Tichys Einblick
Der sozialistische Chavismus hat Vorbilder

Chile: Die kapitalistische Alternative zu Venezuela in Lateinamerika

Chile und Venezuela sind die beiden Gegenmodelle in Lateinamerika. Chile steht für den kapitalistischen Weg, Venezuela für den sozialistischen Weg. Doch auch Chile hatte leidvolle Erfahrungen: Erst mit dem Sozialismus von Allende und später mit der Diktatur von Pinochet.

Chiles Präsident Sebastian Pinera bei der Einweihung einer neuen Metro Linie in Santiago, 22.1.2019

PABLO VERA/AFP/Getty Images)

Ein sozialistisches Experiment in einem südamerikanischen Land hatte die Linke weltweit Anfang der 70er-Jahre in ähnlicher Weise fasziniert wie 28 Jahre später die Wahl von Hugo Chávez. Im September 1970 wurde in Chile der Kandidat der Unidad Popular, Salvador Allende, mit knappen 36,5 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Faszinierend war dies für viele Linke deshalb, weil erstmals ein strammer Marxist durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen war. Marxisten kamen bis dahin üblicherweise durch gewaltsame Revolutionen an die Macht oder wurden von der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt – so wie in der DDR oder Nordkorea.

Der Nährboden für den Erfolg von Allendes Bündnis Unidad Popular war die große soziale Kluft in der oligarchischen chilenischen Gesellschaft. Während die ärmsten zehn Prozent der Chilenen nur einen Anteil von 1,5 Prozent am Volkseinkommen hatten, betrug dieser Anteil bei den reichsten zehn Prozent 40,2 Prozent. Zudem litten die Menschen unter einer hohen Inflation, die im Jahr 1970 bei 36,1 Prozent lag.

Ähnlich wie in Venezuela: Staatssektor massiv ausgedehnt

Die erste Maßnahme des neuen Präsidenten war die Verstaatlichung der Kupferminen, der wichtigsten Einnahmequelle Chiles. Da die Sozialisten der Meinung waren, die von amerikanischen Firmen betriebenen Kupferunternehmen in Chile hätten in der Vergangenheit zu hohe Profite erzielt, bekamen diese nicht nur keine Entschädigung, sondern stattdessen noch nach ihrer Enteignung eine Rechnung präsentiert. Zügig wurden Banken und weitere Unternehmen verstaatlicht. Als Allende 1973 gestürzt wurde, lag der staatliche Anteil an der Industrieproduktion bei 80 Prozent. Die Mieten und die Preise für Grundnahrungsmittel wurden durch den Staat festgesetzt, die Gesundheitsversorgung kostenfrei angeboten.

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Die sozialistische Regierung setzte vor allem auf den staatlichen Sektor. Die Beschäftigung beim Staat und in staatlichen Firmen weitete sich zwischen 1970 und 1973 um 50 bzw. 35 Prozent aus. Die Sozialausgaben stiegen in nur zwei Jahren real um fast 60 Prozent, was zur großen Popularität der Regierung beitrug. Finanziert wurde das alles durch Staatsschulden und eine Ausweitung der Geldmenge, nicht durch gestiegene Steuereinnahmen. Das Haushaltsdefizit wuchs allein 1971 im Vergleich zum Vorjahr von 3,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes auf 9,8 Prozent. Während die öffentlichen Investitionen um über zehn Prozent stiegen, fielen die Investitionen in der Privatwirtschaft 1971 um fast 17 Prozent. Das ist kein Wunder. Private Unternehmer, die befürchten müssen, dass ihr Unternehmen enteignet wird, investieren natürlich nicht mehr. In den Jahren 1970 bis 1973 wurden insgesamt 377 Unternehmen in Chile verstaatlicht.

Die Verstaatlichungen waren wirtschaftlich ein Misserfolg. Fachkräfte und Manager wanderten ab, stattdessen wurden zahlreiche Politaktivisten eingestellt. „In vielen verstaatlichten Betrieben waren darüber hinaus Disziplinlosigkeit und Arbeitsausfälle zu verzeichnen. In Unternehmen, die noch nicht sozialisiert wurden, ergriffen Arbeiter selbst die Initiative und besetzten die Produktionsanlagen.“ Zudem wurden 6,4 Millionen Hektar Land enteignet. Teilweise wurden Kollektive gebildet, wie man sie aus anderen sozialistischen Ländern kennt. Bauern, die in den 60er-Jahren von der Agrarreform profitiert hatten und Eigentümer geworden waren, mussten jetzt als Angestellte des Staates in landwirtschaftlichen Kollektiven arbeiten. In der Zeit von Allendes Herrschaft wurden täglich 5,5 Grundstücke enteignet oder besetzt und jeden zweiten Tag wurde ein Betrieb verstaatlicht oder besetzt. Die Produktionsleistung ging drastisch zurück, bereits 1972 musste Chile den Großteil seiner Exporterlöse für den Import von Lebensmitteln aufwenden.

„Insgesamt war die Wirtschaftspolitik der Unidad Popular ein Misserfolg. Das galt nicht nur für den Agrar- und Industriesektor, sondern insbesondere auch für die Finanzpolitik. Wie ihre Vorgänger wurde die Regierung der Inflation niemals Herr, ja verschärfte sie durch die großzügigen Staatsausgaben zunehmend.“ Es kam zu einer ähnlichen Entwicklung, wie drei Jahrzehnte später in Venezuela. Schon beim Amtsantritt von Allende hatte die Inflation 36 Prozent betragen, und sie stieg bis 1972 auf 605 Prozent.

Wie später im sozialistischen Venezuela kam es in Chile zu zahlreichen Protestaktionen. Während des fast einmonatigen Besuches des kubanischen Revolutionsidols und Staatsführers Fidel Castro in Chile organisierten Chileninnen einen „Marsch der Kochtöpfe“, um gegen die schlechte Versorgungslage zu protestieren. Linke Aktivisten griffen die Demonstranten an. Im Oktober 1972 beteiligte sich eine halbe Million Kleinunternehmer, Bauern und Freiberufler an Protestaktionen gegen die Regierung.

Die Zeit der Militärdiktatur in Chile

Im September 1973 putschte das Militär gegen die sozialistische Regierung. Kurz bevor die Putschisten den Präsidentenpalast stürmten, beging Salvador Allende Selbstmord. General Augusto Pinochet errichtete eine Militärdiktatur. Die Pressefreiheit und andere demokratische Rechte wurden beseitigt, Oppositionelle verhaftet und gefoltert. Während Pinochet in der Innenpolitik also einen extrem autoritären und antiliberalen Kurs verfolgte, war seine Politik im ökonomischen Bereich überwiegend wirtschaftsliberal.

Maßgeblichen Einfluss gewann eine Gruppe von Ökonomen, die man als „Chicago Boys“ bezeichnete. Sie waren inspiriert von dem glühenden Marktwirtschaftler und Nobelpreisträger Milton Friedman, der an der University of Chicago Ökonomie lehrte. Diese Gruppe hatte eine ausführliche, 189 Seiten umfassende Analyse über den Zustand der chilenischen Wirtschaft verfasst und Vorschläge für wirtschaftliche Reformen formuliert. Sie übergaben diese der Militärjunta, die sie zunächst nicht beachtete und ihren eigenen Wirtschaftskurs verfolgte, der jedoch nicht zu einer Besserung der ökonomischen Lage führte. Insbesondere die Inflation war ein riesiges Problem.

Als die wirtschaftlichen Verhältnisse sich nicht besserten, berief Pinochet die „Chicago Boys“ in führende Positionen. Friedman selbst gab an der Katholischen Universität von Chile mehrere Vorlesungen. Manchmal wird er sogar als Berater des Diktators Pinochet bezeichnet; dafür wurde er immer wieder scharf kritisiert. Tatsächlich traf Friedman Pinochet ein einziges Mal für 45 Minuten und schrieb ihm danach einen Brief, in dem er einen Plan zur Bekämpfung der Hyperinflation und wirtschaftliche Liberalisierung empfahl. Ähnliche Ratschläge erteilte er übrigens auch kommunistischen Diktaturen wie der Sowjetunion, China oder Jugoslawien. Während es weltweit eine Kampagne gegen ihn wegen der „Beratung“ Chiles gab, regte sich bezeichnenderweise kein Mensch darüber auf, dass er kommunistische Länder beriet.

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Die Wirtschaftspolitik der von ihm inspirierten „Chicago Boys“, zu denen der chilenische Wirtschafts- und spätere Finanzminister Sergio de Castro gehörte, kommentierte Friedman teilweise sehr positiv, aber nicht unkritisch. So rügte er beispielsweise Castros Entscheidung, die chilenische Währung mit einem festen Wechselkurs an den Dollar zu koppeln. Castro und seine Anhänger begannen mit einem Programm, dessen Kernpunkte der Abbau von Staatsausgaben, eine umfassende Deregulierung des Finanz- und Wirtschaftssystems, die Privatisierung von Staatsunternehmen (allerdings nicht der Kupferindustrie) und die Öffnung des Landes für ausländische Investoren waren. Die Philosophie der Allende-Regierung, die ganz auf den Staat setzte, wurde geradezu in ihr Gegenteil verkehrt: „Der Staat und alles, was mit dem öffentlichen Sektor verbunden war, wurden nunmehr als zentrale Ursache für alle Probleme gesehen. Je weniger der Staat in die Wirtschaft eingriff, desto schneller und höher würde der gesellschaftliche Wohlstand wachsen. Das war der Hintergrund für die zahlreichen Wirtschaftsreformen, die unter der Herrschaft der Militärjunta durchgeführt wurden: Privatisierung und Reprivatisierung, Reform des Staates, Finanzreform, Liberalisierung, Deregulierung, Öffnung der Wirtschaft und Unabhängigkeit der Zentralbank.“

In Allendes Zeit kontrollierte der Staat 400 Unternehmen und Banken; in den 80er-Jahren waren es nur noch 45 Firmen, darunter eine Bank. Überall wurde der Staat zurückgedrängt: Die Preiskontrollen wurden aufgehoben, die Vermögensteuer und die Steuer auf Veräußerungsgewinne abgeschafft, die Ertragssteuern gesenkt. Ein Großteil der Steuereinnahmen kam jetzt aus der Mehrwertsteuer, die für alle Güter und Dienstleistungen 20 Prozent betrug. Wieder trat das „Wunder“ ein, das wir schon bei Margaret Thatcher und Ronald Reagan gesehen haben: Die Senkung der Steuertarife führte nicht zu sinkenden, sondern zu steigenden Steuereinnahmen, die von 22 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in den Jahren 1973/74 auf 27 Prozent in den Jahren 1975 bis 1977 wuchsen. Und statt des chronischen Haushaltsdefizits gab es in den Jahren 1979 bis 1981 sogar einen Überschuss der Einnahmen über den Ausgaben des Staates.

Vergleicht man die Jahre 1973 und 1981, dann wird der Erfolg dieser Politik deutlich. Die Inflation, die 1973 bei über 600 Prozent lag, war nur langsam zurückgegangen, betrug aber 1981 lediglich noch 9,5 Prozent. Das Wirtschaftswachstum, das 1973 mit -4,3 Prozent negativ war, betrug 1981 5,5 Prozent. Die Exporte stiegen von 1,3 Milliarden Dollar (1973) auf 3,8 Milliarden Dollar im Jahr 1981. Bemerkenswerter war noch, dass die nicht-traditionellen Exporte, also solche, die nicht Kupfer und andere Rohstoffe betrafen, von 104 Millionen Dollar im Jahr 1973 auf 1,4 Milliarden im Jahr 1981 hochschnellten. Und die Reallöhne, die 1973 um mehr als 25 Prozent gesunken waren, stiegen 1981 um neun Prozent. Langfristig war die Wirtschaftspolitik der „Chicago Boys“ entscheidend für Chile, und die heutige gute wirtschaftliche Verfassung des Landes wäre ohne diese Weichenstellungen nicht denkbar. Kurzfristig war das Ergebnis ihrer Maßnahmen jedoch widersprüchlich: Wie auch bei den Reformen Thatchers und Reagans kam es zunächst zu einem Anstieg der Arbeitslosenzahl. Doch schon wenig später stellten sich sehr positive Effekte ein.

Chile gewann das Vertrauen ausländischer Investoren, die Exporte stiegen an, die Defizite im Staatshaushalt wurden gesenkt. Insgesamt erzielte die chilenische Wirtschaft innerhalb von vier Jahren ein Wachstum von 32 Prozent. Die internationale Finanzwelt und Wirtschaftspresse feierten Chile als neues Wirtschaftswunderland. Der Massenkonsum nahm zu und spiegelte den Anstieg des Lebensstandards vieler Chilenen. So kletterte beispielsweise die Zahl der zugelassenen Automobile zwischen 1976 und 1981 rasant in die Höhe.

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Anfang der 80er-Jahre kam es in ganz Lateinamerika zu einer großen Schuldenkrise. 1982 teilte Mexiko mit, dass es seinen Schuldendienst einstelle und erklärte den teilweisen Staatsbankrott. Als 1982 der Kapitalzufluss auch nach Chile zurückging, rutschte die Wirtschaft, so wie in anderen lateinamerikanischen Staaten, in eine Rezession. Die Jahre 1982/83 waren die schlimmste Rezession, die Chile seit den 30er-Jahren erlebte, das Bruttoinlandsprodukt sank um 15 Prozent, die tatsächliche Arbeitslosigkeit stieg auf 30 Prozent. Über die Ursachen für die dramatische Krise in den Jahren 1982 bis 1983 wird bis heute diskutiert. Neben den externen Gründen, die auch andere lateinamerikanische Staaten betrafen, waren Fehler der Regierung eine Ursache. Chile gelang es allerdings, diese heftige Krise rascher als andere lateinamerikanische Länder zu überwinden: „Chile führte den Kontinent an auf dem Weg aus dieser Rezession. Es war das einzige von der Schuldenkrise betroffene Land, dass das Niveau des Bruttoinlandsproduktes vor dem Ende der 80er-Jahre wieder erreichte, während für die meisten anderen Länder die ganze Dekade als das ‚verlorene Jahrzehnt’ galt.“

Nachdem die Krise überwunden war, setzte die Regierung die Reformen fort. Es gab eine zweite große Privatisierungswelle, bei der die Staatsführung aus den Fehlern der ersten Privatisierungen gelernt hatte. Während in der ersten Privatisierungswelle die meisten Unternehmen mit hohen Krediten gekauft wurden, was später zu Problemen wegen des hohen Schuldenstandes führte, wurden jetzt viele Unternehmen an die Börse gebracht, so dass sie über ein hohes Eigenkapital verfügten. 1986 begann die Privatisierung aller großen Unternehmen – mit Ausnahme der staatlichen Kupfergesellschaft GMC. Insgesamt wurden Staatsunternehmen mit einem Wert von 3,6 Milliarden Dollar privatisiert.

Die Zeit nach Pinochet: Marktwirtschaft und Demokratie

Politisch wandelte sich das System in Chile, nachdem Pinochet 1988 einen Volksentscheid zur Verlängerung seiner Amtszeit verlor. Bei den Präsidentschaftswahlen 1989 gewann ein demokratisches Wahlbündnis, und von 1990 bis 1994 regierte der Christdemokrat Patricio Aylwin Azócar. Milton Friedman wertete den Übergang von der Diktatur zur Demokratie als Erfolg der wirtschaftlichen Liberalisierung, die die politische Liberalisierung nach sich gezogen habe: „Der chilenischen Wirtschaft ging es sehr gut, aber wichtiger war, dass letztlich die Militärjunta durch eine demokratische Gesellschaft abgelöst wurde. Das wirklich Wichtige an der Sache war, dass die Marktwirtschaft in Chile eine freie Gesellschaft hervorgebracht hat.“ Auch wenn nicht zu bestreiten ist, dass die Liberalisierung der Wirtschaft einen Beitrag zur Stärkung der Zivilgesellschaft leistete und damit eine der Mitursachen für das Ende der Diktatur war, so scheint es doch eine Übertreibung, wenn Friedman den Sieg der Demokratie als direkte und zwingende Folge der wirtschaftlichen Reformen betrachtet. In anderen Ländern – wie etwa in China – folgte zumindest bisher aus der wirtschaftlichen Liberalisierung keine Demokratisierung, so dass es zweifelhaft ist, einen zwingenden Zusammenhang zu postulieren.

Gleichwohl ist der nachhaltige Erfolg der liberalen Wirtschaftsreformen der „Chicago Boys“ nicht zu bestreiten. Sie legten das langfristige Fundament für den heutigen Erfolg Chiles. Wenn der südamerikanische Staat heute zu den wirtschaftlich freiesten Länder der Welt zählt, dann ist das eine Folge der damaligen Reformen, die zwar von nachfolgenden Regierungen sozialpolitisch korrigiert, aber im Grundlegenden nicht in Frage gestellt wurden. Auch in der Zeit der Präsidentschaft der beiden Sozialisten Ricardo Lagos Escobar (2000 – 2006) und Michelle Bachelet (2006 – 2010 und wieder seit 2014) blieb Chile ein marktwirtschaftlich ausgerichtetes Land. Im Jahr 2010 wurde es sogar als erstes südamerikanisches Land in die OECD (Organization for Economic Co-operation and Development) aufgenommen, was ein klares Signal dafür ist, dass Chile, anders als die meisten Staaten der Region, zu den entwickelten Ländern der „ersten Welt“ gehört. Das ist umso bemerkenswerter, als Chile vor den marktwirtschaftlichen Reformen eine der am stärksten protektionistischen Volkswirtschaften der Welt war.

Es ist eines der stärksten Argumente für die Reformen der „Chicago Boys“ in der Pinochet-Zeit, dass weder die in den 90er-Jahren regierenden Christdemokraten noch die später regierenden Sozialisten die grundsätzlich marktwirtschaftliche Ausrichtung in Frage stellten. Im fünften Kapitel haben wir gesehen, dass dies auch in Großbritannien nach den marktwirtschaftlichen Reformen von Thatcher und in den USA nach den Reformen von Reagan nicht anders war: Auch der Sozialdemokrat Tony Blair und der Demokrat Bill Clinton hielten an ihnen fest.

Die Zahlen sprechen für sich

Kritiker der Reformen der „Chicago Boys“ führten an, dass mit dem unzweifelhaften ökonomischen Erfolg eine zunehmende soziale Ungleichheit einherging. Der ehemalige Wirtschafts- und Finanzminister de Castro erwiderte auf diese Kritik: „Die Säuglingssterblichkeit beispielsweise lag 1970 noch bei 80 von 1.000 Kindern. Bis 1990, also gegen Ende der Militärjunta, war sie auf 20 von 1.000 gesunken. Das war ein Ergebnis der wirtschaftlichen Gesundung, die es der Regierung erlaubte, mehr Geld für die Armen auszugeben.“

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Andere Wirtschafts- und Sozialindikatoren zeigen jedoch in der Tat eine große Ungleichheit, die bis heute Chiles Gesellschaft prägt. So ist laut dem sogenannten Gini-Index, der die Abweichung der Verteilung des Einkommens in einer Volkswirtschaft misst, Chile eines der 20 ungleichsten Länder der Welt. Doch die Mehrheit der Chilenen schätzt offenbar den wirtschaftlichen Fortschritt für dieses lateinamerikanische Musterland höher als die von Kritikern bemängelte „soziale Ungerechtigkeit“. Darum hielten sogar die sozialistischen Regierungen im Grundsatz an dem marktwirtschaftlichen Kurs fest, und im Jahr 2010 – nach einem Jahrzehnt mit sozialistischen Präsidenten – wählten die Chilenen mit Sebastián Pinera einen strikten Marktwirtschaftler zum Präsidenten. Er hatte der Regierung Pinochets nahegestanden und sein Bruder damals das privatisierte Sozialversicherungssystem eingeführt. „Der Sieg von Sebastián Pinera“, schrieb denn auch das „Handelsblatt“ nach seiner Wahl, „könnte signalisieren, dass wieder eine Art Vollblutkapitalismus Einzug in Lateinamerika hält.“ Allerdings scheint auch dieser Weg kurvenreich, denn 2014 wurde die bereits erwähnte Sozialistin Michele Bachelet zum zweiten Mal ins Präsidentenamt gewählt.

Die „Zeit“ veröffentlichte Ende Juni 2017 einen Beitrag unter der Überschrift „Endstation Reichtum“, in dem es einerseits kritisch hieß: „Hier regiert der Kapitalismus stärker als anderswo – mit allen Konsequenzen für den sozialen Zusammenhalt und die Schwächeren in der Gesellschaft. Kannst du nicht mithalten, gehörst du nicht dazu: Das ist ein kulturelles Erbe der Militärdiktatur Augusto Pinochets, die von 1973 bis 1990 das schmale Land in Randlage Südamerikas bestimmte. Pinochet ist lange tot, aber seine Chicago Boys leben weiter […] Bis heute setzen auch die demokratischen Nachfolgeregierungen dem Markt nur sehr wenige Regeln.“

Andererseits erkennt aber auch die kritische „Zeit“ an: „Die Arbeitslosigkeit ist mit sechs Prozent ähnlich niedrig wie in Deutschland, die Inflation ebenfalls nicht der Rede wert. Chiles Staatsanleihen sind gut bewertet. Im Vergleich mit dem als chaotisch geltenden Umfeld in Lateinamerika gelten die Chilenen als verlässliche Geschäftspartner. Die Infrastruktur funktioniert, es wird gebaut und investiert, Nah- und Fernverkehr fließen. In den vergangenen Jahren ist der Lebensstandard gestiegen, auch für die Armen.“

In der Tat: Das Pro-Kopf-Einkommen der knapp 18 Millionen Chilenen ist fast doppelt hoch wie das der Brasilianer. Und der Anteil der armen Bevölkerung nahm bereits zwischen 2003 und 2014 von 20 Prozent auf sieben Prozent ab. Im gleichen Zeitraum sind die Einkommen der 40 Prozent ärmsten Chilenen stärker gestiegen als die Durchschnittseinkommen. Chile ist 2017 die Nummer eins in Lateinamerika auf der Rangliste des Weltwirtschaftsforums der wettbewerbsstärksten Länder der Welt. Sein Banksystem ist das solideste der Region. Die Unternehmen finden dort eine der besten Standortbedingungen weltweit. Es ist das offenste Land in Lateinamerika und unterhält Freihandelsabkommen mit Staaten, die zusammen 75 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung erbringen. In den vergangenen dreißig Jahren hat Chiles Wirtschaft um etwa fünf Prozent im Jahr zugelegt.

In den Jahren 1990 bis 2005 zählte das chilenische Wirtschaftswachstum zu den stärksten der Welt und lag im internationalen Vergleich ungefähr gleichauf mit Südkorea, während es das der anderen lateinamerikanischen Länder bei weitem übertraf. Niedrige Unternehmenssteuern sowie die Deregulierung der Kapitalmärkte schufen Investitionsanreize. Hinzu kam die konsequente Privatisierung der Infrastruktur, von Verkehrsbetrieben und –einrichtungen über Krankenhäuser, Gefängnisse, Telekommunikation bis hin zur Trink- und Abwasserversorgung.
Andererseits ist die Wirtschaft Chiles nach wie vor sehr stark vom Kupfer abhängig. Das Land verfügt über die größten Kupfervorkommen der Welt und hat etwa einen Drittel Anteil an der Weltproduktion. Der Kupferpreis war von einem Tief von 1.438 Dollar (pro Tonne) im Jahr 1998 bis auf ein Hoch von 8.982 Dollar im Jahr 2008 gestiegen, allerdings fiel er im gleichen Jahr bis auf 2.767 Dollar. Im Jahr darauf legte der Kupferpreis um über 150 Prozent zu, und in den folgenden Jahren gab es ein Auf und Ab mit extremen Schwankungen.

Dass dies in einem Land, das in so hohem Maße von Kupfer abhängt, zu Problemen führt, liegt auf der Hand. Doch erinnern wir uns an Venezuela, wo der starke Anstieg des Ölpreises der Auslöser für den Boom war und es Hugo Chávez ermöglichte, mit vollen Händen soziale Wohltaten zu verteilen. Der Rückgang des Ölpreises wurde dann als Grund für die dramatischen wirtschaftlichen Probleme Venezuelas angeführt. Doch dies ist, wie der Vergleich zu Chile zeigt, allenfalls die halbe Wahrheit. Tödlich für Venezuela war die Kombination einer sozialistischen Staatswirtschaft mit der hohen Abhängigkeit vom Öl. Chile hat, als marktwirtschaftlicher Gegenentwurf zu Venezuela, den Rückgang und die starken Schwankungen beim Kupferpreis weitaus besser verkraftet.

Richtungswechsel überall?
Lateinamerika ist nicht mehr links
Das Beispiel Chiles zeigt nicht nur die Überlegenheit eines kapitalistischen gegenüber einem sozialistischen Wirtschaftssystem, sondern bringt noch eine andere Erkenntnis: Es ist sehr schwierig, den Kapitalismus sozusagen in einer „Schocktherapie“ von einem Tag auf den anderen einzuführen, wie das die „Chicago Boys“ in den 70er-Jahren versuchten. Dies ist der entscheidende Unterschied zwischen dem von Intellektuellen konzipierten sozialistischen Wirtschaftssystem und dem Kapitalismus. Der Kapitalismus ist eben, anders als der Sozialismus, kein „erdachtes“ System, das man von einem Tag auf den anderen Tag einführen kann – auch nicht in einer Diktatur.

Der Kapitalismus ist eine gewachsene, spontane Ordnung. Wir haben im ersten Kapitel über den chinesischen Weg vom Sozialismus zum Kapitalismus gesehen, dass er dort nicht von heute auf morgen per Verordnung eingeführt wurde, sondern über Jahrzehnte wuchs, wobei der spontane Prozess „von unten“ ebenso wichtig war wie die Ermöglichung dieses Prozesses durch Politiker wie Deng Xiaoping. So bildeten die Reformen der „Chicago Boys“ in Chile zwar den Ausgangspunkt und waren eine wichtige Weichenstellung, aber erst in den folgenden Jahrzehnten bildete sich eine erfolgreiche kapitalistische Wirtschaftsordnung in dem lateinamerikanischen Land heraus.

Dieser Beitrag basiert auf dem Buch von Dr. Dr. Rainer Zitelmann: „Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung“

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