Tichys Einblick
Ein Arzt aus Frankreich berichtet:

Coronapandemie in Frankreich: Wieviel ist ein Menschenleben wert?

Die Coronapandemie offenbart in Frankreich das Ausmaß der verheerenden jahrelangen Sparmaßnahmen. Auch ohne den sanitären Notstand wäre die medizinische Versorgung über kurz oder lang zusammengebrochen. Von Dr. med. Stefan Naumann

Paris im April 2020

imago images / Hans Lucas

Trotz der apokalyptischen Vorhersagen und Prognosen von 300.000 bis 600.000 Covid-19-Toten, hat Frankreich offiziell “nur” 21.856 Tote zu verzeichnen (Stand nach Johns-Hopkins-University am 24.04.2020). Dies sind 0,03% der Bevölkerung, eine Zahl, die trotz allen individuellen Leids im Grundrauschen der allgemeinen Sterblichkeit untergeht. Die Epidemiologen haben sich in in ihren Hochrechnungen geirrt. Doch haben diese Hochrechnungen zum Lockdown, zum Erliegen allen öffentlichen Lebens und zu Verwerfungen im Rechtstaat geführt.

Schuld daran ist auch der desolate Zustand des öffentlichen Gesundheitswesen in Frankreich wie in den anderen Südländern Spanien und Italien das Ergebnis von massiven Sparmaßnahmen über Jahrzehnte. Durch diese Mangelwirtschaft ist die medizinische Versorgung der Patienten gefährdet. Das bedeutet: Patienten werden erst nach einer “Triage” versorgt.

Was ist Triage?

Triage bezeichnet die Sichtung und Klassifizierung der anfallenden Patientenmenge vor der Versorgung. Sie wird bei einem Massenanfall an Kranken angewandt, auch im Alltag der Notaufnahmen. Ursprünglich ging es um die Durchsicht eines Schlachtfelds nach dem Waffengang auf der Suche nach Überlebenden.

Während der Triage werden die Patienten nach Prognosen eingeteilt. Höchste Priorität haben Schwerstverletzte mit sofortigem Handlungsbedarf, danach werden die mittelschwer Verletzten versorgt. Niedrigste Priorität haben Leichtverletzte und körperlich Unversehrte. Todgeweihte werden nicht versorgt. Durch diese Maßnahmen sollen die begrenzt vorhandenen Ressourcen optimal eingesetzt werden, damit möglichst viele Menschenleben gerettet werden können.

In der Covid19-Pandemie malten Epidemiologen und Mathematiker ein biblisches Menetekel an die Wand. Virologen warnten öffentlich vor einer Pandemie, einer Invasion der Welt durch ein unbekanntes, neues Virus. Erinnerungen an Ebola, Sars, Mers, ja, gar an die “Spanische Grippe” von 1918 wurden geweckt. Die Apokalypse schien nah. Panik. Wie sollten Krankenhäuser und Ärzte in Anbetracht der ungeheuren Zahl von 600.000 Toten auf die angekündigte Patientenflut und auf diesen Massenanfall an Kranken reagieren? Triage?

Wie sollten die nach rigorosen Sparmaßnahmen noch erhalten gebliebenen 5000 französischen Intensivbetten ausreichen und dieser Katastrophe Paroli bieten, wenn selbst 25000 Intensivbetten in Deutschland als zu knapp berechnet worden waren? Triage?

Der medizinische Einsatz musste, bezogen auf alle Krankenhäuser einer Region, ja, des ganzen Landes, in der Art und Weise erfolgen, dass die vorhandenen Ressourcen optimal genutzt werden. Weil nicht genügend Betten und Personal vorhanden sind.

Aber was heißt optimal genutzt?

Die klassische Triage bewertet und klassiert alle Kranken durchaus mit egalitären Ideen: Nur der aktuelle Verletzungsstatus entscheidet, nicht das Alter oder die Vorerkrankungen. Die nachfolgende Versorgung hingegen erfolgt strikt utilitarisch: Die vorhandenen, limitierten Mittel werden möglichst effizient eingesetzt. Wer als chancenlos eingestuft wird, wird dem Tode überlassen. Wer warten kann, ohne zu sterben, muss warten. Wer körperlich unversehrt scheint, muss selber sehen, wie er klar kommt.

Bis zur aktuellen Covid-19-Krise, deren Ausmaß und Bedeutung erst in der Retrospektive richtig und kritisch bewertet werden wird, waren Überlegungen zur Triage eher theoretischer Natur. Wann, in unserer entwickelten Welt, waren jemals mehrere Hunderttausend Virustote prognostiziert worden? Aber welche Auswirkungen auf die Bevölkerung würde der massenhafte Tod Coronaerkrankter haben, wenn die Versorgung nicht mehr gewährleistet wäre? Wer würde dem Volk erklären, wer, und wer nicht versorgt werden würde? Welcher Bürger würde “Triage” verstehen, wer diese Maßnahme akzeptieren?

Bis zum Corona-Ausbruch konnte jeder Franzose jederzeit an jedem Ort jeden Arzt aufsuchen, weswegen auch immer er wollte. Seit Jahren unterliegen die Bürger Frankreichs dem Trugschluß, die medizinische Versorgung sei grenzenlos. Der Eindruck ist: Was gemacht werden kann, wird gemacht werden. Vielleicht liegt es am Leitmotiv “Égalité” in “Liberté, Ègalité, Fraternité!”. Und jetzt sterben, weil ich triagiert werde?

Jedoch wurde hinter den Kulissen dieses Potemkin´schen Dorfes seit über einem Jahrzehnt, auf dem Rücken von Fallpauschalen, die Versorgung reduziert. In Frankreich wurden die öffentlichen Krankenhäuser, vormals zu gutem Recht als Versorgungseinrichtungen im öffentlichen Interesse mit strategischer Bedeutung bewertet, drastischen Rationalisierungsmaßnahmen unterworfen. Es wurde regelmäßig soweit eingespart, bis die ersten Mitarbeiter streikten. Anschließend wurde den Streikenden soweit nachgegeben, bis die Belegschaft Ruhe gab, um kurz darauf die nächste Kostenreduktion anzugehen.

Somit entstand eine Situation, in der eine medizinische Rundumversorgung nur noch unter übermaximaler Nutzung der begrenzten Ressourcen möglich war. Personalmangel, Streiks, Burn-Out, lange Wartezeiten, zu kurze Krankenhausaufenthalte waren die sichtbaren Zeichen der Medizinkrise. Bis kurz vor Macrons Kriegserklärung an das Virus am 16. März befanden sich Feuerwehr und Krankenhauspersonal im Dauerstreik. Noch am Sonnabend, dem 14. März protestierten die Gelbwesten, in Paris kam es zu wiederholten Auschreitungen gegen die Sparpolitik und den Reformeifer der Regierung.

Auch ohne den Ausruf des sanitären Notstandes wäre die medizinische Versorgung über kurz oder lang zusammengebrochen. Nun kam die Coronakrise. Wie sollten die Kranken versorgt werden? Plötzlich wurde deutlich, daß die Vernachlässigung der Notfallvorsorge ein grober Fehler war. Doch nun war es zu spät. Triage? Nein. Lockdown!

Weil bis heute aus Geldgründen Krankenhäuser ruiniert werden, können jetzt nicht genügend Covid-19-Kranke versorgt werden, und darum haben die Bürger Hausarrest. Damit die verantwortlichen Politiker nicht um Kopf und Kragen fürchten müssen, weil die Bürger in Demonstrationen Vergeltung für ihre toten Angehörigen einfordern- darum haben die Franzosen Hausarrest.

Die “Kurve” soll “flach gehalten” werden. Dadurch soll die Ansteckungsrate so gering wie möglich bleiben, weil sonst deutlich würde, daß die Politik in ihrem Sparwahn zu weit gegangen ist und das Gesundheitswesen kaputtgespart hat. Ansteckungen sind zu vermeiden, frei nach Mario Draghi: “Whatever it takes!”- darum wird das ganze Volk flach gehalten und hat, genau: Hausarrest.

Nun sehen die Statistiken aber gar nicht mal so schlimm aus. Die letzte Grippeepidemie erforderte mehr Tote, hochgerechnet auf vorangegangene Grippeepidemien steht der Beweis der Übersterblichkeit durch Covid-19, auch 5 Wochen nach dem Ausruf des Notstandes noch aus! Die Zahl der Neuinfizierten ist rückläufig. Es besteht ein reines Versorgungsproblem durch die Mangelwirtschaft im Gesundheitsweden, das kann nicht oft genug wiederholt werden.

Es erfolgt jedoch keine Aufklärung der Bevölkerung über die Zahl der Infizierten, die Zahl der Erkrankten, die Zahl der Schwererkrankten, die Zahl der asymptomatischen Träger des Virus. Es bleiben Zweifel, ob die ganz überwiegend alten und vorerkrankten Patienten am Virus sterben, ganz allein am Virus und nur am Virus, oder ob nicht schwere Vorerkrankungen ihr Sargnagel sind. Das Volk bleibt in Panik vor dem Virus. Die Panik wird geschürt. Täglich, nein, stündlich laufen Spots in Radio und Fernsehen. Die Franzosen bleiben dadurch ängstlich und eingeschüchtert und scheinen ihren Hausarrest zu lieben.

Damit die Fehler in der Gesundheitspolitik nicht zu deutlich werden, ist Frankreich im Hausarrest. Rechtsmittel sind ausgeschlossen, es herrscht faktisch Demonstrations- und Versammlungsverbot.

Es ist traurig, die Fallzahlen zu instrumentalisieren, dies lenkt von den Fehlern in der Gesundheits-Sparpolitik ab. Hätte Frankreich eine medizinische Versorgung, die auch in Krisenzeiten funktionsfähig ist, herrschte jetzt kein Mangel und kein Hausarrest.Dann würden die kranken alten Risikopatienten angemessen behandelt werden können, ohne den Rechtsstaat einzuschränken und die Bevölkerung ihrer freiheitlichen Grundrechte zu berauben.

Übrigens hat Italien trotz frühen Lockdowns die Kontrolle über seine sterbenden Alten verloren und deshalb neben dem totalen Hausarrest eine besondere, eine wissenschaftlich-mathematische Triage vorgeschlagen: Nicht, wer die besten Chancen zu überleben hat, wird gegen Covid-19 behandelt, sondern derjenige, der das beste Produkt aus Chance multipliziert mit erwarteteter Restlebenszeit vorweist.

Hier zwei Rechenbeispiele:

-Frau, 20 Jahre alt, statistische Restlebensdauer 62 Jahre, Überlebenschance 20%: 62*0,2= 12,4

-Mann, 78 Jahre alt, statistische Restlebensdauer 2 Jahr, Überlebenschance 90%: 2*0,9= 1,8. Schade, alter Mann, Du wirst leider nicht beatmet!

Schöne neue Welt.


Dr. med. Stefan Naumann hat 18 Jahre Erfahrung als Facharzt für Allgemeinmedizin, Anästhesie und Notfallmedizin in Frankreich 
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