„Natürlich bedauere ich vieles. Wir haben manchmal die Gesundheit über die Menschlichkeit gestellt.“ Das sind starke Worte nach zweieinhalb Jahren Corona-Maßnahmen. Sie stammen von Jean-François Delfraissy. In einem Radio-Interview räumte der Immunologe bereite Ende Juli ein, dass Fehler gemacht worden seien. Einige Bewohner von Altenheimen hätten ihren Lebenswillen verloren und nur noch auf den Tod gewartet, weil sie ihre Angehörigen nicht mehr sehen durften. „Bei den Schulen, bei den älteren Menschen hätten wir uns auf die Meinung der Bürger verlassen können. Aber die Politik wollte es nicht auf nationaler Ebene.“
Erschwerend kommt hinzu: Die letzte Parlamentswahl hat Macrons Herrschaft als Sonnenkönig beendet. Er steht vor einem unkontrollierbaren Parlament, in dem eine informelle Koalition aus konservativen Republikanern, rechtem Rassemblement National und den Linksradikalen von NUPES die Corona-Bestimmungen jederzeit verhindern kann. Dieselbe Konstellation hat dazu geführt, dass es bereits jetzt keine Masken mehr im öffentlichen Nah- oder Fernverkehr gibt. Während in Deutschland die Maskenpflicht an der Straßenecke winkt, hat man sich in Frankreich auf das Ende der Pandemie verständigt.
Macron hat seine Rolle längst gefunden. Statt zum napoleonischen Aufbäumen gegen Corona aufzurufen, ist es nunmehr die Energie- und Wirtschaftskrise, die der Präsident in gewohnter Heldenpose rhetorisch bekämpft. Die Zeiten des Überflusses seien vorbei. Wenn eine Krise die nächste jagt, hat die Politik den Vorteil, sich neuerlich als Krisenbewältiger zu inszenieren, ohne dass man Bilanz bezüglich der letzten ziehen kann. Da sich aber einige Parameter im Nachbarland verändert haben, ist es fraglich, ob die Franzosen ihren angeschlagenen Staatschef so einfach davonkommen lassen.
Sunak sagt, dass es falsch gewesen sei, Wissenschaftlern so viel Macht zu geben und die langfristigen Auswirkungen des Lockdowns auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen nicht zu berücksichtigen. Es sei falsch gewesen, die „unvermeidlichen enormen Verzögerungen bei der Diagnose von Krebs, Herzkrankheiten und Diabetes nicht zu diskutieren; falsch, Schulen zu schließen; und falsch, solche Angst einzuflößen“, sagt der Ex-Schatzkanzler weiter. Sunak sei sogar daran gehindert worden, diese Probleme anzusprechen, und wenn er es getan hätte, wäre er auf eine „Mauer des Schweigens“ gestoßen.
Taylor nahm Susaks Statement zum Anlass, insbesondere die Verfehlungen von Medien und Politik anzusprechen. Diskussionen seien im Keim erstickt worden, weil jeder als Mörder deklariert worden sei, der dem Lockdown und anderen Maßnahmen kritisch gegenüberstand. Ein Abgeordneter hätte den Austausch damit abgewürgt, dass Skeptiker sich für ihre Ansichten – und damit Covid-Tote – verantworten müssten, und damit die Meinungsfreiheit beschnitten. In den sozialen Medien sei der Missbrauch dieser Argumente immens gewesen, indes Massenmedien die Skeptiker als kleine, einflusslose Minderheit abgetan und deklassiert hätten. Taylor geht damit weiter als einst eine dänische Tageszeitung, die sich bei ihren Lesern für die Corona-Berichterstattung entschuldigte: Er gibt denjenigen, die sich angeblich irrten, mit ihrer Ansicht Recht.
Denn auch in Rom rechnet man ab Herbst mit einer Kehrtwende. Sollte Giorgia Meloni Premierministerin werden, lastet auf ihr der Wählerdruck. Der Aufstieg ihrer Fratelli d’Italia ist auch der Opposition Melonis gegen die rigiden Corona-Regeln und dem Kampf gegen eine Impfpflicht geschuldet. Die Wähler werden nach dem 25. September von ihr erwarten, dass sie Italien eine Rückkehr zum Alltag ermöglicht. Wenn nicht, dürfte der Stern der Römerin schneller verglühen, als er aufgestiegen ist. Die Frage, warum das „Belpaese“ trotz härtester Restriktionen und Gängelungen zuletzt mehr Covid-Tote hatte als das liberale Schweden, liegt bereits jetzt in der Luft.
Und in Deutschland? Die Welt konfrontiert Gesundheitsminister Karl Lauterbach am Sonntag mit der Frage, warum im Rest der EU noch keine Corona-Regeln in Kraft seien. Funktioniert das Virus in Deutschland also anders? Lauterbach:
„Nein. Aber anders als viele andere Länder treffen wir in Deutschland bereits im Sommer Vorbereitungen für den Herbst. Wir haben aus der Vergangenheit gelernt: Letztes Jahr hatten wir einen unbeschwerten Sommer, und dann war berechtigterweise die Kritik groß, warum wir uns nicht genügend auf die Unwägbarkeiten des Herbstes vorbereitet hätten. Das darf sich nicht wiederholen.
Ich habe den ganzen Sommer daher an Schutzmaßnahmen gearbeitet. So manches Nachbarland wird im Herbst ähnliche Maßnahmen wie wir jetzt ergreifen. Weder die übrigen EU-Staaten noch wir sind schon durch das Gröbste hindurch.“
Deutschland geht also wieder voran. Mit Vorbildfunktion. Wie so oft. Den Rest kennen wir bereits.