Tichys Einblick
Britische Ausschreitungen

Von Rauflust und Akkuratesse der neuen Inquisition

Großbritannien wurde nicht ganz unvorbereitet von den Black-Lives-Matter-Protesten getroffen. Seit Jahren schwelt auch dort ein Kulturkrieg gegen die Memoria des Empire, den nur zum Teil die Schwarzen führen. Boris Johnson improvisiert derzeit noch in dieser Auseinandersetzung. Langfristig wird er sich bekennen müssen.

Screenprint via Twitter

Dass dieses Jahr 2020 so haarig für ihn werden würde, hatte Johnson wohl nicht erwartet. Es begann doch gut mit dem Vollzug des EU-Austritts beziehungsweise seiner ersten Stufe am 31. Januar. Doch dann traten das Coronavirus, der Lockdown, der Skandal um Dominic Cummings und jetzt eben »Black Lives Matter« in sein Leben und das der vier britischen Nationen. Die neueste Hiobsnachricht – von dem zurückgetretenen Ex-Regierungs-Epidemiologen Neil Ferguson – ist, dass ein etwas früherer Lockdown dem Land die Hälfte der Corona-Toten erspart hätte. Nur eine Woche früher, und dieser Effekt wäre eingetreten. Nun gibt es also schon auf rückwärtige Prophetien spezialisierte Anti-Kassandren.

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Großbritannien im allgemeinen und die Regierung Johnson im besonderen hatten sich eigentlich gerade etwas von der Debatte um den Regierungsberater Dominic Cummings erholt, der halb- erlaubter Weise zu dem 400 Kilometer entfernten Anwesen seiner Eltern gefahren war. Die Diskussion kreiste zumal um ein Thema: die Privilegien der Reichen und Mächtigen im Lande. Denn das sollte es gewesen sein, die Ausnutzung eines Privilegs durch den Upper-Class-Boy, dessen Eltern ein Grundstück mit einigen Bäumen besitzen, das für private Spaziergänge taugt. Den einfachen Bürgern hatte man zuvor eingeschärft, sie müssten die neuen Vorschriften eher extensiv auslegen, hatte sie auch moralisch ermahnt, sich geradezu überkorrekt zu verhalten. Das ging so weit, dass sich Polizisten fragten, wie sie die privaten Vorstellungen der Minister beim Volk vertreten sollten.

Es war also vielleicht etwas viel Moralin in die Suppe geraten, und der Backlash dieser Hypermoral war von Anfang an gewiss. Die Sache ging noch halbwegs gut, solange die Briten – vom Brexit berauscht, von Johnsons One-Nation-Toryism begeistert? – die alten Klassenunterschiede vergessen hatten. Doch der Cummings-Genesungs-Ausflug reichte aus, um diesen Funken wiederzubeleben. Der alte Klassengegensatz flackerten auf, und die Angelegenheit war damit, wie konservative Abgeordnete sagten, kaum noch zu verteidigen. Der Ball lag erneut beim Premier, der nun alles, was er hatte, einsetzte, um seinen Berater zu retten. Das wiederum weckte Zweifel an Johnson selbst, an seiner Unabhängigkeit und seiner persönlichen Führungskraft.

Bitte mehr »bobbies on the beat«

Kurzum, die britische Regierung – genauso wie Johnsons blonde Mähne – ist heute lockdown- bedingt etwas zerzauster, als sie es Anfang des Jahres war. Seltsam nur, dass man die Black-Lives- Matter-Proteste nun, trotz strengem Corona-Reglement, einfach so geschehen ließ. Seltsam, doch nicht unerklärlich. Es liegt wohl am Zug der Zeit.

Auch Clifford Stott, seines Zeichens Sozialpsychologe an der Universität von Keele im nordenglischen Staffordshire und Mitglied des wissenschaftlichen Beratergremiums der Regierung (SAGE), zeigte sich über diese Langmut verwundert. Er warnt, dass die Überwachung des Lockdowns im Laufe des Sommers ziemlich unmöglich werden könnte, vor allem wenn einmal aufgehobene Maßnahmen wiedereingeführt werden sollten, am Ende gar selektiv an einem neuen Corona-Hotspot. Dann könnten »viele junge Männer« das unfair finden und wer weiß was anstellen oder tun. Die steigende Arbeitslosigkeit und eine wahrgenommene Ungleichheit zwischen den »Rassen« würde diese Stimmung dann noch befeuern, so meint Stott und fasst die Möglichkeit ernsthafter Unruhen für diesen Sommer ins Auge. Das könnte man für den üblichen Panikschub eines Corona-Experten halten.

Doch Stott spricht nicht von einem, sondern von zwei Themen, wenn er sagt: »Es ist keineswegs unvorstellbar, dass es zu Unruhen der Größenordnung wie im August 2011 kommt.« Damals wurde nach dem Tod eines jungen Mannes in London und anderen englischen Städten gegen die Polizei rebelliert. Fünf weitere Menschen starben, zahlreiche Familien wurden infolge von Brandstiftungen obdachlos. Um Unruhen dieser Art zu vermeiden, so Stott weiter, müsste man schon jetzt an der Beziehung zwischen Polizei und Bürgern arbeiten. Glücklicherweise fordert Stott aber nicht die Abschaffung der Polizei, sondern im Gegenteil mehr »bobbies on the beat« – also mehr Polizisten auf Streife.

Dabei waren die Londoner Polizeieinsätze zuletzt nicht ganz ungefährlich für die Polizisten. Manch ein Beamter trug blutende Wunden davon. Aufsehen erregte der Unfall jener berittenen Polizistin, deren Pferd plötzlich ausbüchste, wodurch die Beamtin erst mit dem Oberkörper gegen eine Ampel schlug und dann zu Boden fiel. Sie erlitt einige Rippenbrüche, einen Schlüsselbeinbruch und einen Lungenkollaps und wird sicher vier Monate zu ihrer Genesung brauchen.

Ein Video zeigt, wie Demonstranten den Unfall der Beamtin offenbar witzig fanden und darüber lachten. Das wiederum fand der Vorsitzende der nationalen Polizistenvereinigung »unverzeihlich«. Ein solches Verhalten könne dazu führen, dass viele Menschen die Sympathien für die Proteste verlieren.

Johnson gestand jedem das Recht zu, friedlich und unter Einhaltung der Mindestabstände zu protestieren, und formulierte sozusagen ein Motto für die BLM-Proteste: »Everbody’s lives matter, black lives matter – aber wir müssen auch immer noch dieses Virus bekämpfen.« Protest solle in einer rechtskonformen und vernünftigen Weise stattfinden. Rechtsbrüche, Angriffe auf die Polizei und die Entweihung öffentlicher Mahnmale könnten weder mit seiner Unterstützung noch auf seine Nachsicht rechnen. Die Proteste seien – so schrieb Johnson mit ziemlicher Sicherheit – von rauflustigen Schlägern unterwandert worden (»subverted by thuggery«) und seien ein »Verrat an der Sache, der zu dienen sie vorgeben«. Man werde die Verantwortlichen zur Rede stellen, aber dazu müsste man sie vermutlich erst einmal finden.

Friedlich sein funktioniert nicht mehr

Johnsons Reaktion war insgesamt merklich zahmer als die seiner Innenministerin. Priti Patel hatte die Versenkung der Statue eines Sklavenhändlers und Philanthropen im Hafen von Bristol als »im höchsten Maße beschämend« bezeichnet. Der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan beschuldigte sie darauf eines »atemraubenden« Mangels an Empathie. Empathie aber womit? Mit der Gewalt? Mit Menschen, die ein Standbild erst mit Farbe markieren, um dann auf ihm herumzuhüpfen, als handele es sich um den Mörder George Floyds persönlich?

Inzwischen wurde eine polizeiliche Untersuchung wegen Sachbeschädigung eingeleitet. Der Bürgermeister der Hafenstadt sagte, er könne derlei natürlich nicht gutheißen, aber als Mann mit jamaikanischen Wurzeln empfinde er keinen »Verlust«.

Patel zeigte sich unbeirrt von Khans Empathie-Kritik und warf ihm ihrerseits vor, seinen Pflichten nicht recht nachzukommen, nämlich Vandalismus und Gewalt in der Hauptstadt zu verhindern.

Khan sagte, er könne zwar die Gesetzesverstöße der Demonstranten nicht billigen, doch Denkmäler, die »unsere Werte nicht akkurat reflektieren«, sollten möglicherweise entfernt werden. Er sagte nicht einfach, die »unsere Werte nicht reflektieren«, sondern eben »akkurat«, man könnte verstehen, bis in die hinterste Ecke des Verstandes. Das wäre heute also wieder notwendig, und man hat ein bisschen das Gefühl, wiederum in eine Zeit der Inquisition einzutreten, einer neuartigen Inquisition freilich, mit neuen Werten.

Bei den Londoner Protesten waren freilich tausende auf den Straßen, Khan und seine Metropolitan Police hätten also viel zu tun gehabt, sie alle im Zaum zu halten. Immer wieder kam es zu Scharmützeln zwischen Polizisten und Demonstranten, Flaschen und Feuerwerkskörper wurden auf Polizeibeamte geworfen. Ein junger Mann kletterte auf den nach Ende des Ersten Weltkriegs errichtete Cenotaph für die verschollenen und ohne Grab gebliebenen Soldaten und versuchte, den dort hängenden Union Jack anzuzünden.

Dann war da noch die Schändung des Denkmals für Winston Churchill, das seit 1973 am Parliament Square steht. Der Name des Kriegspremiers wurde durchgestrichen, darunter wurden die Worte »was a racist« gesetzt. Einige Pappen klebten als Bauchbinde an der Statue oder waren unten am Podest abgestellt. Die Bobbies schienen derweil die Protestierenden und ihre erhabenen Pappschilder zu bewachen. Als ein junger, zorniger Mann kam und die niedergelegten Devotionalien zur Seite stieß, setzten die Beamten ihm allerdings nach, als habe er die Votivgaben im Tempel umgestoßen.

Ein Demonstrant erklärte das sich darbietende Bild: »Churchill ist als Rassist markiert, weil er ein bestätigter Rassist ist. Er bekämpfte die Nazis nicht für das Commonwealth oder für irgendwelche persönlichen Freiheiten. Er bekämpfte sie nur, um das Commonwealth gegen die Invasion fremder Truppen zu schützen. Er hat das nicht für Schwarze oder Farbige getan, sondern aus reinem Kolonialismus. Die Menschen werden ärgerlich sein, aber am Ende bin ich wütend, dass wir für viele Jahre unterdrückt waren. Man kann die Menschen nicht versklaven, das größte Kolonialreich aller Zeiten besitzen und dann sagen: ›lasst uns friedlich ein‹. So funktioniert das nicht.« Und das dürfte das Schlüsselwort gewesen sein: Friedlich sein funktioniert nicht.

Wohlan, auf ein »thatchereskes Maß an ideologischer Intensität«

Die Menge skandierte »Churchill war ein Rassist« und »Boris ist ein Rassist«. In einem Beitrag für den Spectator sagt Patrick O’Flynn, dass es im Kulturkrieg mit der radikalen Linken nicht bei den bisherigen Verlusten bleiben könnte. Da sie nun in Sachen der Comedy-Serie Little Britain und Vom Winde verweht gewonnen, die Statue von Edward Colston in das trübe Wasser des Bristoler Hafens befördert und William Ewart Gladstone die Ehre entzogen hat, Taufpate eines Liverpooler Hörsaals zu sein, werde die radikale Linke den Kampf fortsetzen, als nächstes die verbliebenen Statuen großer britischer Seefahrer (also eines Drake oder Cook) zu Fall bringen und am Ende bei Admiral Nelson und wieder bei Churchill ankommen.

Das ist halb realistisch, halb metaphorisch gesprochen: Zum einen könnte tatsächlich der Tag kommen, an dem mehr und anderes als eine randalierende Menge die Entfernung von Churchills Statue fordern wird. Zum anderen spricht O’Flynn von einem Angriff auf das politische, strafrechtliche und auch wirtschaftliche System, der sich ebenfalls bald nach dem Muster der USA ereignen könnte, wo bekanntlich die Einschmelzung der Polizei bereits zum »radikalen Chic« der linken Elite gehört.

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Dasselbe könnte ebenso Großbritannien blühen, wenn sich die Behauptung durchsetzt, es gebe auch dort einen »systemischen Rassismus« gegen Farbige. O’Flynn stört es, dass Johnson sich überhaupt mit der »Sache« dieses Protestes beschäftigt und behauptet hat, die Demonstranten erwiesen dieser Sache einen Bärendienst, wenn sie Gewalt nutzten. Noch mehr stört ihn, dass Johnson die Proteste – trotz Social-Distancing-Regeln – überhaupt in dieser Form gewähren ließ. Den Grund dafür findet er in Johnsons Zentrismus und fasst zusammen: »Sein Instinkt war es, die Protestierenden zu beschwichtigen; den Demonstranten zu erlauben, ihren Spott mit den Social-Distancing-Vorgaben zu treiben; einer zurückhaltenden Polizeitaktik zuzustimmen, die nationale Monumente nicht vor Entweihung schützte, und wegzuschauen, wenn Polizeibeamte vor Protestierenden knien.«

O’Flynn glaubt, dass jeder Premierminister mit Themen konfrontiert wird, die er bei seiner Wahl nicht als zentrale Themen seiner Amtszeit geplant hatte. In Johnsons Fall sei ein solches Thema der anhebende Kulturkrieg mit der radikalen Linken, man könnte auch sagen, mit der modischen Erweckungsbewegung namens Wokeness, der der Premier gelegentlich etwas umspielt, vielleicht sogar umwirbt. Doch O’Flynn glaubt, dass Johnson letztlich gezwungen sein wird, den Kampf gegen diese Kräfte zu führen, wenn er es in seiner Amtszeit zu etwas bringen will. Um diesen Kampf zu gewinnen, werde Johnson allerdings ein geradezu »thatchereskes Maß an ideologischer Intensität und Widerstandsfähigkeit« brauchen.

Erst einmal könnte Johnson noch anderes zu tun haben, zum Beispiel sich in Sachen Handelsabkommen nicht von den EU-Vertretern über den Tisch ziehen zu lassen. Aber am Ende wird der innere Zusammenhalt des Königreichs auch von der kulturellen Strahlkraft des Premiers abhängen.

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