Im Rahmen von Dienstreisen hatte ich das Vergnügen, unmittelbar hintereinander zwei europäische Hauptstädte zu besuchen. Die erste Reise führte mich unmittelbar nach der Wiederwahl von Victor Orbán nach Budapest. Auf dem Weg vom Flughafen zum Hotel sah man kilometerlang an den Straßenseiten Jobbik-Plakate. Jobbik ist die rechte Partei, die an die 20% bekommen hat. Krasser Antisemitismus wird ihr nachgesagt. Fidesz-Plakate sah man quasi überhaupt keine. Fidesz ist die rechtskonservative (alias „rechtspopulistische“) Orbán-Partei. Ich war selbstverständlich vorgewarnt. Mehrere Male war ich bereits aufgefordert worden, Petitionen zu unterzeichnen; sie richteten sich selbstverständlich gegen den Orbán-Kurs.
Im deutschen Rundfunk sagte ein Redner, das Problem Ungarns seien nicht die Immigranten. Das Problem seien die Emigranten, – junge Leute, die in ihrem Land keine Zukunft sähen. Der Zusammenhang, der sich einem bei dem Bericht aufdrängte, legt nahe, dass die Emigration vielleicht gar durch die Immigration von Flüchtlingen abgebremst werden könnte. Man denke nur an die vielen Stellen, die in Deutschland durch die Asylindustrie entstanden sind, v.a. bei der Polizei und im Bauwesen. Verunsichert v.a. durch die vielen Jobbik-Plakate war ich erstaunt, viele Juden in der Stadt herumlaufen zu sehen, und zwar nicht die vom Typ meiner coolen jüdischen Kollegen von den Universitäten sondern solche mit Kippa oder mit schwarzen Anzügen, schwarzen Hüten, Rauschebärten und Pejes (Schläfenlocken). Also nach Judenverfolgung sah es in Budapest nicht gerade aus.
Unmittelbar nach der Ungarnreise war ich zwei Tage in Berlin. Dort war soeben ein Kippaträger angepöbelt und auf der Straße geschlagen worden. Kurz zuvor las man in der Presse von dem jüdischen Kind, das von seiner Schule gemobbt wurde. An meinem Abreisetag bekam dann das Rapperduo Kollegah & Farid Bang einen Echo-Award. Worum es da gegangen ist, muss ich an dieser Stelle wohl nicht mehr erläutern. Dass vor allen jüdischen Einrichtungen in Berlin ständig Bewaffnete Wache halten müssen, war mir seit vielen Jahren bekannt. Der Grund für den sich steigernden Antisemitismus in Berlin und in ganz Deutschland wurde bis jetzt fast ausschließlich den Rechtsradikalen aber auch den „Rechtspopulisten“ und v.a. natürlich der AfD angelastet. Interessanterweise führten mit entsprechenden Aussagen bis jetzt meistens prominente jüdische Persönlichkeiten wie der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland Josef Schuster oder Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde von München und Oberbayern die Diskussion an, aber auch Leitfiguren in den Medien, allen voran Michel Friedman, von Anetta Kahane von der Amadeo-Antonio-Stiftung ganz zu schweigen. Nur von einer Minderheit ist bekannt, dass sie die Dinge anders sehen.
Die sehr deutliche Stimme von Ralph Giordano ist 2014 verstummt. In den Medien wurde er gegen Ende seines Lebens immer kürzer gehalten. Die derzeit führende eigenständige Stimme ist die von Henryk M. Broder. Von den vielen nicht-prominenten Juden in Deutschland hört man nie etwas. Wie sehen sie die Entwicklung? Was haben sie für Sorgen? Wie geht es ihren Kindern in den Schulen? Warum sind manche Juden sogar bei der AfD. Und wie können sie es dort überhaupt aushalten? Unbeantwortete Fragen. Ich will nichts schönreden. Dass es in der AfD Antisemiten gibt, steht außer Frage. Dass es solche aber auch bei den C-Parteien und vor allem bei den weiter links angesiedelten Parteien gibt, steht ebenso außer Frage.
In dem sehenswerten Film Der ewige Antisemit sagt Leon de Winter am Ende „Ich denke, in 40, 50 Jahren gibt es eigentlich keine Juden mehr in Europa“. Nach dem, was der Film vorher gezeigt hat, beruht diese düstere Einschätzung nicht auf dem Rechtsruck, dem Europa derzeit unterworfen ist, sondern auf einer Politik, die diesen Rechtsruck erst provoziert hat.
Summa summarum trägt bis jetzt Budapest Kippa und nicht Berlin.
Josef Bayer ist Professor Emeritus für Allgemeine und Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Konstanz.