Nun wird relativ viel darüber gesprochen, was die jüngsten Unruhen am Flughafen von Machatschkala in der russischen Teilrepublik Dagestan am Kaspischen Meer zu bedeuten haben. Hunderte Männer haben in der Nacht zum Montag den Flughafen der muslimisch dominierten Kaukasus-Republik Dagestan gestürmt, auf das Gerücht hin, dass ein Flugzeug aus Tel Aviv mit Flüchtlingen aus Israel in der Hauptstadt gelandet sei.
Unter Allahu-akbar-Rufen stürmten sie das Flughafengebäude, die Sicherheitsschleuse und das Rollfeld selbst, wo es später zur Begegnung mit einem größeren Gegenaufgebot der Polizei kam. Die Türen scheinen aber meist offen gewesen zu sein. Mehr als zwanzig Personen wurden mehr oder weniger leicht verletzt. Zehn mussten mit mittleren bis ernsten Verletzungen im Krankenhaus behandelt werden, darunter Zivilisten und Polizisten. Zwei befänden sich in einem „kritischen Zustand“. Auch wenige Sicherheitskräfte wurden verletzt. Israelische Passagiere kamen nicht zu Schaden und wurden laut russischen Meldungen an einen sicheren Ort gebracht. 60 Unruhestifter wurden festgenommen. Der Flughafen soll noch bis zum 6. November geschlossen bleiben.
Die Bilder und Videos vom Flughafen Machatschkala überliefern eine höchst beunruhigende und alarmierende Zusammenrottung eines Mobs, der zu allem fähig scheint. Die Männer riefen, dass sie keine jüdischen Flüchtlinge in Dagestan wollen. Trotzdem mag man sich wundern, warum man die jungen Männer mit der Palästinenserflagge so lange gewähren ließ. Die einfache Antwort: Sie waren zu viele und zu schnell an Ort und Stelle. Daneben wollten die Machthaber vielleicht eine Eskalation mit mehr Verletzten vermeiden. Sicherheitskräfte vor der frei zugänglichen Flughafenhalle wirkten ratlos, waren wohl auch schlichtweg in der Unterzahl. Es wäre vielleicht durchaus schlecht ausgegangen, wenn die jungen Männer die von ihnen gesuchten israelischen Passagiere in einem der Warteräume vorgefunden hätten.
Tatsächlich kamen in diesen Tagen mehrere Evakuierungsflüge für russische Bürger aus Israel in Machatschkala, Mineralnyje Wody und Sotschi am Schwarzen Meer an. In mehreren Kaukasus-Republiken kam es zu antisemitischen Taten und Unruhen. Schon am Sonnabend waren im dagestanischen Chassawjurt dutzende Männer in ein Hotel eingedrungen, weil darin israelische Flüchtlinge untergebracht seien.
Letzte Woche hatte sich Präsident Wladimir Putin mit den Vertretern der großen Religionsgemeinschaften des Landes getroffen, um zum friedlichen Zusammenleben der Völker und Religion in dem Vielvölkerreich aufzurufen. Ein Rabbi, zwei orthodoxe Priester und einige Turban- und Pelzmützenträger saßen Putin da im Zwei-Meter-Abstand gegenüber. Allerdings steht Russland zumindest diplomatisch nicht auf der Seite Israels. Es gab zudem ein Moskauer Treffen des stellvertretenden russischen Außenministers mit einer Delegation der Hamas.
Auf der Plattform Telegram kursierten weitere Aufrufe, in denen an „unsere Brüder in Inguschetien, Tschetschenien, Kabardino-Tscherkessien, Adygeja und alle anderen Menschen guten Willens“ appelliert wurde. Gefordert wird darin ein gesamtkaukasischer Protest, eine „allgemeine kaukasische Versammlung“ in Machatschkala, worüber aber noch zu entscheiden sei. Gefordert wird zudem die Freilassung aller am Flughafen Festgenommenen.
Der Präsident Dagestans, Sergej Melikow, rief die Staatsbürger zur Ruhe auf. Schuld seien „Falschmeldungen“ gewesen, die von den Feinden der Republik (oder Russlands) verbreitet werden. Deshalb hätten „einige noch ganz junge Leute“ beinahe die Gesetze verletzt, so Melikow auf Telegram laut dpa. Mit den „Feinden“ des Landes muss Melikow nicht unbedingt die Ukraine meinen, eventuell meint er islamische „Extremisten“, die seine Bevölkerung aufstacheln.
Russlands neue Nähe zur islamischen Welt
Denkbar ist zudem eine Verbindung beider Varianten, in der ukrainische Agenten die islamische Tendenz im dagestanischen Volk dazu nutzen, um Unruhe zu stiften. Tatsächlich war es das, was Sergej Melikow in einer Pressekonferenz am Montag sagte. Er kündigte an, dass die Unruhestifter ohne Gnade verfolgt würden. Tatsächlich wird auch der Berichterstattung russischer Medien zum Gaza-Konflikt eine Mitschuld an den Unruhen gegeben. Damit wären sie eine ferne Folge der ambivalenten Positionierung Putins in diesem Konflikt.
Im Mai hatte im russischen Kazan das 14. Internationale Wirtschaftsforum „Russia – Islamische Welt“, das sogenannte KazanForum, stattgefunden, zu dem Putin in einem Grußwort sagte: „Russland ist offen für eine umfassende wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit mit muslimischen Ländern. Wir sind daran interessiert, die bestehenden Beziehungen zu stärken und neue Partner zu finden, die Zusammenarbeit im Bereich der Landwirtschaft und Industrie zu fördern und neue Transport- und Logistikketten zu schaffen.“ An dem Forum waren die 57 Mitgliedsstaaten der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIZ) beteiligt gewesen, die bisher durch Uneinigkeit zwischen der Türkei, dem Iran und anderen gelähmt war. Russland ist Beobachter in der Organisation mit Sitz im saudi-arabischen Dschidda. In Russland selbst gibt es zehn Prozent Muslime, von denen die meisten im Nordkaukasus leben.