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Britannien macht die Leinen los

Boris Johnson hat seine Verhandlungsstrategie für die Gespräche mit der EU erläutert. Er will weg von zu engen Bindungen an den Kontinent und schlägt einen losen Freihandelsvertrag irgendwo zwischen dem kanadischen und dem australischen Modell vor. Die Pointe: Australien hat gar kein Handelsabkommen mit der EU.

DANIEL LEAL-OLIVAS/AFP via Getty Images

Jetzt heißt auch der Brexit nicht mehr Brexit. Namen sind Schall und Rauch, und so wollte der britische Premier Boris Johnson in seiner jüngsten Rede im Old Royal Naval College in Greenwich nicht einmal mehr den anerkannten Namen des einst so kontroversen Themas nennen: »… außer dass es mit B beginnt und in der Vergangenheit hinter uns entschwindet.«

Im Land macht sich unterdessen eine Spezies breit, die es wohl allerorten gibt: In diesem Fall sind es ehemalige Remainer, die jetzt auch zum Gewinnerlager gehören wollen und behaupten, sie hätten wohl einige Zweifel an der Sache gehabt, aber nie bestritten, dass das Land »riesige Chancen außerhalb der EU« habe. So wird es dem scheidenden Herausgeber des Remainer-Blatts Financial Times, Lionel Barber, zugeschrieben. Solche Bekenntnisse und Neugeburten dürften oft Schall und Rauch sein. Aufmerken lässt aber, wie sich offenbar auch langjährige Gegner nicht der neuen Lage entziehen können, in der die besten Chancen für ein eigenständiges Großbritannien wahrgenommen werden müssen.

Im Grunde sind das gute Voraussetzungen für einen Premierminister, der nach den Austrittswehen dafür sorgen muss, dass die neugewonnene Unabhängigkeit des Landes auch wirtschaftlich ein Erfolg wird. Wie das anzustellen sei, war das Thema seiner Greenwicher Rede vom vergangenen Montag (hier eine verschriftlichte Version). Zunächst beschwor Johnson historische Bilder, die sich durch den Ort und seine Kulturgüter anboten. So erinnerte er an die Union mit Schottland, die 1707 geschlossen wurde, demselben Jahr, in dem James Thornhill – der britische Michelangelo – die »Painted Hall« der späteren Marineakademie ausmalte. Zuvor hatte ein Erbfolgestreit das Königreich für einige Jahrzehnte in Schrecken versetzt, bevor mit seiner Lösung »Stabilität, Sicherheit und Optimismus« einziehen konnten. Etwa zur gleichen Zeit löste eine innovative Seefahrtstechnik »eine Explosion des weltweiten Handels« aus.

Freihandel mit Partnern in aller Welt

Für Johnson wird so alles symbolisch. Und alles gleicht der Gegenwart. Heute könnte Großbritannien von neuem an der Schwelle eines wirtschaftlichen Aufbruchs stehen, der sich mit neugewonnener Stabilität und innovativer Technologie verbindet. Um das zu erreichen, will seine Regierung möglichst bald mehrere Freihandelsverträge abschließen, darunter Abkommen mit den früheren Kolonien Australien und Neuseeland, mit Japan, verschiedenen Ländern des Nahen Ostens und natürlich den USA. Etwas zurückhaltender gibt sich derzeit Justin Trudeaus Kanada, aber das sind wohl eher Unterschiede im Ton als in der Sache.

Die Botschaft zum Brexit Day
Boris Johnson: Das ist kein Ende, sondern ein Anfang
Auch was ein Abkommen mit den USA angeht, könnten für Johnson noch einige Klippen zu umschiffen sein. Kürzlich soll der amerikanische Präsident in einem Telefonat mit Johnson deutliche Worte wegen der Zulassung des chinesischen Telekommunikationskonzerns Huawei für Teile des britischen 5G-Netzes gefunden haben. Andere Misstöne erzeugt das britische Vorhaben einer Digitalsteuer (nach dem Muster der in dieser Frage gerade in Verhandlungen eingetretenen Franzosen) und der Nuklearvertrag mit Iran, den Johnson gerne als »Trump-Deal« neu abschließen möchte. Obwohl die Vorrangigkeit eines US-UK-Handelsabkommens von der Trump-Administration immer noch ostentativ beteuert wird, bemerken die transatlantischen Cousins vielleicht gerade, »wie europäisch das Vereinigte Königreich ist«, wie Heather Conley, die Vertreterin eines Washingtoner Thinktanks, meint. Doch das sind fast sämtlich politische Differenzen, die nicht eigentlich etwas mit dem Handel zu tun haben.
Wo ist die Luft besser, im Sanatorium oder vor seiner Tür?

Wenn man an den handelspolitischen Erfolg der Briten in der Anglosphäre, in Japan und andernorts glauben möchte, dann bleibt noch der ausstehende Vertrag mit den Staaten der EU, mit denen das Königreich derzeit noch rund die Hälfte seiner Ein- und Ausfuhren bestreitet – wobei sich ingesamt ein leichtes Handelsdefizit der Briten ergibt, während sie in die Nicht-EU-Welt insgesamt etwas mehr exportieren, als sie von dort empfangen. Was nun von den EU-Vertretern als Handelskonflikt inszeniert wird, eigentlich aber stets und immer noch etwas anderes ist, war der Hauptgegenstand von Johnsons Greenwicher Rede.

Die heimliche Hauptsache der EU in diesen Fragen ist dieselbe wie schon immer, seit die Briten 2016 ihren Austritt aus der Union beschlossen haben: Man will ihnen (und anderen möglichen Nachahmern) klarmachen, dass die Luft vor der Tür des Luftkurorts schlechter ist als die Rauminnenluft im großen EU-Sanatorium; dass man drinnen von gewissen Vorteilen profitiert, die für Nichtmitglieder nicht zu haben seien; dass der Kuchen mit den Rosinen besser schmeckt als die einzelnen Rosinen und dass man sich natürlich entscheiden muss, ob man ihn essen oder behalten will (letzteres könnte so sein). Aber in welche Metapher man diesen Gedanken auch kleiden möchte, Johnson lässt sich auf dieses Spiel – wie inzwischen bewusst sein dürfte – nicht ein, versucht vielmehr einen konstruktiven Dialog herzustellen, den auch zwei schlichte Handelspartner so führen könnten.

Dabei kennt der Premier seine Vorteile. Einer von ihnen dürfte sein, dass die Briten eben erst aus der EU ausgeschieden sind und sich also bis dato an die EU-Regeln halten müssen. Jede Abweichung kann also von ihnen rational entschieden, nach Nutzen und Nachteil gewogen und dann in ein neu zu erstellendes Handelsabkommen mit der EU eingebracht werden. Das hört sich einfach genug an. Die Komplexität ist wohl auch nicht das Schlimmste, das die EU-Verhandler bei dieser Sache befürchten. Es ist vielmehr jenes sogenannte »race to the bottom«, das die Briten zu einem gefährliche Konkurrenten in der unmittelbaren Nachbarschaft machen könnte, etwa als jenes von Johnson einst vor dem Unterhaus beschworene Land der hohen Einkommen und der niedrigen Steuern. Es ist die Angst vor der Freiheit.

Die Briten setzen sich hohe Standards und schonen die öffentlichen Ausgaben

Doch auch hier widerspricht Johnson zumindest partiell, was nämlich die Sozial- und Umweltstandards angeht. Diese lägen in vielen Fällen über denen der meisten EU-Länder: So existiert der Vaterschaftsurlaub auf der Insel schon seit rund 20 Jahren; ein Jahr Mutterschaftsurlaub kann dort ähnlich wie in Deutschland zwischen beiden Eltern geteilt werden; um flexible Arbeitszeiten kann jeder Arbeitnehmer aus einer Vielzahl von Gründen bitten; daneben hat das Königreich einen der höchsten Mindestlöhne in Europa; auch beim Tierschutz sei man der EU in vielem voraus, was etwa Tiertransporte oder das Elfenbeinverbot angehe; schließlich liegen die staatlichen Subventionen in Großbritannien unter dem, was die Franzosen oder gar die spendablen Deutschen vergeben. Von dieser Seite bestünde also keine Bangnis, dass die Briten ihre EU-Partner unterbieten oder übertrumpfen könnten. Sie haben sich vielmehr schon seit Jahren freiwillig hohe, teils höhere Standards gesetzt und schonen traditionell die öffentlichen Ausgaben.

Nach dem B-Day
Der EU drohen nun die Erfolge von Boris Johnson
Mit diesem Gedankengang geht Johnson dann das Hauptargument der EU an, dessen Rationale er offen in Frage stellt. Die Kernfrage formuliert er schlicht und einfach: »Würden wir darauf bestehen, dass die EU alles das macht, was wir machen, wenn sie mit uns Freihandel betreiben will? Natürlich nicht.« So gehe beispielsweise das Plastikverbot der Briten viel weiter als die diesbezüglichen Verordnungen in vielen EU-Staaten. Aus solch einem Grund – oder wegen des britischen Mutterschutzes – werde man aber nicht italienischen Alfa Romeos oder deutschem Gewürztraminer den Zugang zum britischen Markt verwehren. »Werden wir sie des Dumpings anklagen? Natürlich nicht. Oder des Versuchs dazu? Keineswegs.«

So kontert Johnson die Junktims der EU-Vertreter: Warum sollte man in allem übereinstimmen, wenn es doch eigentlich nur darum geht, den Bürgern zu erlauben, Waren und Dienstleistungen auszutauschen? Nebenher macht Johnson damit deutlich: Es gibt eine Parität zwischen der EU und Großbritannien, keine Gruppe ist besser oder wichtiger als die andere, weder die Gruppierung der EU-Mitgliedsstaaten noch die kleinere Gruppe aus den vier Nationen, die Großbritanniens ausmachen, England, Schottland, Wales und Nordirland.

Europäer durch Sprache, Kultur, Instinkt und Gefühl

Wogegen Johnson ankämpft, das ist die Übernahme von EU-Regulationen, das ist die Jurisdiktion des Gerichtshofes der EU ebenso wie supranationale Kontrollrechte jedweder Art. Sein Verhandlungstrick besteht darin, die verlangte Einheitlichkeit der Sozial- und Umweltstandards nicht als EU-Forderung zu präsentieren, sondern als gemeinsame Angelegenheit beider Parteien, mithin als Gegenstand der Verhandlungen. So entsteht das Bild wirklich freier Gespräche, die sich an der Rationalität des Handels, nicht am heimlichen Ziel der Vereinheitlichung orientiert. Hingegen kann sich die EU innerlich nicht von ihrem Modell einer »immer enger werdenden Union« lösen und versucht, dasselbe nun in ihre Außenbeziehungen zu exportieren. Diesem Versuch muss ein selbstbewusstes Britannien widerstehen. Verhandlungserfolge könnten auf sich warten lassen. Noch gibt es kein Einsehen bei den EU-Vertretern, dass sich hier Partner auf Augenhöhe begegnen. Mit Ergebnissen wird nicht vor dem Herbst gerechnet.

Globales Britannien
Boris Johnsons Einwanderungsparole: Freundschaft, Gleichheit, Souveränität
Überhaupt, holt Johnson dann aus, sei die Wahl aber nicht mehr die zwischen einem überaus engen Verhältnis wie dem Norwegens zur EU und einem moderaten Freihandelsabkommen, wie es die EU und Kanada geschlossen haben. Vielmehr entscheide sich das Verhältnis Großbritanniens zur EU nun zwischen dem kanadischen und dem australischen Modell. Doch Australien besitzt gar kein Handelsabkommen mit der EU. Seit 2018 verhandeln die EU und Australien über den Abschluss eines solchen Vertrags, noch ohne Abschluss. Manche glauben daher, Johnsons australische Variante sei ein Code für »no-deal«.

Sicher scheint: Johnson will ein Großbritannien, das offen und großzügig, gastfreundlich und in der Welt engagiert ist. Der »Freihandel in aller Welt« sei es, der im Moment einen Fürstreiter brauche. Großbritannien soll demnach zu einem »unabhängigen Akteur und Katalysator« werden für etwas, von dem die Welt ohnehin mehr brauchen könnte. Hier erwähnt Johnson die Uruguay-Runde (1986–1994), die den weltweiten Handel mit Dienstleistungen ermöglichte und auf der die Entwicklungsländer sich gegen die Agrarsubventionen von USA und EU aussprachen. Unterdessen hat der britische Botschafter bei den UN erstmals seit 47 Jahren wieder seinen Platz im Führungsgremium der Welthandelsorganisation eingenommen – Seit’ and Seit’ mit dem amerikanischen Vertreter.

In der Außen- und Verteidigungspolitik will Johnson, wann immer die Interessen übereinstimmen, mit den EU-Mitgliedern zusammenarbeiten. Die Grenzen und die Immigration Großbritanniens, Wettbewerbs- und Subventionsregeln, Auftragsvergabe und Datenrecht will er aber lieber selbst kontrollieren. »Eine europäische Macht« sei man »nicht durch Vertrag oder Gesetz, sondern durch die unwiderruflichen Tatsachen der Geschichte, Geographie, Sprache, Kultur, des Instinkts und Gefühls«. Ein so mutiges Bekenntnis zur europäischen Kultur vermisst man manchmal bei den Anführern der kontinentalen Union.

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