Tichys Einblick
Die Kostenkrise und der schlanke Staat

Britische Regierung will über 90.000 Stellen im öffentlichen Dienst streichen

Boris Johnson will ein Fünftel der Regierungsbeamten einsparen und so für eine effizientere Verwaltung sorgen. Steuersenkungen könnten bald folgen. Emmanuel Macron setzt in Frankreich auf staatliche Beihilfen, um der Kostenkrise zu begegnen. Was unternimmt eigentlich Christian Lindner in diesen Fragen?

IMAGO / ZUMA Wire

Bei einer Kabinettssitzung in Stoke-on-Trent in den englischen Midlands hat Boris Johnson seine Minister dazu aufgefordert, ein Fünftel ihrer Mitarbeiter einzusparen. Der Daily Mail sagte Johnson, er wolle mit dem eingesparten Geld die Lebenshaltungskosten der Briten senken. Der öffentliche Dienst sei während der Pandemie stark „angeschwollen“. Mehr als 90.000 Stellen sollen gestrichen werden. Die Regierung hofft so, 3,5 Milliarden Pfund (etwa 4,1 Milliarden Euro) einzusparen. Diese Mittel könnten entweder für andere Vorhaben fließen oder Steuersenkungen ermöglichen.

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Um ein „Blutbad für den öffentlichen Dienst“ gehe es, titelte die Daily Mail dazu. Ein gewaltiges Stühlerücken stehe bevor. Nüchterner hält es die Pressemitteilung der britischen Regierung: „Der Premierminister und die Minister wissen, dass der öffentliche Dienst eine herausragende Leistung erbringt. … Aber wenn einzelne und Unternehmen im ganzen Land mit steigenden Kosten umgehen müssen, erwarten die Bürger zu Recht, dass ihre Regierung beispielhaft vorangeht und so effizient wie möglich geführt wird.“

Jacob Rees-Mogg, seit Februar Staatsminister für Brexit-Chancen und Regierungseffizienz, verteidigte das Vorhaben gegen die aufbrausende Kritik. Die Stellen, um die es der Regierung gehe, seien vor allem im Zuge der Pandemie und zur Bewältigung des Brexits geschaffen worden. Ihr Abbau würde die Zahl der Beamten in Ministerien und nachgeordneten Behörden wieder auf das Niveau von 2016 zurückführen.

Eine effizientere Passbehörde durch künstliche Intelligenz?

Dave Penman, der Vorsitzende der Gewerkschaft für den öffentlichen Dienst (FDA), sagte, die Zahl der zu streichenden Stellen sei „aus der Luft gegriffen“. Außerdem habe die Regierung sich bereits zur Einsparung von fünf Prozent im Gesamthaushalt verpflichtet. „Mit dieser Art fortlaufender Effizienz ist der öffentliche Dienst die ganze Zeit befasst.“

Das scheinen Johnson und seine Minister anders zu sehen. Der Stabschef des Premiers, Steve Barclay, sucht angeblich nach Wegen, die Arbeit von problematischen Regierungsstellen – etwa der Passbehörde oder der Führerscheinagentur – durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz effizienter zu machen. „Wir sollten uns fragen, warum ein Pass so viel kostet?“, sagte Johnson. Oft seien die Kosten für Dienstleistungen gestiegen, um die gewachsenen Behörden zu unterstützen. Der Hauptkostentreiber sei die Mitarbeiterzahl, der „Headcount“.

Beim Thema Pässe und Führerscheine merkt man allerdings kurz auf: Waren derlei Identitätsausweise nicht gerade im Königreich immer sehr umstritten? Und war nicht Johnson zuletzt daran gescheitert, einen digitalen Impfpass einzuführen? Man könnte den Gedanken haben, dass hier etwas durch die Hintertür digital eingeführt werden soll, das die Briten sich analog nicht gefallen lassen.

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Seine Vorstellungen zur Technologie seien keineswegs „vorsintflutlich“, suchte Johnson seine Politik zu erläutern. Auch Zoom-Sitzungen könnten die Produktivität auf ihre Weise steigern, wenn Mitarbeiter von zu Hause arbeiteten. Doch langfristig glaubt der Premier, dass Menschen „produktiver, energetischer, ideenreicher sind, wenn sie von anderen Menschen umgeben sind“. Die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes drehen sich derzeit auch um die Frage, ob die Staatsdiener nach langem Wirken im Home-Office wieder an ihre klassischen Arbeitsstätten kehren sollten.
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Ähnlich wie in Frankreich werden auch im Vereinigten Königreich die steigenden Lebenshaltungskosten als zentrales Thema für die Politik wahrgenommen. Anders als in Frankreich besteht Johnsons Antwort aber nicht in staatlichen Ausgaben und Vorschriften für die freie Wirtschaft, wie sie Emmanuel Macron bereits angekündigt hat. Der neugewählte Präsident hat noch vor den Parlamentswahlen vom Juni verkündet, die Renten ebenso wie Beamten- und Lehrergehälter anheben zu wollen.

Mit seinem Gesetz zur Steigerung der Kaufkraft antwortet Macron auf Forderungen von Marine Le Pen, die gesagt hatte, dass sie als Präsidentin die Kaufkraft der Franzosen steigern würde. Auch an der Preisbremse für Gas und Strom will der Liberale daher festhalten, außerdem Lebensmittelschecks für einkommensschwache Haushalte vergeben. Beide Maßnahmen hebeln die Marktgesetze aus, die so kaum mehr wirken können – etwa auch im Hinblick auf die Lohnentwicklung.

Sendung am 12.05.2022
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Johnson schlägt den entgegengesetzten Weg ein. Dabei versucht auch er glaubhaft zu machen, dass ihn die Lebenshaltungskostenkrise bewegt. Der Krieg in der Ukraine sei durch die Auswirkungen auf den Energiemarkt nicht hilfreich. Familien und einkommensschwache Haushalte müssten unterstützt werden, aber zugleich gelte es das Wachstum auf dem freien Markt, wo neue Stellen entstünden, aufrechtzuerhalten. Im Gegensatz zu den beiden letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts habe Großbritannien heute nicht mit Massenarbeitslosigkeit zu kämpfen. Im März ist die britische Wirtschaft allerdings um 0,1 Prozent geschrumpft, während die Inflation wohl die Zehn-Prozent-Marke überschritt. Diese Zahlen sorgten für Rufe nach Steuersenkungen, die sich direkt an Schatzkanzler Rishi Sunak richteten.

Seinen Umgang mit der Kostenkrise erklärte Johnson diese Woche als eine langfristige Strategie: „Jedes Pfund vom Geld der Steuerzahler, das wir ausgeben, um Energierechnungen heute zu senken, ist ein Pfund, das wir nicht investieren, um Rechnungen und Preise langfristig zu senken.“ Die Frage wird sein, ob Johnson diese Politik durchhalten kann, wenn die Briten wirkliche Probleme mit den Lebensmittel- und Energiepreisen bekommen. Vielleicht ist Frankreich den Briten und uns auch nur um einen oder zwei Schritte voraus?

… und was tut Christian Lindner?

Zuletzt muss man fragen, wo Deutschland im Vergleich mit seinen westlichen Nachbarn steht: Noch kündigt sich keine Rückkehr zu einem „schlanken Staat“ unter Finanzminister Lindner an. Durch Sondervermögen – auch in diesem Fall mit Zusammenhang mit der Pandemie – hat er die roten Zahlen des Bundeshaushalts teils ausgelagert. Und die deutschen Steuern scheinen immer weiter zu sprudeln. Bis 2026 wird mit Mehreinnahmen von 232 Milliarden Euro für den Bund gerechnet, so die Augburger Allgemeine.

Doch Lindner sucht noch immer den „Exit aus dem Krisenmodus“. Einen Haushalt ohne neue Schulden fordert ein Sprecher der CDU/CSU-Fraktion. Wie wäre es aber mit Einsparungen und vielleicht sogar Steuersenkungen? Lindner würde die Debatte führen – kennt aber auch „die politischen Realitäten“ dieses Landes. Damit dürfte er vor allem seine beiden Koalitionspartner gemeint haben, die eher dafür bekannt sind, den „Headcount“ öffentlicher Stellen zu erhöhen als ihn auf Effizienz zu überprüfen.

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