Tichys Einblick
Cancel Culture in den USA - Teil 2 / 2

»Ich zweifle an unserer Zukunft als eine Nation«

Wenn weder Ernst noch Ironie so recht gewürdigt werden können, stehen auch Freiheit und Gleichheit in Frage. Mit dem Kult um »Black Lives Matter« scheint sich in den USA ein zivilreligiöser Gottesstaat zu etablieren.

Portland , Jul 26th 2020

imago images / ZUMA Wire

Ein weiterer erzwungener Rücktritt aus der Academia ist jener der Dekanin einer Krankenpflegeschule an der University of Massachusetts-Lowell. Leslie Neal-Boylan hatte ihren Posten erst vor zehn Monaten bezogen. Anfang Juni verschickte sie eine Rundmail an Mitarbeiter, Freunde und Studenten der Schule, um – wie sie selbst formuliert – ihre »Sorge und Verurteilung angesichts der Gewaltakte gegen People of Color auszudrücken«, die kürzlich begangen wurden. Neal-Boylan fühlte sich an die »tragische Geschichte des Rassismus« und an die Voreingenommenheit erinnert, die es immer noch in ihrem Land gebe.

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Doch nach dieser verständnisvollen Einleitung kamen die Sätze, die sie zur umstrittenen Figur machten: »Ich zweifle an unserer Zukunft als eine Nation, wenn wir nicht gegen Gewalt, gegen wen auch immer, Stellung beziehen. SCHWARZE LEBEN ZÄHLEN, aber daneben gilt auch: JEDERMANNS LEBEN ZÄHLT.« Die beiden Parolen hatte Neal-Boylan in Großbuchstaben geschrieben. Sie wusste also, dass sie etwas Wichtiges und Gewichtiges zu sagen hatte.

Zwei Tage später landete der Text ihrer E-Mail auf Twitter – zusammen mit der Botschaft, dass es ein empörendes Dokument sei und die Engstirnigkeit von Menschen in Führungsposition belegt. Von da an waren es noch gut zwei Wochen bis zu ihrer Entlassung. In ihren Briefen an die Universitätsleitung, die dem Portal Campus Reform vorliegen, beklagt Neal-Boylan, dass ihr Vorgesetzter ein klärendes Gespräch verweigert (!) habe. Sie sei »ohne Verfahren verurteilt worden«. Und dabei war ihre Botschaft doch eine GEGEN Diskriminierung gewesen … Niemals in ihrer 40-jährigen Karriere habe man sie des Rassismus verdächtigt.

»Cancel Culture« - Teil 1 / 2
Rauswürfe und Rücktritte können jeden treffen
In der Schule, die sie bis vor kurzem leitete, ist man bestürzt und entsetzt: »Die schiere Ungerechtigkeit, die ihr angetan wurde, ist einfach empörend …«  Das Ergebnis ist eine Atmosphäre des Schreckens, die man sich lebhaft vorstellen kann. Viele fühlen sich nun nicht mehr »sicher«, eine abweichende Meinung auszusprechen, und befürchten, »etwas auf die falsche Art zu sagen«, verrät ein Insider.

Jahrelang habe man geglaubt, für eine »liberale« Institution zu arbeiten, bis »man es selbst aus erster Hand erlebt«. Die wirkliche »Travestie« bestehe darin, dass es hier um eine Frau geht, die über 40 Jahre eine glänzende Karriere aufgebaut hat, die nun beendet sein könnte. Die Universitätsleitung hat gegenüber Fox News bestritten, dass die Aussagen Neal-Boylans der Grund ihrer Entlassung waren. Aber alles andere deutet in die entgegengesetzte Richtung. Die Entscheidung sei im besten Interesse der Universität und der Studenten gewesen, behauptet nun auch das Rektorat. Tatsächlich haben aber einige neue Lehrkandidaten ihren Wechsel an die Pflegeschule abgesagt, seit Neal-Boylans Abgang klar wurde.

Ein lockerer Tweet verfängt sich

Am 29. Mai traf der Bannfluch der öffentlichen Meinung einen Professor für Soziologie und Kriminologie an der Universität von North Carolina in Wilmington. Eine Woche, nachdem der Bundesstaat North Carolina einen Teil seiner Corona-Maßnahmen gelockert hatte, traf sich Mike Adams mit einigen Freunden. Auf seinem Twitter-Account klang das folgendermaßen: »Heute abend saß ich mit sechs Kumpels an einem Sechsertisch, habe Pizza gegessen und Bier getrunken. Fast habe ich mich wie ein freier Mann gefühlt, der nicht im Sklavenstaat North Carolina lebt. Massa Cooper, lassen Sie mein Volk gehen!« Man könnte nun behaupten, dass alles, was folgte, ein großes Missverständnis gewesen sei. Was in einer Bierlaune und eigentlich noch als Agitation gegen das Pandemie-Regime geschrieben war, nahm in der seit drei Tagen veränderten nationalen Lage eine ganz andere Bedeutung an, auch wenn Adams bewusst mit den Sklaverei-Bezügen gespielt haben dürfte. Aber eigentlich richtete sich sein Tweet gegen das autoritäre Corona-Reglement. Roy Cooper ist der demokratische Gouverneur von North Carolina. Die Anrede »massa« ist die afrikanisch-amerikanische Verschleifung von »master« aus der Zeit der Sklaverei.

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Adams hatte sich bereits zuvor als »politisch inkorrekter« Professor an der Campus-Moral gerieben, unter anderem mit dem Buch »Feminists say the darndest things« (etwa: »Feministen sagen die merkwürdigsten Dinge«). Doch nun hatte ihn die Campus-Gemeinde sozusagen auf frischer Tat bei einer Todsünde ertappt. Am dritten oder vierten Tag der George-Floyd-Unruhen hatte er es gewagt, sich selbst mit einem versklavten Schwarzen des 18. Jahrhunderts zu vergleichen – und ein bisschen mit Moses, aber das fiel niemandem so recht auf. Denn das hätte Adams gedurft. Aber den Schwarzen ihren Opferstatus nehmen, indem er sich selbst zu den Versklavten zählte, das durfte er nicht. Und natürlich durfte er auch nicht den Staat North Carolina nach 230 Jahren zum zweiten Mal zu einem »Sklavenstaat« machen, obwohl das ja gar nicht er gewesen war, sondern der Gouverneur, zumindest solange man Adams folgt.
Das Farbvergehen eines Kriminologen

»Adams, der weiß ist, beendete seinen Tweet mit: ›Massa Cooper, let my people go!‹«, schrieb USA Today dazu. Sein Vergehen war also ein Farbvergehen. Hätte Adams eine andere Hautfarbe, wäre er vielleicht straflos davongekommen. An dieser Stelle könnte sich also auch Stammbaumforschung lohnen. Denn ein einziger Tropfen afrikanischen Blutes hätte Adams ja nach der in den Staaten geläufigen Theorie zum Schwarzen gemacht. Adams ging diesen Weg nicht, vielleicht hätte er ihm nichts gebracht. Bald forderten zwei Petitionen seine Abberufung als Professor. Die Universität erinnerte zwar an den Ersten Verfassungszusatz, wollte ihn aber nicht uneingeschränkt anwenden: »Diese Kommentare mögen geschützt sein, doch das ist keine Entschuldigung dafür, wie niederträchtig sie sind.« Eine »Ausdrucksform des Hasses«, die man weder ignorieren könne noch wolle.

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Feuern konnte man Adams tatsächlich nicht wegen seines Tweets. Dagegen stand der Erste Verfassungszusatz, aber man konnte eine vorzeitige Pensionierung mit ihm aushandeln und ihm eine halbe Million Dollar an Ausgleichszahlungen zugestehen. Zum 1. August wäre der Soziologe also in den Ruhestand gegangen. Doch so weit kam es nicht. Denn am vergangenen Donnerstag wurde Adams tot in seinem Haus gefunden.

CNN nennt Adams den »Blitzableiter« für eine Kontroverse und bemerkt, dass er die Campus-Gemeinde auf Twitter »verärgert« habe. Das klingt nach »Pech gehabt«. Inzwischen ist klar, dass Adams mit einer Schusswaffe Selbstmord begangen hat. In den Wochen zuvor hatte er sich laut einem Freund »erratisch« verhalten und Anzeichen von größerem Stress gezeigt. Er wurde 55 Jahre alt. Man weiß nicht, welches Unglück für Adams schwerer wog und mehr zu seiner Entscheidung beigetragen hatte: die öffentliche Ächtung durch seine Universität oder der wochenlange Shutdown, unter dem er zuvor gelitten hatte.

Resümieren wir kurz, so finden wir unter den »Opfern« von BLM und Cancel Culture: einen serbischen Fußballspieler und seine Frau, den schmallippigen Chefredakteur eines Kochmagazins, einen marxistischen Datenanalytiker, den berühmten Erfinder des Brexits, die Nachlassverwalterin eines »verrückten« schwarzen Komponisten und drei Universitätslehrer, die sich ihrer Meinung nicht schämten, zu den Prinzipien der Gleichheit standen oder schlicht etwas provozieren wollten. Und daran merkt man, dass es jeden treffen kann.

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