Tichys Einblick
Aus Groll gegen Israel

Chefankläger Khan will Netanjahu und drei Hamas-Führer verhaften lassen: Probleme eines Antrags

Sechs Monate hat Chefankläger Karim Khan gewartet. Nun zog er die Karte Haftantrag und vereinte Hamas-Führer und den israelischen Premier in einem Rechtsdokument. Das wird international als Skandal gesehen, aber auch von einigen begrüßt, die sich im gleichen Abstand zu Terroristen und Israel gefallen.

International Criminal Court's Chief prosecutor Karim Khan requested arrest warrants for Netanyahu and Defense Minister Yoav Gallant, Den Haag, 21. Mai 2024

picture alliance / newscom | International Criminal Court (ICC)/UPI

Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag, Karim Ahmad Khan, hat Haftbefehle gegen Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joaw Galant und gleichzeitig gegen drei Anführer der Terrororganisation Hamas beantragt. Das teilte der IStGH am Montag in einer Pressemitteilung und einem Video mit – einem Video, das von Ferne an die gruseligen Auftritte eines Big Brother in „1984“ erinnert.

Aufsehen und Kritik erregten vor allem die Haftanträge gegen Netanjahu und Galant sowie die Symmetrie der Anordnung. Konnte man wirklich eine international als solche anerkannte Terrorgruppe mit dem fast einzigen demokratischen Staat im Nahen Osten gleichsetzen? Der Internationale Gerichtshof tat es, indem er fünf Haftanträge in einem Dokument verkündete.

Die Hamas beging ihre Mordtaten am 7. Oktober und in den folgenden Tagen, hält immer noch Geiseln unter unwürdigen Umständen fest. Aber die Kritik am israelischen Vorgehen im Gazastreifen wuchs erst im Laufe der letzten Monate an. Der Vorwurf des Genozids wurde laut, obwohl selbst die von der Hamas herausgegebenen (vermutlich übertriebenen oder verzerrten) Opferzahlen das nicht hergaben.

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Beachtlich ist in der Tat, dass der Internationale Strafgerichtshof bis zum gestrigen Tage gewartet hat, um die Strafwürdigkeit der Taten der Hamas anzuerkennen. Dabei waren die Verbrechen schon viel länger bekannt. Die Hamas-Kämpfer selbst hatten sie teils auf Video dokumentiert. Aus der Verzögerung der drei Haftanträge kann man daher nur schließen, dass die Parallele mit der israelischen Führung beabsichtigt ist und der Eindruck erweckt werden soll, dass man beiden Seiten gleich gewogen (oder gleich ungewogen) ist.

Oder war Khan unter so großen Druck geraten, einen Haftbefehl gegen Netanjahu zu beantragen, dass er zum Notbehelf griff und die drei Hamas-Führer mit zur Haft ausschrieb? In jedem Fall ist der eigentliche Anlass dieser Haftanträge der Wille, Israel an den politischen Pranger zu stellen. Und das Erstaunlichste am aktuellen Geschehen könnte sein, dass das Weiße Haus Netanjahu angesichts dieser Absicht noch nicht vollkommen preisgibt. Überaus kurios und eigentlich verräterisch ist daneben, dass Khan ab der Überschrift von einem „Staat Palästina“ spricht, obwohl es einen solchen Staat ja eben nicht gibt. Ist das die Rechtswelt platonischer Ideen, die in Khans Kopf herumschwirren? Es scheint, dass Khan hier zumindest ein kleines bisschen Politik betreibt und uns reinen Wein über seine Absichten einschenkt.

Netanjahu: Eine Gleichsetzung wie von Roosevelt und Hitler

Netanjahu selbst wies die beiden Haftanträge gegen ihn und Verteidigungsminister Galant „mit Abscheu“ von sich. Die „moralische Gleichsetzung“, die Chefankläger Khan zwischen Israel und der Hamas etabliert, entspräche auf andere historische Situationen übertragen einer Gleichsetzung von Präsident Bush mit Osama bin Laden (nach dem 11. September), oder von Franklin D. Roosevelt mit Hitler. Ganz praktisch betrachtet, werde Israel das Recht auf Selbstverteidigung (gegen einen terroristischen Angriff) verweigert. Staatspräsident Isaac Herzog schrieb: „Diese einseitige Geste ist eine politische Maßnahme, die Terroristen in der ganzen Welt ermutigt und gegen alle grundlegenden Regeln des Gerichtshofs verstößt.“

US-Präsident Joe Biden hat zumindest die eine Anschuldigung umgehend zurückgewiesen: Israel begehe keinen Völkermord. Es gebe keine Gleichwertigkeit zwischen Israel und der Hamas. Die USA sind dem Internationalen Gerichtshof nicht beigetreten. Einstimmig war die Zurückweisung des Chefankläger-Antrags aus Israel. Benny Gantz, einer von drei Mitgliedern im Kriegskabinett Netanjahus, hat die Haftanträge gegen seine Kabinettskollegen Netanjahu und Galant als „Verbrechen von historischem Ausmaß“ bezeichnet – begangen allerdings von den Anklägern des Internationalen Gerichtshofes. Dabei übt auch Gantz aktuell Kritik an Netanjahu, weil dem Premier ein Plan zur Befriedung von Gaza fehle. Der Haftantrag gegen Netanjahu sei aber eine „tiefe Verzerrung der Gerechtigkeit“.

Israel kämpfe „mit einem der strengsten ethischen Kodizes der Geschichte“, respektiere das Völkerrecht und sei stolz auf ein unabhängiges und starkes Justizsystem. Da sei keine Parallele möglich zu „den Anführern einer blutrünstigen Terrorgruppe“. Sogar für Oppositionsführer Jair Lapid, der Netanjahu durch fast nichts nahesteht, ist es ein „totales moralisches Versagen“.

Auch die Hamas protestierte selbstredend gegen die Entscheidung, wie auch das ZDF gebührend hervorhob. Dort heißt es in schon altbekannter Neutralität: „Haftbefehl-Anträge empören Israel und Hamas“.

Screenprint ZDF

Zur Haft ausgeschrieben sind drei Hamas-Anführer, nämlich: Yahya Sinwar, Hamas-Chef im Gazastreifen, der irgendwo im Tunnelsystem des Streifens vermutet wird; dann Mohammed Diab Ibrahim Al-Masri, genannt Mohammed Deif und aktueller Chefkommandant der Qassam-Brigaden, des militärischen Flügels der Hamas, dessen Aufenthaltsort ebenfalls in Gaza vermutet wird; und schließlich Ismail Haniyya, Gesamtchef der Organisation im Hamas-Politbüro mit Wohnungen in Katar und der Türkei.

Chefankläger Khan war an den Schauplätzen des Terrors

Die Vorwürfe gegen die drei Hamas-Anführer umfassen:

Die Verbrechen zerfallen in zwei Gruppen: Taten, die die Hamas beim Überfall auf die Umgebung des Gazastreifens beging und solche, die sie in der Gefangenschaft an den Geiseln beging. Kurz nach der Geiselnahme sollen die drei Hamas-Vertreter die Geiseln auch persönlich aufgesucht haben. Das nehmen die Ankläger als Hinweis auf ihre Verantwortung für die Entführung. Die drei Hamas-Anführer haben demnach die ab dem 7. Oktober begangenen Verbrechen geplant, die ohne ihr Zutun nicht stattgefunden hätten.

Chefankläger Khan berichtet von seinen eigenen Reisen in die Kibbuzim Be’eri und Kfar Aza und zu dem Ort, an dem das Supernova Musikfestival stattfand, wo er nicht nur „furchtbare Schauplätze“ dieser Verbrechen inspizieren konnte, sondern auch von den „tiefgreifenden Auswirkungen der skrupellosen Verbrechen“ erfuhr, etwa indem er mit Überlebenden sprach. Es fehlen gleichwohl die eventuellen Verbrechen der Hamas gegen die Palästinenser, die als menschliche Schutzschilde eingesetzt werden und denen eventuell auch Hilfsgüter durch die Hamas-Führung entzogen wurden.

Paris setzt Israel auf die Anklagebank, Berlin nivelliert

Aufschlussreich sind die Kommentare verschiedener europäischer Staats- und Regierungschefs, die sich nicht ganz einig werden. Eindeutige Unterstützung kommt aus Paris: Das Außenministerium gab bekannt, man habe „seit vielen Monaten auf die Notwendigkeit der strikten Einhaltung des humanitären Völkerrechts und insbesondere auf die nicht hinnehmbare Höhe der zivilen Verluste im Gazastreifen und den unzureichenden Zugang für humanitäre Hilfe hingewiesen“. Frankreich unterstütze den „Kampf gegen die Straflosigkeit“ in allen Situationen. Am Quai d’Orsay setzt man Israel schon auf die Anklagebank.

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Internationaler Strafgerichtshof (ICC) beantragt Haftbefehl gegen Netanyahu
Dagegen fand Rishi Sunak in London den Haftantrag gegen Netanjahu nicht hilfreich. Die Aktion trage „nicht dazu bei, eine Pause in den Kämpfen zu erreichen, Geiseln zu befreien oder humanitäre Hilfe zu leisten und Fortschritte auf dem Weg zu einem nachhaltigen Waffenstillstand zu erzielen, den wir anstreben“. Der österreichische Kanzler Karl Nehammer fand es unverständlich, dass der Anführer einer Terrororganisation, die Israel auslöschen will, und der demokratisch gewählte Vertreter eben dieses Staates praktisch in einem Satz genannt wurden.

Das Auswärtige Amt in Berlin stellt nivellierend fest, „durch die gleichzeitige Beantragung der Haftbefehle“ sei „der unzutreffende Eindruck einer Gleichsetzung entstanden“. Die werde aber von der Anklageschrift nicht unterstützt: Das Gericht werde „nun sehr unterschiedliche Sachverhalte zu bewerten haben, die der Chefankläger in seinem Antrag ausführlich dargestellt hat“. Dieses Statement wird schon fast allgemein als duckmäuserischer Drahtseilakt angesehen. Kritisiert wird nur ein „unzutreffender Eindruck“, der sich der unglücklichen Zusammenballung der fünf Haftanträge verdankt. Reines Ungeschick des Chefanklägers, könnte man meinen. Berlin sitzt daneben einmal mehr zwischen Washington und London auf der einen Seite und Paris auf der anderen. Aber im Grunde ist Paris mit seiner Haltung ziemlich isoliert in der westlichen Welt.

Welche Belege findet man in einem von „Paliwood“ dominierten Krieg?

Das Sündenregister der israelischen Staatsführung soll laut Khans Antrag kaum kürzer als das der Hamas-Führer sein. Hier finden sich die Einträge:

Auch hier wollen die Ankläger konkrete Belege gefunden haben. Quasi erschwerend kommt hier hinzu: Die begangenen Verbrechen werden laut Einschätzung der Ankläger bis heute begangen, während das auf die Taten der Hamas nur zum Teil zutrifft. Aber das liegt in der Natur der Sache. Die Hamas-Führung führte einen kurzfristigen Ausfall ohne Anspruch auf Dauerhaftigkeit aus. Israel versucht, ein Ziel mit einiger Dauer zu erreichen: einen Gazastreifen ohne Hamas.

Es bleibt die Frage, welche unabhängigen Belege es etwa für die vorsätzlichen Angriffe auf die Zivilbevölkerung, die vorsätzlichen Tötungen und die Absicht der „Ausrottung“ geben kann? Im Krieg ist meist alles Partei. Fakten bleiben nebelhaft, gerade in diesem Konflikt, in dem „Paliwood“ mit der Inszenierung ziviler Opfer blühte. Aber auf solche plumpen Fälschungen werden die Ankläger ja nicht hereingefallen sein. Israel jedenfalls rief jeweils zur Evakuierung auf, bevor es seine Operationen startete.

„Aushungern“ – doch in Gaza weist man Hilfslieferungen zurück

Was den zentralen Vorwurf des Aushungerns angeht, gibt es neuere Berichte, die ganz anderes nahelegen: Der Gazastreifen scheint laut ZDF-Bericht keinen Hunger zu leiden. Vielmehr können es sich die Einwohner leisten, amerikanische Hilfsgüter zurückzuweisen. Sie sind sehr ordentlich gekleidet und wirken normal ernährt. Zudem bleibt offen, warum Khan nicht bemerkt, dass einer der seit Oktober geschlossenen Grenzübergänge – der von Rafah – nicht nach Israel führt, sondern nach Ägypten. Wie hat Israel es vermocht, auch diesen Zugang zu schließen? Zuletzt gab es sicher historische Beispiele für diese Kriegstaktik, aber nie wurden die Verantwortlichen vor einem Gericht dafür angeklagt.

Aber es geht ja nicht um die Realitäten im Gazastreifen, sondern um die unterstellten Absichten der israelischen Führung. Skandalös ist daneben, dass die Vorwürfe gegen Israel weitgehend einem gelinde gesagt „populären“, im Grunde verschwörungstheoretischen, von der Hamas und ihren Unterstützern gefütterten Narrativ folgen. Der Jurist und Menschenrechtsanwalt, daneben auch Londoner Oppositionsführer Keir Starmer hatte unmittelbar nach dem 7. Oktober gesagt, dass Israel die Wasser- und Stromversorgung nach Gaza vollständig kappen dürfe. Zwar müsse alles „im Rahmen des internationalen Rechts“ geschehen, aber das Land habe in diesem schweren Fall eines terroristischen Angriffs natürlich das Recht zur Selbstverteidigung. Es war die Stimmung des Oktobers, die seitdem vielleicht verflogen ist.

Die fünf Haftbefehle gelten freilich noch nicht, nur weil die drei Ankläger ihr Gesicht in einem Video dafür hergaben. Die Richter am Internationalen Gerichtshof müssen sie erst noch bestätigen. Auch dann ist fraglich, ob sich konkrete Konsequenzen ergeben. Ganz sicher wird die Pressemitteilung samt Video aber eine Rolle im Kampf um die mediale Oberhoheit spielen.

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