Kaare Dybvad Bek versucht es noch ein letztes Mal. Der Ausländer- und Integrationsminister von den dänischen Socialdemokraten will seine deutschen Genossen darauf aufmerksam machen, wie sehr sie sich in migrationspolitischen Fragen verlaufen haben. Und wo ginge das besser als im IPG-Journal der Friedrich-Ebert-Stiftung? Gleichsam in der Höhle des deutschen SPD-Löwen brüllt Dybvad so laut wie möglich, damit er von den Artgenossen gehört wird.
Von seinem Interviewpartner Nikolaos Gavalakis wird er gleich zu Anfang als „beharrlicher Kritiker der europäischen Migrationspolitik“ vorgestellt. Dybvad schlägt umgehend mit einer starken Zahl zurück: „Im Augenblick ist die Zahl der irregulären Einreisen nach Europa höher denn je und sogar höher als 2015.“ Man könnte nun sagen, dass der EU-Grenzschutz beziehungsweise die Kontrollen an den EU-Außengrenzen im Jahr 2015 noch viel weniger ausgeprägt waren. Man denke nur an die Art, in der Syriza-Griechenland die „Flüchtlinge“ empfing, in wilden Lagern unterbrachte und am Ende – auch dank dem Einsatz Norbert Blüms – über Idomeni weiterziehen ließ. Aber zugleich ist der erneut rasante Anstieg der illegalen Einreisen seit dem vergangenen Jahr unbezweifelbar.
2023 zählte Frontex 380.000 illegale Einreisen in die EU, was man stets als Mindestzahl nehmen muss. Denn alle illegalen Grenzübertritte werden wohl niemals registriert. Auch laut Frontex war das die höchste Zahl seit 2016. Nun erfahren wir vom dänischen Minister, dass wir sogar das Epochenjahr 2015 hinter uns gelassen haben. Es war übrigens ein Zwillingsjahr, erst 2015 und 2016 zusammen ergaben die deutsche Migrationskrise. Nun kommt die Reprise mit dem Zwillingspaar 2023/2024. Fast 500.000 Asylanträge wurden schon im ersten Halbjahr 2024 in der EU gestellt, eigentlich noch mehr, denn die EUAA hat mindestens die Statistik des Bamf nicht gelesen.
Auch in Deutschland gibt es keine Entwarnung von der Dauerkrise Asyl, mit Potential für einen mindestens ebenso krisenhaften Herbst, wie wir ihn letztes Jahr erlebten.
Dybvad schlägt sofort den Bogen zu den Staaten und Kommunen, nicht zuletzt den deutschen, die mit „gewaltigen Auswirkungen“ zu rechnen hätten, „wenn wir daran nicht schnell etwas ändern“. Die in die Hunderttausende gehenden Asylbewerber-Zahlen, die für Deutschland oder Österreich seit Jahren normal sind, hält Dybvad für nicht zu bewältigen: „so viele Anträge kann ein Land nicht bearbeiten“. Viele Bewerber stammten außerdem aus Ländern mit geringer Anerkennungsquote.
Aus deutscher Sicht altgewohnt, aus dänischer Sicht ganz und gar nicht
Dybvad meint aber mehr als das reine Asylverfahren. Er spricht vom Ende der öffentlichen Unterbringung von männlichen Asylbewerbern, wie sie in Belgien praktiziert wird, und von der Überlastung deutscher Städte – etwa (nur sein Beispiel) Pirmasens, das bei 40.000 Einwohnern zuletzt 2.000 Migranten aufgenommen habe. Und wieder muss man sagen: Für Deutschland ist das schon fast etwas Normales, fast Altgewohntes. Man muss kurz innehalten, um zu bemerken, dass es aus dänischer Sicht ganz und gar nicht normal ist.
„Wenn den Menschen angemessene Unterbringung, Bildung, Sprachunterricht und ein Zugang zum Arbeitsmarkt geboten werden soll, sind solche Zahlen auf lange Sicht gesellschaftlich nicht tragbar“, meint Kaare Dybvad Bek dazu.
Das „Ghetto-Gesetz“ der Vorgängerregierung handelt genau von diesem Problem: Die Konzentration nicht-westlicher Zuwanderer in bestimmten Vierteln (oder auch ganzen Städten, wie Pirmasens) führt zu erheblichen Problemen. Eine bestimmte Konzentration darf folglich nicht überschritten werden, wenn man diese Probleme vermeiden will. Durch die Zerschlagung der „Ghettos“ konnte die dänische Regierung den Arbeitslosenanteil im größten betroffenen Viertel von Kopenhagen von 40 auf 21 Prozent halbieren. „Das macht einen enormen Unterschied aus. Die Auswirkungen für die lokalen Gemeinwesen vor Ort kann man kaum überbewerten“, erklärt Dybvad Bek. Ihre Politik unterscheidet sich nicht von jener der Vorgängerregierung, auch wenn die Sozialdemokraten das Wort „Ghetto“ aus dem Text gestrichen haben.
Auch in Dänemark: Hälfte der Häftlinge haben Migrationshintergrund
Und sollten Sozialdemokraten nicht genau daran denken, wie arme und wenig verdienende Menschen in bestimmten Vierteln leben müssen? Auch das ist für Deutschland nicht mehr selbstverständlich. Das absolute Aufnahmegebot, das seit Merkels fataler Entscheidung gilt, verstellt die „Nöte und Sorgen“ der einheimischen Bürger – vor allem für die Augen der SPD und anderer „Linker“. Die Kinder, die in den schwierigen Vierteln aufwachsen, werden davon gegenwärtig und für ihr Leben gezeichnet.
Wovon auch Dybvad nicht explizit spricht, das ist der Kriminalitätszoll der ungeordneten Zuwanderung ungeeigneter Kandidaten. Immerhin, dänische Zahlen belegen es: Ohne die geschehene nicht-westliche Zuwanderung wären auch die Gefängnisse am Großen und Kleinen Belt nur etwa halb so voll. 44,3 Prozent der Häftlinge sind Ausländer, Immigranten oder zählen zu deren Nachfahren.
In Deutschland sind wir weit davon entfernt, ähnlich detaillierte Zahlen zu erfahren. Die so unrichtige, unsachdienliche politische „Korrektheit“ verhindert die Auswertung von Statistiken nach Migrationshintergrund. Aber Ausländer ohne deutschen Pass machen deutschlandweit ein Drittel der Häftlinge aus (15.559 von 44.232 Häftlingen, Zahlen vom März 2023). In Baden-Württemberg sind es gar 47,7 Prozent ausländische Häftlinge. Die eingebürgerten Migranten und ihre Nachfahren kommen jeweils noch dazu.
„Das ist eine bürgerliche, sozialistische Sicht der Dinge“
Sozialdemokratische Politik in Dänemark bedeutet laut Dybvad aber auch, dass es den Regierenden egal ist, ob es sich um ein dänischstämmiges Kind oder eines mit Migrationshintergrund handelt. Beide sollen die gleiche gute Förderung bekommen. Deshalb wird in Problemstadtteilen auch doppelt so viel Geld für die Schulen ausgegeben, daneben fließt Geld auch für Sozialprogramme. Es würde zur Transparenz der Migrationsdebatte gehören, dass man diese Folgekosten der wahllosen und in der Tat nach oben hin unbegrenzten Aufnahmepolitik der deutschen Altparteien benennt und regelmäßig für die Öffentlichkeit beziffert.
Den Einwand des Interviewers, viele sähen das dänische „Ghetto-Gesetz“, das auch vom EuGH gerade überprüft wird, als „grausam“ und fremdenfeindlich an, pariert Dybvad mit einem interessanten Satz. Er hält das „für eine bürgerliche, sozialistische Sicht der Dinge“. Bürgerlich und sozialistisch in einem Satz und die dänische Sozialdemokratie mitten drin, gleichsam zwischen Skylla und Charybdis. Aber Dybvad trifft hier etwas: Die großen Sozialisten (Marx, Lenin, Gramsci, Chomsky usf.) waren ja eigentlich immer Bürgerkinder. Ähnlich ist es mit der heutigen Öko-Bourgeoisie, aus der die Propagandisten der derzeitigen Migrationspolitik kommen. Sie sind Sozialisten und Bürgertum zugleich. Die bürgerliche Wohlanständigkeit erfordert in Deutschland heute eine uneingeschränkte Zustimmung zur Offene-Grenzen-Politik. Da können sich das Proletariat und einige andere Vernunftbegabte nur verblüfft die Augen reiben.
Dybvad Bek stellt eindeutig klar: „In Dänemark ist diese Rhetorik von Leuten zu hören, die in gut situierten, interessanten und kreativen Stadtvierteln leben …“ Dort bedeute „Integration nicht die Belastung“ wie in anderen Kommunen. Das ist nicht anders als in Deutschland auch. Doch für Dybvad bezahlen die „Arbeiterviertel“ den Preis der liberalen Migrationspolitik, also die klassischen Klienten sozialdemokratischer Politik, die heute sicher auch in Dänemark nicht mehr alle „Arbeiter“ sind.
Und Dybvad fragt sich, „ob die Betreffenden jemals in einem Gebiet mit so einer Bevölkerungszusammensetzung gewohnt haben. Wenn sie das getan hätten, würden sie verstehen, dass das Fundament einer Gesellschaft mit gutem Zusammenhalt und hohem sozialstaatlichen Niveau auf Vertrauen und gegenseitigem Verständnis beruht.“ Wahre Worte, die um mehr als nur Vermögensverhältnisse kreisen, sondern um eine gemeinsame Kultur.
Wie die Dänen ganz andere Schlüsse aus 2015 zogen
Es ist faszinierend, dieses Interview aus einer Parallelwelt zu lesen und vor dem inneren Auge zu verfolgen. Auch in Dänemark war 2015 ein „entscheidendes Jahr“ für die dortigen Sozialdemokraten, aber in ganz anderer Weise als für die deutsche SPD oder CDU. Wo die deutschen Ex-Volksparteien sich einem diffusen Ruf der Wirtschaft nach „Fachkräften“ und noch diffuseren Theorien zum Aufhalten des „demographischen Wandels“ hingaben – man weiß seit langem, dass keines der beiden Projekte funktioniert –, sahen ihre dänischen Polit-Kollegen die Bilder aus Deutschland mit Erschrecken: „Im Fernsehen sahen wir Migranten und Geflüchtete zu Fuß auf den Autobahnen aus Deutschland ins Land kommen. Viele von ihnen wollten nach Schweden. Diese Bilder haben ein Gefühl von Kontrollverlust vermittelt.“ Die Dänen zogen daraus letztlich die Erkenntnis, dass Asyl und internationaler Schutz zeitlich beschränkt gelten müssen.
Das war die Entscheidung gegen den Missbrauch der Asylpolitik zu Zwecken der Einwanderung und Demographie-Manipulation. Beide politischen Themenbereiche haben eigentlich nichts miteinander zu tun. Für die Dänen ist und bleibt klar: „Wer keinen internationalen Schutz mehr braucht, sollte in sein oder ihr Herkunftsland oder vorheriges Wohnsitzland zurückkehren.“ Das verpflichtet sie übrigens nicht zu Abschiebungen nach Syrien. Dasselbe Ziel kann auch mit freiwilligen Ausreisen erreicht werden. Es müssten nur die richtigen Entscheidungen getroffen werden, was die Versorgung (oder nicht) der zur Rückkehr verpflichteten Migranten betrifft. Auch das geschieht in Dänemark – mit einer elementaren, kargen Unterbringung für (hart) Ausreisepflichtige.
Auch Fragen nach den Erfolgen der dänischen „Integrationspolitik“ beantwortet Dybvad mit der dänischen „Rückführungspolitik“, die heute wirksamer sei als noch vor Jahren. Auch das sind Aussagen zwischen den Zeilen.
Die Verluste seiner Partei bei den EU-Wahlen, die das Gegenüber im Sinne der Kritik ausschlachten will, führt Dybvad auf die ungewohnte „große Koalition“ mit den Liberalen zurück, die ähnlich wie in Deutschland das Links-Rechts-Schema auflöst und zum Wählerfrust führt. Die rot-blaue Koalition ist aber auf zentrifugale (letztlich wohl woke) Kräfte innerhalb der dänischen Linken zurückzuführen, weshalb Mette Frederiksen nicht wieder eine Minderheitsregierung anführen wollte.
Erstaunlicherweise sieht Dybvad dennoch keine migrationspolitischen Unterschiede etwa zur Sozialistischen Volkspartei (Socialistisk Folkeparti, SF), die eigentlich links von den Sozialdemokraten steht und bei den EU-Wahlen gewann. In Migrationsfragen vertrete die SF teils noch härtere Positionen als die Sozialdemokratie, etwa was den verpflichtenden (!) Unterricht in Mohammed-Karikaturen an allen dänischen Schulen angeht. Dybvads Sozialdemokraten wollen das jeweils vor Ort entscheiden lassen, also – als „Partei der Mitte“ – ein gewisses Maß an Parallelgesellschaft zulassen.
Deutschland und sein Hochqualifiziertenmangel
Es folgt ein letzter Höhepunkt des Interviews. Die Frage des Interviewers, ob „ein harter Kurs bei der irregulären Migration“ nicht dazu führe, dass „das betreffende Land auch für reguläre Migration unattraktiver wird“, also hernach unter „Fachkräftemangel“ leide, kann er gar nicht begreifen: „Ich verstehe nicht, warum Deutschland Schwierigkeiten haben sollte, gut ausgebildete Arbeitskräfte anzuziehen.“ Laut Dybvad Bek wollen ohnehin viele Türken, Tunesier und Albaner in Deutschland arbeiten. Seine Idee ist offenbar, dass Deutschland nur die Besten aus diesen Ländern nehmen sollte: „Bei uns gibt es eine Grenze, die bei einem Mindestjahresgehalt von 50.000 Euro liegt.“ Einwanderer aus Nicht-EU-Ländern können nicht nach Dänemark kommen, wenn sie diese Grenze unterschreiten. Sie bekommen keine Aufenthaltserlaubnis. Es nennt sich interessengeleitete und verantwortungsethische Politik.
Und noch einmal: Was ist ein Sozialdemokrat? „Gerade für Sozialdemokraten ist wichtig, dass darüber diskutiert wird, wie viele Menschen kommen können, ohne dass der funktionierende Wohlfahrtsstaat gefährdet wird.“ Konkurrenz „bei gering qualifizierten Beschäftigungen“ wollen die Dänen deshalb verhindern. Gleichzeitig gelingt es ihnen auch wirklich, Hochqualifizierte anzuziehen.
Dybvad Bek meint nicht, dass eine „nationalistische oder kulturkämpferische Politik“ nützen würde. Auch da bleibt er ein Linker. Er glaubt aber, dass die derzeitige Migration auf Kosten eines bestimmten Teils der Bürger geht, der „Menschen am unteren Ende der Gesellschaft“, die „die Hauptleidtragenden einer breiten und unkontrollierten Zuwanderung“ sind. Wenn dann noch der Sozialstaat zusammenbricht, werden es die „Geringqualifizierten und Einkommensschwachen“ sein, die „die Zeche zahlen, und nicht die Leute in Starnberg oder Charlottenburg“. Migration müsse „unter sozialen Aspekten“ analysiert werden. Welch merkwürdige Gedanken aus dem Königreich Dänemark. Dass der Sozialstaat in Deutschland wackeln könnte, dafür gibt es in der Tat Hinweise nach den vielfachen Problemen der Automobilindustrie.
Zum Schluss der Optimismus, ganz ohne Zeigefinger an die deutschen Sozialdemokraten: Dybvad glaubt, dass „jedes Land in Europa (…) eine besser funktionierende Rückführungspolitik betreiben“ kann als heute. Auch in einer Demokratie müssten „Regeln“ (und Gesetze) befolgt werden – und das gilt für die Zuwanderer genauso wie für die einheimischen Entscheider. An beidem hapert es in Deutschland sehr.