Dieser Satz erregt noch immer eine Menge Aufsehen in Belgien und seinen Zeitungen: „Ich fühle mich dort nicht zu Hause“, sagte der junge Vorsitzende der flämisch-sozialistischen Partei Vooruit („Vorwärts“), Conner Rousseau, in diesen Tagen erneut über die Brüsseler Stadtgemeinde Sint-Jans-Molenbeek. Rousseau kann nichts Schlimmes an seiner Aussage finden, vielmehr werde sie von vielen Flamen geteilt. Zum ersten Mal hatte der Sozialist seine Ansichten im vergangenen April in einem Interview geäußert: „Wenn ich durch Molenbeek fahre, fühle ich mich nicht wie in Belgien“, sagte er da dem flämischen Radio-, Fernseh- und Musikmagazin Humo.
Im April hatte Rousseau behauptet, dass in der belgischen Hauptstadt aufgrund des Lehrermangels sogar Arabisch als Unterrichtssprache zum Einsatz komme, weil die angeworbenen Lehrkräfte manchmal nicht gut genug Französisch sprächen. „Inakzeptabel“ war das für den erst 30 Jahre alten Parteivorsitzenden. Die Bildungsministerin Caroline Désir vom wallonischen PS widersprach umgehend: Das sei eine falsche Behauptung. Doch war sie wirklich ganz aus der Luft gegriffen? Nun legte Rousseau mit dem ehrenamtlichen Übersetzer für Elternabende nach. Aber das gilt angeblich nur für ukrainische und syrische Eltern.
Neu-flämische Allianz: „Diese Jungs fühlen sich unantastbar. Dagegen muss die Justiz vorgehen“
Jetzt war Rousseau in Molenbeek, nicht nur mit dem Auto auf Durchfahrt, sondern beim Ortstermin zu Fuß. Der Vooruit-Schöffe des Viertels hatte Rousseau ob seiner „deplazierten Bemerkung“ eingeladen. Aber der Besuch in dem international bekannten Problemviertel hat den Parteichef nur in seinen Ideen bestärkt: „Der Besuch in Molenbeek hat es bestätigt: ich fühle mich nicht zu Hause.“ Eine „persönliche Attacke“ gegen die Menschen, die dort leben, sei das aber nicht.
Doch hier widerspricht ihm die flämische Justizministerin Zuhal Demir von der liberal-konservativen Neu-Flämischen Allianz (Nieuw-Vlaamse Alliantie, N-VA): „Diese Jugendlichen haben viele Möglichkeiten. Das Problem ist, dass diese Jungs sich unantastbar fühlen. Dagegen muss die Justiz vorgehen.“ Rousseau erwiderte ihr, dass selbst in einem reichen Land wie Belgien der „Geburtsort immer einen großen Unterschied macht“: „Wenn du einen Migrationshintergrund hast, zu Hause nicht Niederländisch sprichst und deine Eltern nie um Hilfe bei einer Hausaufgabe bitten kannst, hast du weniger Möglichkeiten.“
„Soziale Sicherungssysteme besser schützen“
Rousseau macht damit einen großen Schritt auf seine Kritiker zu. So fordert die ehemalige Bürgermeisterin des Viertels, Françoise Schepmans vom liberalen Mouvement réformateur (MR): „Conner Rousseau verschafft sich mit seinem Molenbeek-Bashing billige Werbung. Heute beharrt er undifferenziert auf seinen Äußerungen. Sicherlich gibt es reale Probleme, die gelöst werden müssen, aber Molenbeek braucht Stärke und kein Bashing!“ Aber ist es Bashing, wenn ein Politiker existierende Probleme anspricht?
Rousseau bleibt ein rotes Tuch auch und vor allem für viele seiner Parteigenossen in beiden großen Landesteilen, freut sich aber über die gestiegenen Verkaufszahlen von Humo dank seinen politisch und medial kontroversen Interviews. Humo nahm auch das neue Interview – nach dem Ortstermin in Molenbeek – entgegen. Der Fraktionschef der frankophonen Sozialisten, Ahmed Laaouej, tweetete daraufhin: „Auch wenn man ihn wiederholt: Unsinn bleibt Unsinn. Schande über dich, Conner Rousseau.“ Laaouej benutzte dabei das Wort „connerie“, das an den Vornamen Rousseaus anklingt.
Rousseau sät Zweifel am multikulturellen Dogma
Der Vorsitzende der wallonischen Sozialisten, Paul Magnette, schweigt zu all dem sehr beredt. Auch ihm könnte es um die Verbesserung des sozialistischen Stimmenanteils bei künftigen Wahlen gehen. Das ist auch Rousseaus unverhohlenes Ziel, der ganz offen mit dieser Absicht umgeht. Er will dem Vlaams Belang und anderen wie der Neu-Flämischen Allianz (N-VA), die zuletzt deutlich zulegen konnten und in Umfragen auf zusammen 45 Prozent kommen, Stimmen abluchsen. Zusammen könnten die Nationalisten so die absolute Mehrheit der Sitze in Flandern erringen. Gewählt wird planmäßig 2024.
Mit dem N-VA-Chef Bart De Wever versteht sich Rousseau angeblich gut, nur über manche Aussagen runzle er die Stirn. Das gilt anscheinend nicht für die föderale Finanzpolitik, wo Rousseau Brüssel und den Wallonen Reformen für das flämische Geld abverlangen will. Die Umgestaltung des Königreichs zu einer Konföderation, wie sie de Wevers Partei anstrebt, lehnt Rousseau allerdings als „Science-Fiction“ ab.
So umstritten Rousseaus Äußerungen über die linke Mitte hinaus sein mögen, so zeigt sich der Vorwärts-Sozialist dennoch bemüht, die sozialdemokratische Fortschrittserzählung zu befestigen. Implizit bleibt er dabei, dass jahrzehntelange Massenzuwanderung aus fremden und, genau genommen, antagonistischen Kulturen möglich sei, wenn man nur die richtige Bildungspolitik betreibt. Zugleich säen seine Kommentare aber Zweifel an genau diesem Dogma, das viele Belgier innerlich bereits aufgegeben haben mögen. Und genau das stört einen Teil des belgischen Establishments.