Auf der Fähre vom Land zur Insel Hongkong werden kostenlos Getränke angeboten. Kaum einer der jungen Leute greift zum Cola. Fast jeder trinkt den chinesischen Tee im Tetra-Pack. Westliche Symbole haben an Strahlkraft eingebüßt. Auch McDonalds und Kentucky Fried Chicken sind nicht übermäßig besucht. Die Jungen greifen zu chinesischen Spezialitäten, von denen es reichlich gibt. China besinnt sich – auf sich selbst. No Nation, no Border Fraktionisten muss man hier lange suchen. Besonders die jungen, gut ausgebildeten Chinesen sind stolz auf ihre Nation.
Ich spreche die jungen Leute auf die Demonstrationen an. Die Reaktionen sind höchst unterschiedlich. Zwar ist das chinesische Internet offiziell nach außen abgeschottet, aber es ist üblich, über Tunnel-VPNs unbeschränkt im Internet zu surfen. So befinden sich viele Studenten im Sog der westlichen Informationsindustrie. Sie reden von Aufbruch, unter der Hand gar von Sezession von China.
Am Wochenende zum 10. August wurde nun von den Aktivisten ein „Generalstreik“ ausgerufen. Dieser Wortgebrauch wurde von den westlichen Mainstream-Medien kritiklos übernommen. Mit triumphierender Stimme berichteten die Kommentatoren der öffentlichen Medien über einen „Generalstreik“ in Hongkong.
Nun gibt es 2 Möglichkeiten.
- Entweder die Medien wissen tatsächlich nicht, was ein Generalstreik ist.
Oder
- Sie wissen es wohl und gebrauchen das Wort mit Absicht falsch, um in der Bevölkerung eine bestimmte politische Tendenz zu unterstützen.
Beides spricht nicht für die Medien. Aber was ist ein Generalstreik? Es ist ein Streik, in dem von nahezu ALLEN Arbeitnehmern das öffentliche Leben lahmgelegt wird.
Und was passierte in Hongkong? Eine Anzahl von Aktivisten bringt durch eine Blockierung der Knotenpunkte den Verkehr und damit das Arbeitsleben zum Erliegen.
Wenn über Stunden das Schließen der Türen der U- und S-Bahnen mit Regenschirmen und Ähnlichem verhindert wird, bricht der gesamte öffentliche Nahverkehr zusammen und keiner kann mehr zur Arbeit. Eine gewisse Anzahl von Fluglotsen, die sich alle gleichzeitig krankmelden, sorgt dafür, dass ein Flughafen praktisch lahmgelegt wird und hunderte Flüge ausfallen. Ob die Fluggäste damit einverstanden sind? Niemand weiß es.
Im Allgemeinen ist Chinas Bevölkerung politisch wenig interessiert. Es gibt ein unausgesprochenes Abkommen zwischen Bevölkerung und Regierung. Solange diese das wirtschaftliche Auskommen garantiert, ist die Bevölkerung zufrieden.
Es ist ein grundsätzliches Missverständnis der medialen Klasse in Deutschland, die Weltbevölkerung als politisch interessiert zu sehen. Das ist sie nicht! Sie will Wohlstand. Wer diesen schafft oder auch nur verspricht, dem folgt das Volk. Das ist in China so wie überall in der 3. Welt. Allerdings ist China eine leistungs- und erfolgsorientierte Kultur. Das trennt sie wesentlich von den paternalistischen Stammeskulturen Afrikas.
Und der Konfuzianismus unterstützt dies, denn der Erfolg wird in den Dienst der Familie gestellt. Es ist also nicht wie im individualistischen Westen, dass es dem Individuum überlassen ist, ob er Erfolg haben will oder nicht. In China schmückt der Erfolg des Kindes das Ansehen der Familie, bleibt das Kind erfolglos, so fällt das auf die Familie zurück. Das ist ein wesentlicher Unterschied zur westlichen Kultur.
Und hilfsbereit sind die Menschen hier. Weiß man den Weg nicht, nehmen sie sich alle Zeit der Welt, ihn herauszufinden. Auf dem Handy wird im Internet recherchiert, bis man endlich den komfortabelsten Weg zeigen kann. Endlos kann man fragen, ohne auf Unwillen zu stoßen.
Allerdings hat alles seine Grenzen. Mein China-Visum gestattet nur zwei Einreisen. Die zweite war mit der Wiedereinreise aus Hongkong verbraucht. Nach einem Besuch in Macao stecke ich an der chinesischen Passkontrolle fest. Eine dritte Wiedereinreise erlaubt mein Visum nicht. Ich klemme also zwischen Baum und Borke. Nach China darf ich nicht wieder einreisen und in Macao kann ich nicht bleiben. Was tun? Ich werde zu einem obskuren Reisebüro geschickt. Man macht für Unsummen Passfotos von mir, ich muss seitenweise neue Visumanträge ausfüllen, im Internet in meinem E-Mail Account die Bestätigung zu meinem Wiederausflug finden und ausdrucken lassen. Mich anstellen, zu einem neuen Büro gehen, mich wieder anstellen. Und endlich, endlich darf ich wieder nach China einreisen. So legt sich auch der Mehltau der chinesischen Bürokratie über mich. Aber immerhin, ich verrotte nicht im Niemandsland zwischen zwei politischen Zonen. Ich bin der Kratie der Büros entflohen.
Shenzen, das Silicon Valley Chinas
Shenzen ist 20 Kilometer von Hongkong entfernt. Alle chinesischen Hightechfirmen haben hier ihre erste Adresse. Shenzen ist eine ganz moderne, neue Stadt. Sie wurde erst vor 40 Jahren gegründet. Das hat zur Folge, dass man keine Alten sieht. In den Essgassen Shenzens, in denen das unfassbar reichhaltige Essensangebot Chinas zur Schau gestellt wird, sieht man praktisch nur Menschen unter 40.
In Shenzen arbeiten die Leute im 9-9-6 Takt. Das heißt von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends 6 Tage die Woche wird gerödelt. Ein SAP-Consultant verdient ohne Probleme 4.000 Euro im Monat, Immobilien-Makler nicht weniger. Hier siedeln sich die High-Tech Unternehmen an. Ein neues Silicon-China entsteht. Die Wohnungs-Preise haben extreme Höhen erklommen. Wer ein Zimmer mieten will, muss dafür ohne weiteres 1.000€ im Monat hinblättern. Die Immobilienpreise haben sich in den letzten 3 Jahren verdoppelt.
Ist in Hongkong die Meinung über die Studentenproteste noch gespalten, so haben meine Gesprächspartner in Shenzen nichts für die „Unruhestifter“ in Hongkong übrig. Softwarespezialisten wollen arbeiten und vor allem Geld verdienen. Politische Unruhe stört nur.
Die U-Bahn in Shenzen ist nagelneu und lässt an Tempo, Zuverlässigkeit und Frequenz praktisch alle westlichen U-Bahn-Systeme weit hinter sich. Das Schnellbahnsystem zwischen den Städten ist dicht vernetzt. Mit Tempo 200 ist in einer Stunde Guangzhou erreicht, die alte Handelsstadt, Ausgangspunkt der Seidenstraße.
Aber trotz aller Effektivität habe ich Probleme, an den Automaten Fahrkarten zu lösen. Kaum stehe ich aber einigermaßen hilflos vor der Maschine, wendet sich schon ein junger Chinese an mich und fragt, wie er mir helfen kann. Gerne kauft er dann eine Fahrkarte für mich. So erspare ich mir das Hangeln durch kryptische chinesische Zeichensysteme des Fahrkartenautomaten. Er bezahlt mit seinem Smartphone und lädt mich zur Fahrt ein. Das Bezahlen mit Smartphone hat sich in China flächendeckend eingebürgert. Bargeld spielt eine immer geringere Rolle.
Immer wieder muss bei U-Bahn-Ausgängen der Personalausweis kurz vor einen Scanner gehalten werden, damit die Schranke aufgeht. Ich habe natürlich nur einen Reisepass und den auch nicht immer bei mir. Einen U-Bahn-Beamten zu suchen, ist mir zu aufwendig. So springe ich mit einem kühnen Satz über die Schranke oder drücke mich ganz dicht an meinen Vorgeher gepresst als 2ter durch. Da in Asien Körperkontakt nicht als negativ empfunden wird, juckt das niemand, ja manche grinsen mir zu. Die Chinesen sind äußerst pragmatisch: Was geht, das geht, egal wie. Die moralischen Ansprüche werden gerne den Deutschen überlassen.
China geht seinen Weg
Es ist für die Chinesen abstoßend, dass sich eine westliche Ökobourgeoisie als moralischen Mittelpunkt der Welt begreift. Meist sehen chinesische Intellektuelle deutsche Moralisten nur als Streber, die mit ihrem erhobenen Zeigefinger überall sonderbar auffallen und dadurch eine pragmatische Entwicklung des Gesamten stören.
Für die aus chinesischer Sicht unbegreifbaren Politik der illegalen Einwanderung wurde von den Intellektuellen allerdings der Begriff „Baizuo“ (naive, weiße Gutmenschen) geprägt. Er meint eine scheinheilige Arroganz des politisch korrekten Westens, der z. B. aus einem moralischen Überlegenheitsgefühl heraus meint, reaktionäre islamische Werte durch illegale Einwanderung fördern zu müssen und sich dadurch selbst unglaubwürdig macht. Darüber machen sich Intellektuelle lustig.
Aber von der breiten Bevölkerung wird Deutschland geachtet. Entsprechend freundlich und hilfsbereit sind die Einheimischen. Einer Gruppe afrikanischer Studenten wird weit weniger zuvorkommend geholfen, zumal sich diese laut und ungehobelt inszenieren.
Aber in einem gleichen sich alle Chinesen: Wenn es darum geht, einen Platz in der U-Bahn zu ergattern, dann sucht jeder eine Lücke in der Meute vor ihm und er fragt sich, wie er sich wohl am besten nach vorne schlängeln kann.
Mit der gleichen zähen Ausdauer werden hier auch Geschäfte betrieben. Wo ist eine Lücke? Wie kann ich sie für mich nutzen? Wie kann ich den Vorteil der Familie zuschanzen? Wie kann ich mich zäh und unerbittlich nach vorne schieben?
Eines aber bestätigen alle Gesprächspartner in China auch: Die Korruption ist sehr viel weniger geworden, seit Xi Jinping mit dem eisernen Besen auskehrt. Raubkopierte Produkte sind kaum noch zu finden. Beamte zu bestechen, ist inzwischen fast so gefährlich wie in Deutschland.
So geht China seinen Weg – völlig unbeeindruckt von westlichen Belehrungen. Bedenken wegen der digitalen Überwachung der Bürger wird mit Achselzucken begegnet. Chinas Zukunft ist von langer Hand geplant und wird Stück für Stück mit zupackendem Optimismus umgesetzt. Make China great again. Dem Volk ist es recht, zumindest so lange es nach oben geht.
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