Die gesamte westliche Welt rätselt über diese Fragen. Einige sehen in China eine Macht, die sowohl das Potential, als auch die Ambitionen hätte, in nicht allzu ferne Zukunft die Vormachtstellung der USA in der Welt abzulösen. Andere setzen hingegen auf einen baldigen Zusammenbruch des KPCh-Staates. Wiederum andere meinen, dass China keine hegemonialen Ambitionen hege, sondern nichts anderes als einen „friedlichen Aufstieg“ im Sinn hätte, wie Vertreter des chinesischen Staates sowie seine Sympathisanten oft von sich behaupten und schon zahlreiche westliche Prominenz davon überzeugt haben.
Um Chinas Sicht der Dinge zu erfassen, muss man jedoch die lange Geschichte dieses Landes in Details kennen, sowie die Denkweise der chinesischen Herrschaftsdynastien – mit all ihrer Logik und Unlogik – begreifen. Auch die jetzige KPCh-Führung entkommt letztendlich nicht den Zwängen ihres eigenen Herrschaftssystems sowie des über Jahrtausende gewachsenen chinesischen Selbstverständnisses mitsamt seiner Wege und Irrwege.
I. Sinitische Expansionen und Rückeroberungen
Vor etwa dreitausend Jahren entstand ein Staat in Ostasien, der auch „Reich der Mitte“ genannt wurde: Das Königreich Zhou (die zweite archäologisch nachweisbare chinesische Königsdynastie).
Das Kernland dieses „Reichs der Mitte“, welches direkt dem König unterstand, umfasste damals nur einen Bruchteil der heutigen kernchinesischen Provinzen Shaanxi und Henan.
Heute verfügt China über eine Fläche von 9,6 Millionen km2 und eine Gesamtbevölkerungszahl von über 1,3 Milliarden Menschen. Damit sind ein Großteil der ostasiatischen Landmassen chinesisches Staatsgebiet und die Mehrheit der ostasiatischen Bevölkerung Chinesen, sodass China zweifelsohne zu den größten Nationen dieser Erde zählt.
Der Aufstieg des Reichs der Mitte von einem Königreich in der Zentralchinesischen Ebene zur größten Nation der Erde kann in fortlaufender Sinisierung der eroberten Territorien und Übernahme der Hoheitsgebiete der ursprünglich nicht-chinesischer Dynastien zusammengefasst werden.
II. Sohn des Himmels
Die sinitische Expansion begann mit der Kolonialisierungspolitik des chinesischen Königreichs Zhou. Das Volk Zhou, welches einer der sino-tibetischen Volksgruppen entsprang und sich auf die direkte Abstammungslinie von den mystischen chinesischen Ur-Kaisern berief (Stammesvater Qi, Sohn des Ur-Kaisers Shun), eroberte vor knapp dreitausend Jahren weite Teile der zentralchinesischen Ebene.
In jedem neuen eroberten Gebiet erbauten die Zhou eine Stadt und einen Ahnentempel. Die sinitischen Siedler der Stadt wurden „Staatsmenschen“ (Guoren) genannt und wurden in gewisser Weise „demokratisch“ an der Bestimmung des lokalen Herrschers beteiligt. Die unterworfenen Einheimischen wurden hingegen „Barbarische Menschen“ (Yeren) bezeichnet und durften nicht innerhalb der Stadtmauer wohnen.
Um die Herrschaft in den eroberten Territorien zu festigen, belehnte der König von Zhou die eroberten Gebiete an seine eigenen Verwandten, Getreuen und Stammesbrüder. Insgesamt wurden 71 Fürsten belehnt, davon 53 direkte Angehörige des Königs. All diese von Zhou belehnten sinitischen Feudalstaaten nannten sich „Xia“, da sie sich auf die direkte Abstammung von den sinitischen Urkaiseer beriefen.
Der nördlichste Lehnsherr der Zhou herrschte über das Gebiet um das heutige Peking, welches direkt an der Steppe grenzte. Der südlichste Lehnsherr regierte das Land südlich des Yangtse nahe Schanghai. Die Mehrheit der Bevölkerung dieser von Zhou belehnten Peripherie-Staaten waren nicht-chinesische Einheimische, die Herrscher sowie die Oberschicht waren hingegen Xia. Schrittweise übernahmen die Einheimischen die Gebräuche, Sprache und Sitten der Xia. Nach einem Jahrtausend der Sinisierung wurden aus diesen Staaten Kerngebiete der sinitischen Zivilisation. Aus ihren Bewohnern wurden Vorfahren der ethnischen Chinesen: Die Han.
Der König von Zhou wiederum nannte sich „Sohn des Himmels“. Er war zugleich König, Stammesoberhaupt, Oberpriester des Hauptahnentempels und Vertreter des „Himmels“ auf Erden. Diese unangefochtene Stellung und Oberherrschaft des Königs von Zhou über all seiner Lehnsherren wurde solange aufrechterhalten, bis die Hauptstadt und der Sitz des Hauptahnentempels 771 v. Chr. an ein einfallendes Nomadenvolk verloren ging. Wenngleich Überlebende des Königshauses die Hauptstadt in den sicheren Osten verlegen konnten und die Dynastie unter dem Schutz der Feudalherren noch mehrere Jahrhunderte aufrechterhalten konnten, war die absolute Autorität der Zhou zerbrochen. Fortan konkurrierten die Feudalherren um die Vorherrschaft im Reich der Mitte.
III. Alles unter dem Himmel
Im Jahre 221. v. Chr. unterwarf die Streitmacht des an der Westperipherie gelegenen Königreichs Qin mit brachialer Gewalt die gesamte sinitische Welt. Ying Zheng, König von Qin, stellte alle sechs unterworfenen chinesische Königreiche direkt unter die unmittelbare Reichsverwaltung der Qin und rief sich zum „Huangdi“ aus. „Huang“ und „Di“ waren die beiden verschiedenen Titel der mystischen Ur-Kaiser. Somit erhob sich Ying Zheng zum König aller Könige und Herrscher aller Herrscher. Dies war die Geburtsstunde des chinesischen Kaisertums.
Doch mit der Eroberung der bekannten chinesischen Welt begnügten sich die Qin nicht. Der Kaiser von Qin entsandte Dreihunderttausend Mann in den Norden, welche schließlich dem mächtigen Steppenreich der Xiongnu das fruchtbare Hetao-Gebiet am Mittellauf des Gelben Flusses entreißen konnten.
Sodann schickte der Kaiser eine halbe Million Mann umfassende Expeditionsarmee nach Süden, um das unbekannte Ende der Welt südlich der Nanling-Gebirge zu erobern. Nach zwei verlustreichen Feldzügen drangen die Chinesen bis zum Südchinesischen Meer vor und errichteten an der Mündung zum Südchinesischen Meer die Stadt „Fanyu“ (Wörtlich: „Barbaren-Region“, heute die Provinzhauptstadt Kanton). Etwa fünfhunderttausend Sträflinge wurden daraufhin vom Kaiser in den Süden versetzt, um die eroberten Gebiete südlich der Nanling-Gebirge zu sinisieren.
Zu dieser Zeit war das Reich der Mitte bereits das größte Reich der damaligen Welt. Die nachfolgenden chinesischen Dynastien sollten nach und nach die chinesischen Territorien erweitern, sodass um das Jahr 50 n. Chr. bereits ein Großteil des fruchtbaren Landes in Ostasien zum chinesischen Reichsgebiet gehörte.
Die Chinesen nannten die sinitische Welt „alles unter dem Himmel“. Nach chinesischem Selbstverständnis stand die gesamte zivilisierte Welt unter der Oberherrschaft des chinesischen Kaisers. In der Tat haben die alten Chinesen fast alle nutzbaren Landflächen in Ostasien, aales was sie unterwerfen wollten und konnten, auch unterworfen und sinisiert. Nach Süden drangen die Chinesen bis nach (Süd)Vietnam vor, bis die aus der gemäßigten Zone stammenden chinesischen Truppen nicht weiter in den südostasiatischen Dschungel vordringen konnten. Nach Osten erreichten die Chinesen den Pazifik und annektierten Teile Koreas und der Mandschurei, bis ihre Truppen an den kriegerischen Stämmen aus den Urwäldern der nördlichen Mandschurei und (Süd)Koreas scheiterten. Im Norden konnten die Chinesen die wendigen Reiterheere der Nomadenvölker nie vollständig besiegen und die Steppe nie dauerhaft unter ihre Kontrolle bringen. Zudem waren die alten Chinesen, seit jeher ein Volk der Bauern, kaum an dem Besitz vom rauen und kargen, somit kaum kultivierbaren Steppenland interessiert. Im Südwesten war das tibetische Hochland vom Rest der Welt abgeschirmt, welches für die Chinesen unter den damaligen medizinischen Verhältnissen kaum bewohnbar war. Einzig heftig umkämpft war das fruchtbare Land entlang der Seidenstraße im Nordwesten, welches von den Chinesen „Xiyu“ (West-Territorien) genannt wurde. Die Chinesen führten während der Han- und Tang-Zeit zahlreiche Feldzüge gegen die Steppenvölker, um die West-Territorien dauerhaft unter ihre Herrschaft zu bringen. Nach der Tang-Dynastie verloren die Chinesen schließlich zunehmend das Interesse an den „West-Territorien“, nachdem sich immer mehr Wüsten in großen Teilen dieses Landes ausbreiteten und Steppenvölker sich schließlich diese Region bemächtigten.
Daher zogen sich die chinesischen Herrscher nach den großen Expansionen der Zhou-, Qin-, Han- und Tang-Zeit immer mehr zurück (auch wegen des zunehmenden politischen und ideologischen Einflusses von konfuzianischen Gelehrten, die alles Kriegerische verachteten) und konzentrierten ihre territorialen Ambitionen in erster Linie auf die Vereinigung des chinesischen Kernlandes, welches auch „alles unter dem Himmel“ genannt wurde.
Nach der Reichseinigung unter dem ersten Kaiser war nämlich die Tradition für die nachfolgenden chinesischen Dynastien entstanden, sämtliche Gebiete der Vorgänger-Dynastie – wenn militärisch möglich – zu erobern und alle chinesischen Gebiete dem Reich einzuverleiben. Die Chinesen nannten diesen idealen Zustand einer rechtmäßigen Dynastie:“Dayitong“: Die Große Vereinigung [von alles unter dem Himmel].
IV. Erben der Fremdherrschaft
Ein Sonderfall war die Übernahme der Herrschaftsgebiete der Fremddynastien. Vor dem Einfall der Mongolen in China war das nationalchinesische Reich der Song-Dynastie auf den Süden des heutigen Chinas geschrumpft, da der Norden im 12. Jahrhundert von den Jurchen unterworfen worden war. Unter Kublai Khan, der sich sowohl zum mongolischen Großkhan als auch zum Chinesischen Kaiser ernannte, eroberten die Mongolen die Mandschurei und die Provinz Yunnan im äußersten Südwesten des heutigen Chinas, die zuvor schon mehrere Jahrhunderte nicht mehr unter chinesischer Herrschaft gestanden hatten. Nach der Vertreibung des mongolischen Kaiserhauses aus China annektierten die chinesischen Truppen der neuen chinesischen Ming-Dynastie große Teile der Mandschurei und auch von Yunnan. Es entstand das letzte han-chinesische Kaiserreich „Da Ming“ (Groß Ming), dessen territoriale Fläche die der vorherigen han-chinesischen Einheitsdynastie (Nord-) Song bei weitem übertraf, weil die Ming-Chinesen den Großteil der Staatsgebiete der vorherigen Dynastie – der mongolischen Yuan – bei deren Vernichtung übernommen hatten.
Die Expansionen des Ming-Reiches stellten nach der Wiedervereinigung des chinesischen Kernlandes unter der Kaiserkrone der Ming und dem Ende des Kaisertum der mongolischen Yuan-Dynastie jedoch schnell ein. Anstatt die mongolischen Steppen dem Reich einzuverleiben, schotteten sich die Chinesen gegenüber den Steppenvölkern mit der Großen Mauer ab. Dies endete 1644 mit der Eroberung Chinas durch die Mandschu.
Die Mandschu-Kaiser der Qing-Dynastie unterwarfen nicht nur China, sondern schwangen sich nach dem Sieg über den Ligdan Khan auf den Thron des Mongolischen Großkhans. 1720 stationierten die Qing nach der Vertreibung der Dzungar-Mongolen zudem Truppen in Tibet und errichteten das Amban-System in Tibet, indem hohe Regierungsvertreter (Mandschurisch: meist Mandschu, selten auch Mongolen und Chinesen) des Mandschu-Kaisers aktiv Einfluss auf die tibetische Regierung einnahmen. Überdies annektierten die Qing im Laufe des 18. Jahrhunderts die „West-Territorien“ und benannten sie nach der Niederschlagung der muslimischen Rebellion im 19. Jahrhundert, wodurch sich die Zahl der chinesischen Muslime nahezu halbierte, schließlich in „Provinz Xinjiang“ um. Das gleiche traf auf die taiwanesischen Inseln zu, welche im 17. Jahrhundert zunächst von den letzten Getreuen der han-chinesischen Ming-Dynastie (Königreich Tungning) als Bastion für eine Rückeroberung des chinesischen Festlandes in Besitz genommen und im Jahr 1683 von den Mandschu endgültig unterworfen wurden.
Die nördliche Mandschurei, Tibet, Xinjiang und die Mongolei waren alles traditionell nicht-han-chinesische Gebiete, die während der han-chinesischen Dynastien zumeist nicht unter direkter chinesischer Herrschaft gestanden hatten. Die Zugehörigkeit dieser Regionen zum mandschurischen Kaiserreich der Qing machte sie für die nachfolgenden chinesischen Staaten zum Teil der sinitischen Welt. Wenngleich han-chinesische Revolutionäre sich 1911 zum Ziel gesetzt hatten, achtzehn han-chinesische Provinzen von der Mandschu-Herrschaft zu befreien (was auch die achtzehn Sterne der Revolutionsflagge symbolisieren sollten), erklärte sich die neu gegründete Republik China nach der Abdankung des letzten Mandschu-Kind-Kaisers Puyi im Jahre 1912 rasch zum Rechtsnachfolger der Qing-Dynastie, sodass sie den territorialen Anspruch auf alle Reichsgebiete des Vielvölkerreichs der Mandschu erheben konnte.
Die Volksrepublik China wiederum beerbte nahezu sämtliche territorialen Ansprüche der Republik China vor 1949 (außer des Anspruchs auf die äußere Mongolei, wegen des Bündnisses der VRC zur Sowjetunion). Zu diesen territorialen Ansprüchen gehörten neben den kernchinesischen Provinzen auch Tibet, Xinjiang, die innere Mongolei, Taiwan sowie sämtliche bereits von der Republik China nach dem Sieg im Zweiten Weltkrieg beanspruchten Inseln im Südchinesischen Meer.
Wir sehen also, dass es bei der Volksrepublik China auch in erster Linie darum geht, alle Gebiete, die von der Republik China vor dem kommunistischen Sieg auf dem chinesischen Festland kontrolliert oder beansprucht worden waren, zu beerben und die „sinitische Welt“ unter ihre Herrschaft zu bringen.
Die heutige Volksrepublik China ist weit davon entfernt, die Stellung jener großen chinesischen Dynastien wie die der Han oder Tang einzunehmen, die sie damals in Ostasien innehatten. Nicht nur ist die VR. China in Ostasien von etlichen fortschrittlicheren Wirtschaftsmächten wie Japan und Südkorea umgeben, die zudem auch noch mit der größten Konkurrenz Chinas, den USA, verbündet sind. Auch kulturell orientieren sich die ostasiatischen Nationen längst nicht mehr nach China, sondern eher nach dem Westen. Anders war die Situation im alten China zur Han- und Tang-Zeit. Denn damals war das Kaiserreich China unbestritten die politische, militärische und kulturelle Hegemonialmacht in Ostasien, auf die Chinas Nachbarn nicht nur mit Furcht, sondern auch mit Bewunderung aufschauten.
V. Unvollendete Große Vereinigung
Doch das Ziel der „Großen Vereinigung“ ist für die VR. China noch längst nicht abgeschlossen, wenn auch in absehbarer Zukunft sowohl politisch als auch militärisch kaum realisierbar: Taiwan, offiziell immer noch „Republik China“ genannt, ist seit 1949 de facto von der VR. China unabhängig. Der sogenannte „Taiwan Relations Act“ ermöglicht der US-Regierung, Taiwan regelmäßig mit defensiven Waffen auszurüsten, sodass Taiwan bis heute praktisch unter dem militärischen Schutzschirm der USA steht. Politisch hat sich die Republik China unlängst in eine Demokratie entwickelt. Selbst die nationalchinesische Partei Kuomintang in Taiwan, die zwischen 1928 und 1949 (zumindest norminal) über das chinesische Festland geherrscht hat und bis heute an dem völkerrechtlichen Status einer „Republik China“ festhält, sieht eine Vereinigung mit dem chinesischen Festland höchstens unter der Bedingung eines demokratisierten chinesischen Festlandes und unter der Führung der „Republik China“. Die derzeit in Taiwan regierende Partei DPP strebt gar langfristig nach einer Umbenennung der „Republik China“ in „Republik Taiwan“, die eine völkerrechtliche Lostrennung von China bedeutete, bei der VR. China eine sofortige militärische Intervention angekündigt hatte und ins Gesetz eintragen ließ (das sogenannte Anti-Abspaltungsgesetz von 2005).
Des Weiteren würde China im Falle einer Wiedervereinigung mit Taiwan seinen Einfluss auf Südostasien wesentlich erweitern. Allein der zerstrittene Zustand der Auslandschinesen, die derzeit in ein Pro-Taiwan-Lager und Pro-Peking-Lager gespalten sind, wäre mit einer Wiedervereinigung beendet. Die Auslandschinesen insbesondere in Südostasien fühlen sich traditionell eher an die Republik China gebunden. Schließlich waren sie selbst maßgeblich an der Chinesischen Revolution von 1911 beteiligt und wurden großzügig mit hohen Ämtern in der Parteispitze der Kuomintang und im Staat der Republik China belohnt. Bis vor wenigen Jahren konnte jeder Auslandschinese einen Pass der Republik China beantragen. Demgegenüber fühlen sich vor allem Chinesen, die in den letzten Jahrzehnten aus dem chinesischen Festland frisch ausgewandert waren, der VR. China eng verbunden. Gleichzeitig hat die VR. China, welches noch während der Kulturrevolution Auslandschinesen als Klassenfeinde angesehen hatte, inzwischen seinen Einfluss auf die chinesischen Communities im Ausland stark ausgebaut. Auslandschinesen stellen insbesondere in Südostasien einen bedeutenden Machtfaktor dar, weil sie dort einen Großteil der Wirtschaft kontrollieren. So stellen Chinesischstämmige in Maylasia 27 Prozent der Bevölkerung, sind dort aber für 60 Prozent der Wirtschaftsleistung verantwortlich. Dasselbe Bild zeichnet sich in Thailand und Indonesien ab. Während 10 Prozent der Bevölkerung (chinesischstämmig) 70 Prozent der Wirtschaftsleistung von Thailand erbringen, verantworten in Indonesien 4 Prozent Chinesischstämmige rund 60 Prozent der Wirtschaftsleistung (Zahlen nachzulesen in Fuchs 2007: Die China AG: Zielmärkte und Strategien chinesischer Markenunternehmen in Deutschland und Europa, S. 18). Wer sich daher die Loyalität der Auslandschinesen sichern kann, verfügt über einen maßgeblichen Einfluss auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Eliten in vielen südostasiatischen Tigerstaaten.
Vor diesem Hintergrund spielt Taiwan für die strategische Machtfrage Chinas eine entscheidende Rolle. Um langfristig einen Anschluss Taiwans zu erreichen, verfolgt die VR. China kurz- bis mittelfristig eine Doktrin der politisch-militärischen Entspannung und wirtschaftlichen Annäherung mit Taiwan. Einerseits wird die Abhängigkeit der taiwanesischen Wirtschaft vom chinesischen Festland durch die wirtschaftliche Annäherung schrittweise ausgebaut und forciert, andererseits wird den taiwanesischen Bürgern, die zumeist als Angehörige taiwanesischer Unternehmen nach China ausgewandert waren, weitreichende festlandchinesische Bürgerrechte inklusive Niederlassungserlaubnis eingeräumt. Eine ganze Abteilung der KPCh im Rang eines Ministeriums, welche sich „Einheitsfront“ nennt, beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Gewinnung von Hongkong-Chinesen, Auslandschinesen und Taiwanesen.
VI. Prioritäten der VR. China
In einem vorherigen Artikel habe ich bereits darauf hingewiesen, dass für die derzeitige chinesische Führung der Machterhalt der KPCh oberste Priorität genießt (https://www.tichyseinblick.de/kolumnen/aus-aller-welt/china-und-deutschland-vor-der-herausforderung-trump). Das ist insofern selbsterklärend, wenn man das politische System der VR. China bedenkt, in dem sich alle staatlichen Institutionen der Partei KPCh unterzuordnen haben.
Wenn es eine offizielle Rangfolge der nationalen Interessen Chinas gäbe, dann würde wohl an zweite Stelle die Erlangung der Hoheitsgewalt der VR. China über die aus Sicht der chinesischen Regierung zur sinitischen Welt gehörenden Gebiete stehen. Dazu gehören Taiwan, aber auch sämtliche der bereits von der Republik China beanspruchten Inseln im Süd- und Ostchinesischen Meer. Verschiedene Punkte dieser zwei obersten Ziele wurden 2011 in einem Weißpapier von der chinesischen Regierung als „Chinas Kerninteressen“ zusammengefasst.
Alle anderen nationalen Interessen Chinas werden diesen Kerninteressen hintangestellt, wobei sicher auch das eine Interesse dem anderen vorangestellt wird. So wird der Korea-Frage für die nationale Sicherheit Chinas sicher eine wichtigere Bedeutung zugemessen als dem Konflikt in Syrien.
VII. Trumps Schachzug
Vor diesem Hintergrund der Priorisierung chinesischer Interessen erscheint die bisherige China-Politik des Donald J. Trump in einem neuen Licht. Der Logik der Priorisierung entsprechend würde man dann in einer vorteilhaften Position seine Konkurrenz zur Verhandlung zwingen, wenn man deren Prioritäten kennt und auszunutzen weiß.
Bemerkenswert ist auch der Zeitpunkt, indem die neue US-Administartion China bei der Korea-Frage unter Druck setzt. In diesem Herbst findet nämlich der 19. Nationalkongress der KPCh statt, auf dem das Zentralkomitee der KPCh bestimmt werden sollte. In der darauffolgenden Tagung des neuen Zentralkomitees werden aber auch der Generalsekretär, das Politbüro, das Ständige Komitee des Politbüros und die Zentrale Militärkommission der KPCh bestimmt.
Obgleich Xi Jinping erwartungsgemäß weiterhin Parteichef der KPCh bleiben wird, so bleibt es doch offen, wer von welcher inoffiziellen Fraktion oder Clique der KPCh-Führung einen Posten in jenem höchsten Parteigremium, dem Ständigen Komitee des Politbüros ergattern wird. Ob Xi Jiping im parteiinternen Machtkampf weiterhin die Oberhand behält, hängt auch davon ab, ob er entgegen aller Widerstände seiner politischen Gegner seine Getreuen in jenes Gremium durchbringen wird.
Die sich derzeit abzeichnende Korea-Krise wird jedenfalls zu einer Zäsur für die chinesische Führung um Xi Jinping. Macht Xi dort einen Fehler, so wird sein Ansehen kurz vor dem Parteikongress samt seiner Aussicht, im künftigen Machtkampf gegen seine Konkurrenten zu bestehen, massiv leiden.
Wie wird China reagieren? Wahrscheinlich wird China in Deng Xiaopings Doktrin der Zurückhaltung zurückkehren. Das heißt: keine Konfrontation mit den USA, aber auch keinen Zusammenbruch des nordkoreanischen Staates zulassen (da sonst eine mit den USA verbündete koreanische Großmacht direkt an der chinesischen Grenze entstehen würde). Sollte das zutreffen, so wird die neue außenpolitische Zurückhaltung Chinas solange bestehen, bis der Parteikongress vorbei ist und die Machtverhältnisse in der Parteiführung klarer werden.
Der neue US-Präsident hat offenbar erkannt, wo er seine chinesischen Konkurrenten am empfindlichsten treffen kann und wann.