielen Sonderrechte, die England innerhalb der EU für sich beanspruchen konnte, dem Zentralisierungssog des Systems EU konnte sich das Land trotzdem nicht wirklich entziehen, zumal am Ende ja sogar Parlamentsgesetze vom EuGH überprüft und verworfen werden konnten, ein Recht, das vor dem Beitritt zur EU 1972 ein englisches Gericht niemals für sich in Anspruch genommen hätte.
Indes, es gehörte wohl immer ein hohes Maß an Naivität dazu, zu glauben, man könne aus der EU wirklich austreten, ohne ernsthaft Schaden zu nehmen. Zum einen haben sich natürlich in den letzten Jahrzehnten enge wirtschaftliche und rechtliche Bindungen Großbritanniens an den Kontinent entwickelt, die aufzulösen wohl an die zehn Jahre, wenn nicht länger beansprucht hätte – eine Zeit, die einfach jetzt nicht zur Verfügung steht – zum anderen wären die Brüsseler Technokraten und Politiker natürlich töricht, würden sie durch günstige Austrittsbedingungen womöglich noch andere Mitglieder der EU ermutigen, wenn schon nicht wirklich die Union zu verlassen, so doch im Fall von Konflikten mit einem solchen Austritt zu drohen. Das wäre zu riskant. Also ähnelt Großbritannien jetzt in vielem einem Passagier, der an einem Bahnhof einen Zug verlassen will, aber mit einen Bein in der Zugtür hängen bleibt und nun droht, von dem langsam wieder anfahrenden Zug mitgeschleppt zu werden, falls dieser nicht doch noch angehalten wird.
Der Austrittsvertrag, den Theresa May mit Brüssel ausgehandelt hatte, für den es aber im britischen Parlament offenbar zur Zeit keine wie immer geartete Mehrheit gibt, so dass May genötigt war, sogar die Abstimmung über die Vereinbarung auf unbestimmte Zeit zu verschieben, ist für Großbritannien tatsächlich mit einigen Nachteilen verbunden. Vor allem könnte es die zunächst nur als Zwischenlösung vorgesehene Zollunion mit der EU nicht ohne deren Einverständnis verlassen. Eine Einigung über die Aufhebung der Zollunion könnte aber an Differenzen über den Status von Nordirland, das die Regierung in London nicht in der EU zurücklassen will, durchaus scheitern, oder auch an anderen Problemen, man denke an das Recht, französischer oder anderer europäischer Fischer in britischen Gewässern Fisch zu fangen, auf dem der wortgewaltige französische Präsident Macron noch jüngst öffentlich bestanden hat.
Dann müsste Großbritannien weiter und auf Dauer in vielen Bereichen Regeln und Normen übernehmen, die in Brüssel ohne britische Mitwirkung in Kraft gesetzt werden und wäre auch der Jurisdiktion des EuGH zumindest in Teilbereichen weiter unterworfen. Von daher wäre es tatsächlich, wie die Kritiker meinen, tendenziell ein Vasallenstaat der EU und könnte auch keine eigenen Handelsverträge mit Drittländern abschließen. Allerdings war ein harter Brexit ohne jede Übergangsregelung für Realisten nie eine wirkliche Option, da die wirtschaftlichen Folgen zu dramatisch wären. Von daher hat May trotz manch taktischer Fehler wohl nicht sehr viel weniger in Brüssel rausgehandelt, als das, was nüchtern gesehen erreichbar war.
Dass sie dennoch im Parlament und in der eigenen Partei, so wie sich die Dinge zur Zeit darstellen, gescheitert ist, liegt auch daran, dass viele Brexiteers in England die eigene Verhandlungsposition weit überschätzt hatten und dass sich in Parlament und Öffentlichkeit mit dem Brexit sehr unterschiedliche Erwartungen und Befürchtungen verbinden. Für einen vollständigen, übergangslosen Bruch der Bindung an die EU tritt nur eine Minderheit der Wähler und eine noch kleinere Minderheit der Unterhausabgeordneten ein.
Umgekehrt würde eine Mehrheit der Briten – wenn auch vielleicht keine sonderlich große – heute wohl aus pragmatischen Gründen eher für den Verbleib in der EU stimmen, obwohl die enthusiastischen Anhänger des EU-Projektes in Großbritannien außerhalb der Universitätsstädte und der wohlhabenden kosmopolitischen Vororte Londons nur eine überschaubare Gruppe bilden. Schließlich kam hinzu, dass viele Brexiteers auf jeden Fall die uneingeschränkte Personenfreizügigkeit für EU-Bürger und die damit verbundene unkontrollierte Einwanderung unterbinden wollten, was einen Kompromiss mit Brüssel, der sich am Vorbild Norwegens oder der Schweiz orientiert, sehr erschwerte, wenn nicht sogar unmöglich machte.
Ein Triumph der Brüsseler Technokraten über englische Hobby-Politiker?
Sieht man sich das Ergebnis des jedenfalls für den Moment misslungenen Versuches Großbritanniens, aus der EU zu entkommen, als Kontinentaleuropäer an, könnte man versucht sein, eine gewisse Schadenfreude zu empfinden. So wie wir Deutschen mit dem Experiment des Euro gründlich auf die Nase gefallen sind – namentlich gemessen an den ursprünglichen Erwartungen, die ja eine Schuldenunion und eine monetäre Staatsfinanzierung durch die EZB gerade ausschlossen – so England mit seinem Versuch, noch einmal ganz allein gegen ganz Europa zu kämpfen wie in seiner „finest hour“ 1940.
Man hat die Kräfte des eigenen Landes offenbar über- und die Durchsetzungskraft der EU stark unterschätzt. Das mag auch daran liegen, dass die eher grauen Gestalten, die die EU meist nach außen repräsentieren, oft Männer und Frauen sind, die in der immer noch recht scharfen Debattenkultur des englischen Parlamentes, zu der es im EU-Parlament nicht einmal ansatzweise ein Gegenstück gibt, vermutlich innerhalb von 10 Minuten spurlos untergehen würde.
Aber in Brüssel kommt es eben mehr auf die Fähigkeit an, hinter den Kulissen im Halbdunkel politische Tauschgeschäfte aller Art zu organisieren, oder die hyperkomplexen rechtlichen Regeln der EU geschickt zu interpretieren, und zwar in einer Weise, die jeden Widerstand von Anfang an ins Leere laufen lässt. Darauf versteht sich ein Michel Barnier eben besser als ein Boris Johnson oder auch als Theresa May selber, und selbst der gelegentlich hilflos wirkende Jean Claude Juncker beherrscht dieses Handwerk immer noch perfekt.
Also ein verdienter Triumph Brüsseler Technokraten und professioneller politischer „Pferdehändler“ über die Naivität nationaler Nostalgiker, die von längst vergangener britischer Größe träumten? Ganz so einfach sind die Dinge am Ende nicht. Man sollte nicht vergessen, dass die Vorschläge, die der damalige Premier Cameron vor dem Austrittsreferendum für die Reform der EU vorbrachte, zum Teil durchaus plausibel waren. Er hatte zum Beispiel gefordert. nationale Parlamente stärker an Brüsseler Entscheidungen zu beteiligen, da Abgeordnete dieser Parlamente nicht auf das Programm einer unaufhörlichen Zentralisierung festgelegt sind, anders als die des EU-Parlamentes, denen es natürlich immer auch um ihren eigenen Status und ihre eigene Macht geht – und hier kommt man nur voran, wenn man den Einfluss nationaler Parlamente permanent zurückdrängt. Darin sind sich dann auch alle bis auf die im EU-Parlament marginalisierten rechten „Populisten“ einig.
Aber Camerons Vorschläge wurden sofort vom Tisch gewischt, auch von Deutschland. Man hätte sie sicherlich mitten in der chronischen Eurokrise nicht leicht in die Tat umsetzen können, aber damit wurde dennoch eine Chance, vielleicht die letzte, vertan, Fehlentwicklungen in der EU zu korrigieren, wie auch der langjährige deutsche EU-Kommissar Günter Verheugen dies vor kurzem andeutete.
Jetzt hingegen ist es Brüssel gelungen, den Aufstand einer rebellischen Provinz erfolgreich und blutig (im übertragenen Sinne) niederzuschlagen. May wird ihre Niederlage jedenfalls politisch nicht überleben, auch wenn unklar bleibt, wann sie gestürzt wird. Wenn es am Ende doch noch zum Brexit kommt, und das ist keineswegs sicher, wird Großbritannien wohl doch fürs Erste den Status eines Klientelstaates akzeptieren müssen, ein wenig so wie Irland dies 1922 tun musste, als es aus dem Vereinigten Königreich ausschied.
Durch diesen Erfolg werden sich freilich erneut jene Kräfte in Brüssel, aber auch in Berlin und Paris, ermutigt fühlen, die den Wege der rücksichtslosen Homogenisierung und Zentralisierung, koste es was es wolle, weitergehen wollen. Mehr denn je wird die Antwort auf jede Krise immer nur „Mehr Europa“ sein. In gewisser Weise lässt einem das Zwangskorsett des Euro ja auch gar keine andere Möglichkeit als die Flucht nach vorn. Aber auf diese Weise werden auch die Verteilungskonflikte in der EU massiv zunehmen, denn Reformen in den überschuldeten Ländern einschließlich Frankreichs sind weniger denn je durchsetzbar und eine Transfernunion, die das ohne Hilfe der EZB ausgleicht, würde Unsummen verschlingen, vielleicht bis zu 250 Milliarden jedes Jahr, wenn man zugleich die Schulden der Defizitländer einschließlich Frankreichs deutlich abbauen wollte; ein Betrag, den vor allem Deutschland aufbringen müsste. Die Lage wird sich noch verschärfen, wenn in Deutschland das wirtschaftliche Wachstum nachlässt und die Steuereinnahmen sinken, was nur allzu bald der Fall sein könnte.
Die britische Entscheidung, aus der EU auszutreten, so naiv sie auch war, hätte für die EU ein heilsamer Schock sein können, ein Anlass, um über das Projekt der europäischen Einigung noch einmal grundsätzlich nachzudenken und es realistischer und pragmatischer zu gestalten. Mit der sich jetzt abzeichnenden Niederlage Großbritanniens im Kampf mit Brüssel ist diese Chance vertan und man wird weiter machen wie immer, bis irgendwann die EZB doch nicht mehr genug Geld drucken (respektive aus dem Nichts schaffen) kann, um den Euro über Wasser zu halten oder „böse Populisten“ und aggressive Gelbwesten in den Mitgliedstaaten der EU das ganze System von innen her lahmlegen, eine Methode, die sehr viel mehr Erfolg verspricht als der gänzliche Austritt aus der EU.
Gar so weit sind wir davon, wenn man auf Polen, Ungarn oder Italien, aber eben auch auf Frankreich blickt, schon jetzt nicht mehr entfernt und es wird vielleicht der Tag kommen, an dem man sich nach den britischen „Querulanten“, die sich immerhin an die vereinbarten Regeln hielten, solange sie noch Mitglied waren, und lediglich Beitragssenkungen, aber per Saldo keine immer höheren Subventionen beanspruchten, noch zurücksehnen wird.