Spätestens seit der gemeinsamen Erklärung von Russland und China im Vorfeld der Olympischen Spiele im Februar 2022 schienen Russland und China vereint im Kampf gegen den „NATO Expansionismus und westliche Einmischungspolitik“. Die Rollenverteilung war dabei immer klar: Russland, der Bär, in der Rolle des vor allem ökonomischen Juniorpartners, aber dafür mit einer geistigen Verwandtschaft zum Westen, die geprägt war von jahrhundertelanger Koexistenz. China, der Drache, ist ein ökonomischer Gigant und militärisches Schreckgespenst, dessen tatsächliche Macht aber niemand bis heute wirklich einzuschätzen weiß.
Während aber China sich weigerte, den Krieg Russlands öffentlich zu verdammen, war Peking dennoch sehr erpicht darauf, sich nicht als Kriegspartei verwickeln zu lassen. Man pochte wiederholt auf Verhandlungen, übte sich ansonsten in vornehmer Zurückhaltung, wie man es im wiedererstarkten China gerne tut. Während Nato-Länder gefühlt ihren gesamten Fuhrpark in der Ukraine entsorgten, wurde China zwar aufmerksam beäugt, trat aber nie als größerer Waffenlieferant in Erscheinung.
Just am Tag des Ausbruchs der Rebellion von Prigoschin, dem 23. Juni, veröffentlichte die New York Times einen Artikel, in dem sie China Munitionslieferungen an Russland vorwarf. Dass diese aber womöglich nicht in dem Ausmaß stattfanden, wie Russland es sich gewünscht hätte, lässt sich aus den empörten Beschwerden Prigoschins vor dem Putsch ablesen, der just den Mangel an Munition bemängelte und der Armeeführung vorwarf, Soldaten – wohlgemerkt in jahrhundertelanger Tradition russischer Kriegsführung – schlecht ausgerüstet in den Fleischwolf geschickt zu haben.
Ein Putsch, der nur Verlierer kennen wird
Zum jetzigen Zeitpunkt ist der Ausgang des Putsches schwer absehbar. Es wird viel spekuliert, dieselben Argumente werden für unterschiedlichste Ergebnisse herangezogen. Betrachtet man aber die beiden möglichen Resultate, erweisen sich beide als Schritt zur weiteren Eskalation der Lage für die Weltgemeinschaft.
Denn wenn Prigoschin triumphiert und Putin abgesetzt wird, droht nicht nur das Land auseinanderzubrechen, es hätte sich auch ein Hardliner durchgesetzt. Müsste man im Lexikon unter Warlord nachschlagen, fände man ein Bild von Prigoschin. Wie auch schon bei den verfehlten Hoffnungen des Westens auf russische Oppositionelle wie zum Beispiel Nawalny, der teils ultra-nationalistische Positionen vertritt, könnte man letzten Endes auch hier den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Das größte Land der Erde würde destabilisiert, ein Bürgerkrieg in einer Atommacht könnte möglicherweise ausgelöst werden.
Doch selbst wenn Putin an der Macht bliebe, ließe sich nach dem niedergeschlagenen Putsch nicht einfach weiter regieren, als wäre nichts passiert. Putins – in russischen Militärkreisen kritisierte – mangelnde Härte im Kampf in der Ukraine müsste dann zugunsten eines kompromissloseren Kampfes weichen, bei dem noch mehr Menschen – Soldaten, wie auch Zivilisten – ihr Leben lassen müssten. Auch innenpolitisch würde die Gangart dann nochmal verschärft werden. Denn wenngleich ich zurzeit keine Lust auf eine Einreise nach Russland habe, so weiß ich von früheren Besuchen, dass es sich bislang keineswegs um nordkoreanische Verhältnisse oder Vergleichbares handelte. Presse- und Redefreiheit würden nach einem niedergeschlagenen Putsch noch einmal merklich eingeschränkt, die politische Opposition noch viel mehr unterdrückt.
So oder so scheint es unumgänglich, dass der Bär in Zukunft noch gereizter agieren wird. Doch wie steht es um den Drachen?
Ein schlafender Drache mit halb geöffnetem Auge
Der hält sich bislang auffallend zurück. Im Ukraine-Konflikt hat China sich – trotz eingangs erwähnter partnerschaftlicher Beziehungen mit Russland – bewusst auf eine Mittlerposition zurückgezogen und tunlichst vermieden, in irgendeiner Form als aktive Kriegspartei wahrgenommen zu werden.
Wenn aber Prigoschin sich als mehr als nur ein Lüftchen erweisen sollte, Russland ins Wanken gerät und womöglich in einen Bürgerkrieg schlittern sollte, dann ist ein solches Szenario für China nicht zwingend ein Grund, um dies auf Seiten Putins zu verhindern, denn wenn Russland zerfallen sollte, gäbe es manch rohstoffreiche Gebiete in Sibirien, die dann womöglich nicht nur geographisch, sondern bald auch schon politisch näher an Peking als an Moskau liegen könnten. Für China eine Win-win-Situation, für Putin ein bitteres Einsehen, dass Russland, abgesehen von der Nibelungentreue Lukaschenkos, auf wenige wirkliche Verbündete zählen kann.
Doch es kommt noch schlimmer für Putin. Die Nachrichten aus China in den letzten Tagen müssten – gepaart mit der Funkstille angesichts des Putsches – Anlass zur Sorge im Kreml geben. Die Annäherung von Blinken und Xi sowie das Treffen des Präsidenten mit Bill Gates machen zwar noch lange keine US-chinesische Tauwetterperiode, zeigen aber, dass Peking seine Allianzen nicht auf Lebenszeit schließt, wie sie auch gezeigt haben, rhetorisch nicht in den Kulturkampf mit dem Westen einsteigen zu wollen, sondern opportun nach dem eigenen Vorteil zu suchen.
Ein beängstigendes Szenario: Ein zerfallendes Russland, das in einem Bürgerkrieg versinkt, in dem Warlords wie Prigoschin oder auch Kadyrow (der NOCH seine Loyalität bekundet) um die Macht buhlen würden und in dem der rohstoffreiche Osten zumindest in Teilen an China fallen könnte. Was die Nato-Staaten oder die Ukraine tun, ist dabei noch nicht einmal mitgerechnet.
Viele Menschen wünschen sich Putin weg, womöglich auch zurecht, aber die wenigsten bedenken, was danach kommen könnte. Sollte der Tag nach Putin demnächst bevorstehen, werden sich viele noch wundern, wie viel düsterer dieser aussehen könnte, als man es sich je ausmalen hätte können.