Großbritannien, dieser Eindruck ist überwältigend stark in diesen Tagen, versinkt im Chaos. Eine Regierung, die im Parlament eine klare Mehrheit gegen sich hat, versucht dennoch das Land ohne ein Abkommen aus der EU zu führen, nachdem das von May ausgehandelte ursprüngliche Austrittsabkommen auch an eben jenen Abgeordneten gescheitert war, die jetzt den Kern der Regierung bilden. Boris Johnson, der britische Premierminister, hatte offenbar darauf gesetzt, die Opposition durch eine Vertagung des Parlaments für mehrere Wochen und durch anschließende Neuwahlen ausmanövrieren zu können. Dieses Manöver ist fürs Erste gescheitert.
Corbyn mag ein linker Träumer sein, dessen Ziel es ist, Großbritannien in einen sozialistischen Idealstaat – womöglich „zionistenfrei“ – zu verwandeln, aber wie viele nur begrenzt zurechnungsfähige Politiker beherrscht er dennoch das Handwerk der Tagespolitik und wird von vollständig skrupellosen, aber hochintelligenten Marxisten wie dem früheren Journalisten Seumas Milne beraten. Unter Corbyns Führung hat das Parlament beschlossen, der Regierung den Auftrag zu erteilen, eine weitere Verlängerung der Austrittsfrist für Großbritannien zu beantragen. Ob das Parlament wirklich das Recht hat, in einer Frage, die auch im 21. Jahrhundert noch in den Bereich der faktisch von der Regierung ausgeübten königlichen Prärogative gehört, so detaillierte Weisungen zu erteilen, ist keineswegs ganz klar, und müsste eventuell durch ein Gerichtsurteil geklärt werden.
Kommt Johnson freilich der Aufforderung des Parlamentes buchstabengetreu nach, hat er kaum eine Chance, eine spätestens Ende November dann doch unvermeidliche Neuwahl zu gewinnen, denn aus der Sicht des harten Kerns der Brexiteers, deren Sprecher Nigel Farage ist, hätte er dann gezeigt, dass er genauso schwach und unentschlossen wie Theresa May ist. Eigentlich hätte es für die Opposition nahegelegen, die Regierung sofort durch eine Misstrauensvotum zu stürzen; dies hätte allerdings voraussichtlich noch rascher zu Neuwahlen geführt – eine ausreichende Mehrheit für eine Regierung Corbyn gibt es im Parlament vermutlich nicht –, die Johnson dann nach vollzogenem Brexit durchaus hätte gewinnen können. Jetzt hingegen verlassen immer mehr moderate konservative Politiker die Partei, da ihnen ein harter Brexit, der überdies gegen den expliziten Willen des Parlamentes vollzogen würde, als die schlimmste Option erscheint, schlimmer noch als eine verlorene Neuwahl oder der Untergang der Tories.
Ein Land ohne geschriebene Verfassung ist schlecht beraten, sich mit Brüssel anzulegen
Wie konnte es soweit kommen? Ein Schlüssel zum Verständnis der jetzigen Lage ist, dass in England viele verfassungsrechtliche Fragen faktisch nicht eindeutig geklärt sind, weil das Land nun einmal keine geschriebene Verfassung besitzt. Im Zweifelsfall gelten ungeschriebene Konventionen, deren Anwendung freilich einen stillschweigenden Konsens voraussetzt, den es in der gegenwärtigen Lage, in der selbst der Sprecher des Unterhauses als parteiisch gilt, nicht mehr gibt. Unklar ist damit auch, in welchem Umfang die Parlamentsmehrheit der Regierung Weisungen erteilen kann oder wann eine Regierung genötigt ist, wirklich zurückzutreten – statt z. B. auf Neuwahlen zu setzen.
Die Lage wird zusätzlich dadurch kompliziert, dass es zwar für Volksabstimmungen anders als z. B. in der Schweiz keine klaren Regelungen gibt, diese aber seit den 1970er Jahren dennoch punktuell eingesetzt werden, um Fragen zu entscheiden, die eine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung haben, in anderen Ländern also durch ein verfassungsänderndes Gesetz, das eine qualifizierte Mehrheit im Parlament benötigen würde, geregelt würden. Diese Möglichkeit gibt es in Großbritannien nicht. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts hat eine Regierung, die die Verfassung ändern wollte (wie es z. B. durch die Entmachtung des House of Lords 1911 geschah) in der Regel Neuwahlen angesetzt, um sich dafür von den Wählern ein Mandat erteilen zu lassen. Nach 1945 ist das eher unüblich geworden.
Das erste große nationale Referendum fand 1975 statt, auch damals ging es um die Mitgliedschaft in der EU respektive der EG. Ein Austritt (Großbritannien war erst seit 1973 Mitglied der Europäischen Gemeinschaft) wurde damals mit großer Mehrheit abgelehnt. Es folgte, allerdings erst Jahrzehnte später, 2011 ein Referendum über eine mögliche Wahlrechtsänderung – wie von Cameron gewünscht, scheiterte der Versuch ein Verhältniswahlrecht einzuführen. In Schottland fanden hingegen zwischen 1979 und 2014 insgesamt drei Volksabstimmungen über regionale Autonomie respektive eine vollständige Unabhängigkeit statt. Ähnlich verhält es sich in Wales, nur dass dort nie eine komplette Loslösung von England zur Debatte stand.
Man kann also kaum behaupten, dass die Idee, die Beziehungen Großbritanniens zur EU über ein Referendum neu zu regeln, der neueren britischen Verfassungstradition grundsätzlich widerspricht. In diesem besonderen Fall war es freilich von Anfang an ein Problem, dass es für einen Austritt aus der EU nur eine sehr knappe Mehrheit gab, während umgekehrt eine deutliche Mehrheit der Abgeordneten des Parlamentes die Idee eines radikalen Bruchs mit Brüssel eigentlich ablehnte. Konflikte waren von daher vorprogrammiert. Verschärft wurde die Lage durch zwei Umstände: Zum einen war in der ganzen Debatte über einen möglichen Brexit vor dem Referendum die besondere Lage in Nordirland nicht wirklich bedacht worden. Die Wiederherstellung einer echten Grenze zwischen der Republik und dem britischen Ulster könnte in der Tat relativ leicht zum Wiederaufflammen eines Bürgerkrieges in Nordirland führen, abgesehen davon, dass die wirtschaftlichen Nachteile für das ohnehin arme Ulster sehr erheblich wären.
Zum anderen muss man aber – viel stärker als das in den meisten deutschen Kommentaren geschieht – auf die Haltung der Labour-Party blicken. Corbyns Haltung zum Brexit war nie eindeutig. Ein großer Freund der EU, die er als Hochburg des Kapitalismus ansieht, ist er mit Sicherheit nicht. Offiziell traten er und seine Partei aber immer für einen möglichst weichen Brexit ein. Dieses Ziel wäre nach Verabschiedung des May-Deal zwischen Brüssel und der EU durchaus noch erreichbar gewesen, da das Abkommen ja nur die Grundlagen für einen späteren endgültigen Vertrag legen sollte und faktisch die Weichen in Richtung dauerhafte Zollunion stellte. Dass Labour das Abkommen dennoch ablehnte, war fast ausschließlich taktisch begründet. Man wollte die Premierministerin stürzen – was gelang – und die Tory-Party spalten, wenn nicht sogar vollständig zerstören. Auch diesem Ziel ist Corbyn deutlich näher gekommen. In der jetzigen Lage zeigt sich, dass ein politisches System, das anders als das deutsche oder niederländische nicht auf Kompromisse ausgerichtet ist (was freilich andere Nachteile mit sich bringen kann), sondern auf den ständigen antagonistischen Kampf zwischen Regierung und Opposition in Ausnahmesituationen zu einer dramatischen Verschärfung einer Krise beitragen kann. Manches hätte dafür gesprochen, dass Großbritannien nach dem Brexit-Referendum eine Regierung der nationalen Einheit benötigt hätte – ähnlich wie im Krieg. Für eine solche Regierung sind aber weder die Tory-Hardliner um Johnson und Rees-Mogg noch die Retro-Kommunisten, die hinter Corbyn stehen und die Labour-Party aus dem Verborgenen lenken, die richtigen Leute.
Siegt Brüssel doch noch über die angelsächsische Bauernrevolte?
Die außerordentlich ungünstige Lage, in der sich Großbritannien jetzt befindet, hat freilich noch andere Ursachen. Britischen Politikern hätte von Anfang an klar sein müssen, dass es sich mit dem Artikel 50 des Vertrages von Lissabon (Möglichkeit des Austritts aus der EU) von 2009 ähnlich verhält wie mit den Klauseln des Maastricht-Vertrages von 1992, die eine gemeinsame Haftung für Schulden innerhalb der Eurozone ausschließen sollten. In beiden Fällen handelte es sich um rhetorische Floskeln, mit denen die Wähler beruhigt werden sollten – im Fall des Artikels 50 sollte der Eindruck vermieden werden, die EU sei eine Art Zwangsgemeinschaft. An die wirkliche Anwendung des entsprechenden Vertragsrechtes war nie ernsthaft gedacht worden, jedenfalls nicht in Brüssel und bei den pro-europäischen Eliten, die die Politik der EU bestimmen. Ahnlich verhielt es sich natürlich auch von Anfang an mit der no bail out-Klausel von Maastricht, die eigentlich nie mehr war als ein Täuschungsmanöver.
Es war naiv, dass manche in Großbritannien glaubten, ein echter Austritt aus der EU sei wirklich möglich. Der „Erfolg“ der EU beruht darauf, Sachzwänge zu schaffen, Sachzwänge, die eine ständig fortschreitende Zentralisierung fast unvermeidlich machen und zugleich eine explizite demokratische Legitimation für diesen Zentralisierungsprozess überflüssig werden lassen, denn diese Legitimation gibt es schlechterdings nicht. Die Bürger in Europa sind nie wirklich gefragt worden, ob sie die schleichende Reduktion der Nationalstaaten auf den Status von bloßen Provinzen eines Einheitsstaates wirklich wollen oder nicht. Genau dies war auch ein entscheidender Grund für den britischen Aufstand gegen die EU an sich, auch wenn deutsche Medien es oft vermeiden, das zu thematisieren, da dies ein Zeichen mangelnder Loyalität gegenüber Brüssel und der eigenen Regierung wäre.
In einem Land wie Deutschland würde man die Wähler ohnehin nie offen in einem Referendum zu Fragen der Europapolitik befragen, das ist unvorstellbar, heute mehr denn je, denn die Angst vor einem Aufstand der Wähler ist einfach zu groß. Dort, wo man es in der Vergangenheit wie in Frankreich oder in den Niederlanden 2005 mit Blick auf die geplante europäische Verfassung getan hat, fand man anschließend in Brüssel immer Wege, um EU-kritische Abstimmungsergebnisse zu umgehen (in diesem Fall wurden die wichtigsten Bestimmungen der gescheiterten europäischen Verfassung einfach in den Lissabon-Vertrag eingebaut) oder zu ignorieren. Schlimmstenfalls ließ man solange abstimmen, bis sich das richtige Ergebnis einstellte, wie in Irland 2008/09 beim Vertrag von Lissabon (in Frankreich und den Niederlanden hielt man damals sicherheitshalber keine Referenden über den Vertrag mehr ab, sondern begnügte sich mit einer parlamentarischen Ratifikation).
Aber auch unabhängig von solchen Tricks beruht das Vorgehen der EU, wie der bisherige Kommissionspräsident Juncker das auch einmal offen zugegeben hat, darauf, dass man hinter dem Rücken der Bürger, oder doch zumindest ohne sie wirklich über die Konsequenzen relevanter Entscheidungen zutreffend zu informieren, Mechanismen schafft, die eine weitere Integration fast unvermeidlich machen. Der Euro, den Großbritannien freilich nie übernommen hat, ist das beste Beispiel dafür, da er eigentlich eine weitgehende Entmachtung der nationalen Finanzministerien und Parlamente und auf jeden Fall eine Schuldenvergemeinschaftung erfordern würde, die heute freilich einstweilen nur über die Bilanz der EZB wirksam hergestellt werden kann.
Aber auch die Grundrechtscharta der EU, die es dem EuGH erlaubt, fast beliebig weitere Kompetenzen an sich zu ziehen und nationales Recht oder nationale Gerichtsurteile zu revidieren, gehört dazu. Schon die bloße Existenz eines einheitlichen Binnenmarktes schafft eigene Sachzwänge. Die Prinzipien, die ihm zu Grunde liegen, können so ausgelegt werden, dass daraus einheitliche Regeln für das Arbeitsrecht (u. U. bis hin zum Zwang flächendeckend Stechuhren einzuführen, um ein eher triviales Beispiel zu nehmen) oder für die Gesetzgebung gegen die wirkliche oder vermeintliche Diskriminierung von Minderheiten abgeleitet werden können. Gehört ein Land einmal dem Binnenmarkt an, ist es sehr schwer, ja nahezu unmöglich, ihn zu verlassen, weil dies, wie man in Großbritannien jetzt sieht, das Risiko großer wirtschaftlicher Verwerfungen nach sich zieht. Von daher läuft ein Widerstand gegen die Machtansprüche der EU, jedenfalls dann, wenn er offen artikuliert wird, und sich nicht auf stille Sabotage beschränkt, oft ins Leere oder erweist sich als aussichtslos.
Auf dem Weg in das Reich der Postdemokratie
Hinzu kommt, dass die Institutionen, die in der EU faktisch so etwas wie eine Regierungsgewalt ausüben – Kommission und Rat – mit einem sehr geringen Maß demokratischer Legitimation auskommen, das auf nationaler Ebene als vollständig unzureichend betrachtet werden würde. Die Kommission, obwohl sie mittlerweile wie eine Regierung agiert, wird keineswegs so gewählt wie Regierungen in echten Demokratien; das konnte man ja vor kurzem noch einmal sehen. Der Rat der nationalen Regierungen hingegen trifft seine Entscheidungen in geheimen Verhandlungen nach den Prinzipien des politischen Tauschhandels; konkrete Personen ober Parteien kann man für diese Entscheidungen kaum je verantwortlich machen und entsprechend bei Wahlen „bestrafen“, dazu sind die Vorgänge zu intransparent. Nationale Regierungschefs können sich immer damit verteidigen, von den Vertretern anderer Regierungen überstimmt worden zu sein. Will ein Wähler die EU-Politik stärker beeinflussen – etwa im Sinne einer eher anti-zentralistischen Politik – ist er weitgehend machtlos, zumal das EU-Parlament nicht nach wirklich demokratischen Prinzipien (z. B. „one person one vote“) gewählt wird.
Gerade dies ist aber auch die Stärke der EU, sie ist nicht wirklich auf Wählermehrheiten angewiesen, Wahlen sind für sie eher bloße Rituale mit symbolischer Bedeutung, während z. B. eine Regierung in Großbritannien eine Mehrheit im Parlament verlieren oder durch eine Wahl aus dem Amt gejagt werden kann, wie es sich jetzt möglicherweise abzeichnet, und überdies weniger leicht als die EU Volksabstimmungen einfach ignorieren oder beliebig wiederholen lassen kann. Auch dies erklärt die Schwäche Londons im Kampf mit Brüssel. Das weitgehend postdemokratische System Brüssel ist der noch auf das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert (und zum Teil in Verfahren und Stil noch weit ältere Epochen) zurückgehenden parlamentarischen Demokratie englischer Prägung einfach überlegen. Der Sieg Brüssels über die britischen Rebellen, der sich jetzt wohl doch abzeichnet, zeigt vielleicht wirklich, dass in Europa das Zeitalter der klassischen Demokratie, das in manchen Ländern wie auch in Deutschland so richtig erst nach 1945 oder gar, man denke an Spanien, Portugal oder Osteuropa, noch später begonnen hat, seinem Ende zugeht, denn die EU der Zukunft wird postdemokratisch sein, oder sie wird gar nicht sein, das kann man jetzt schon konstatieren.
Dass die Legitimationsdefizite dieses Systems auch Nachteile mit sich bringen, steht auf einem anderen Blatt. So wird Brüssel wohl kaum je dazu in der Lage sein, Länder wie Italien oder Frankreich zu den eigentlichen innerhalb der Währungsunion notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Reformen zu zwingen, dazu brauchte man dann eben doch echte demokratische Legitimation. Aber ist das wirklich ein Problem? Am Ende wird die EZB immer genug Geld drucken, um diese Länder über Wasser zu halten und wenn das doch nicht mehr geht, wird Deutschland eben einen Teil der Schulden dieser Länder übernehmen, wozu die SPD und die Grünen sicherlich jederzeit ihr Plazet erteilen werden; von daher besteht kein wirklicher Anlass zur Sorge, jedenfalls nicht in Brüssel.
Der Triumph Brüssels, wenn er denn eintritt, könnte ein Pyrrhussieg sein, auch für Europas neuen Napoleon
Aber wie wird das alles für Großbritannien ausgehen? Darüber jetzt zu spekulieren, ist gefährlich, weil man den Verlauf der Dinge kaum noch vorhersagen kann. Klar ist, dass Johnson durchaus versuchen könnte, formal der Anordnung des Parlamentes, eine Verlängerung der Austrittsfrist zu beantragen, zu folgen, durch ein entsprechend provozierendes Begleitschreiben die EU aber zugleich veranlassen könnte, sein Gesuch als bloße „Scherzerklärung“ zu verwerfen. Namentlich in Frankreich wäre man wohl in jedem Fall froh, die englische Mitgliedschaft in der EU so rasch wie möglich zu beenden, und ohne Macron wird es keine Verlängerung der Fristen geben. Denkbar wäre freilich auch, dass die Regierung Johnson innerhalb der nächsten Wochen vollständig zerfällt und noch vor dem möglichen Brexit Ende Oktober das Handtuch werfen muss, das weiß am Ende keiner so genau, auch wenn die seit 9. September greifende Vertagung des Parlamentes bis Mitte Oktober das unwahrscheinlicher gemacht hat.
Es könnte auch angesichts des Chaos in London ein zweites Referendum über die Mitgliedschaft in der EU geben, falls Labour vor dem effektiven Vollzug des Brexit an die Macht käme. Sollte dies nicht – recht überraschend – zu einer Wiederbelebung des May-Deals führen, oder doch zu einer Mehrheit für einen ungeregelten Austritt, dann würde das auf die Rücknahme des Brexit hinauslaufen. Die Mehrheit der Wähler wird vermutlich einsehen, dass man die EU eben einfach nicht verlassen kann, dass es diese Möglichkeit realistisch gesehen schlechterdings nicht gibt, oder nur zu einem Preis, der zu hoch ist.
Allerdings könnte das für Brüssel ein recht bitterer Triumph werden. Die Radikalisierung und Polarisierung der Politik, die sich in Großbritannien seit 2016 mit erstaunlicher Geschwindigkeit vollzogen hat – wesentlich, wenn auch nicht nur eine Folge des Streites um den Brexit – wird sich nach einer Annullierung des Referendums von 2016 nicht so rasch wieder rückgängig machen lassen. Überdies werden mindestens 30 bis 40 % der Briten die Mitgliedschaft in der EU nach einer Rücknahme des Austritts erst recht als reine Zwangsmitgliedschaft empfinden. Es wird für die Politik schwierig sein, die Stimmen dieser Wähler auf Dauer vollständig zu ignorieren. Großbritannien war für Brüssel immer ein schwieriger Partner, das wäre dann in der Zukunft noch viel stärker der Fall. Die Beziehungen zwischen Brüssel und London werden denen eines alten Ehepaares ähneln, das sich auseinandergelebt hat, sich aber aus finanziellen Gründen eine Scheidung nicht leisten kann, und sich nun täglich beim Frühstück beharkt oder sich über die Erziehung der Kinder streitet.
In Großbritannien selbst könnte die von Farage geführte Brexit-Party die heillos zerstrittenen Tories sogar ganz oder teilweise aus dem Parlament verdrängen. Farage würde seinen Kampf gegen Brüssel fortsetzen und außenpolitisch ganz auf eine Partnerschaft mit Trumps Amerika setzen (falls Trump wiedergewählt wird); nicht zuletzt in militärischen und diplomatischen Fragen würde er die Zusammenarbeit mit Frankreich und Deutschland auf EU-Ebene wohl beenden, sollte seine Partei je an die Macht kommen, was freilich auch für einen Premierminister Johnson, sollte dieser doch im Amt überleben, gelten könnte, wenn die EU ihm nicht entgegenkommt.
Ähnlich würde aber auch ein Premierminister Corbyn (oder ein nach radikalerer Nachfolger aus der Labour-Party) verfahren, der ganz auf eine Allianz mit Russland, dem Iran, der Hamas und der Hisbollah setzen würde. Schon jetzt hat der Streit um den Brexit die EU massiv geschwächt; dieser Prozess würde sich auch nach einer Rücknahme des Austritts in den nächsten Jahren eher fortsetzen. Sicher, ein großer Teil der Schuld daran ist bei politischen Spielern wie Boris Johnson zu suchen, das ist nicht zu leugnen, denn die Annahme des May-Deals hätte die schlimmsten politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen vermieden.
Aber sind nicht diejenigen Politiker, die seit 1989/90 versucht haben, ohne ausreichende demokratische Legitimation (ein Punkt auf den 2009 sogar unser eigenes Verfassungsgericht, als es noch mehr Mut hatte als heute, hingewiesen hat) und ohne echte öffentliche Debatte über die damit verbundenen Risiken aus einem Staatenverbund einen echten Bundesstaat zu schaffen, genauso Spieler und das in noch viel größerem Maßstab?
Zukünftige Historiker werden möglicherweise über die Arroganz und Selbstüberschätzung von Männern wie Johnson, Rees-Mogg und Michael Gove sehr kritisch urteilen, aber wird ihr Urteil über Mitterand, Delors und Kohl, die Politiker, die die EU aus persönlich allerdings extrem unterschiedlichen Motiven mit ihren viel zu ehrgeizigen Plänen in die jetzige Krise geführt haben, viel günstiger ausfallen? Das könnte man bezweifeln. Aufgabe der EU hätte es sein sollen, Europa in der Konkurrenz zu China und den USA zu stärken, sie hat es in den letzten 20 Jahren aber eher gespalten und geschwächt, und seinen Niedergang beschleunigt und es lässt sich in keiner Weise absehen, wie sich dieser Prozess revidieren ließe.
Vielleicht erlebt die EU unter französischer Hegemonie mit Ursula von der Leyen als stets lächelnder Galionsfigur in den nächsten vier oder fünf Jahren sogar noch einmal eine illusionäre Scheinblüte, großzügig finanziert durch Lagardes EZB, aber die Zerstörung der Wirtschaftskraft Deutschland, die die notwendige strukturelle Folge der Politik Macrons ist, wird auch Europa insgesamt massiv schwächen. Überdies, eine EU, die verdächtig so aussieht wie das Europa das Jahres 1810 mit einem neuen Napoleon an der Spitze, wird selbst für eher liberale oder linke Briten auf Dauer wenig attraktiv sein, dazu ist die habituelle Arroganz der französischen Eliten gegenüber dem Nachbarn auf der anderen Seite des Kanals auch einfach zu groß. Deutsche, über die man in Pariser Salons und Ministerien sicher auch gerne lächelt, können mit dieser Arroganz leben, tun es vielleicht sogar gern, Briten eher nicht.