US-Präsident Joseph Biden und der chinesische Staatschef Xi Jinping planen am heutigen Montag ein Online-Treffen. Die Videoschalte fällt in eine Periode bemerkenswerter globaler Spannungen. Ein Schwerpunkt der Gespräche dürfte das Schicksal Taiwans sein. Schon im Vorfeld warnte Chinas Außenminister Wang Yi die USA davor, „falsche Signale“ in Richtung der Unabhängigkeit Taiwans zu senden. Peking misstraut dem neu geschlossenen Pazifik-Bündnis AUKUS (Australien, UK, USA), Washington beargwöhnt den Ausbau des chinesischen Nuklear- und Hyperschallwaffenarsenals. Die Amerikaner wollen zudem mit der Seidenstraßeninitiative Chinas (Belt and Road Initiative) konkurrieren, indem sie ihr billionenschweres BBB3-Projekt (Build Back Better World) dagegensetzen. Die Anzeichen verdeutlichen sich zudem, dass die USA die kommende Winterolympiade in Peking boykottieren könnten – ganz in der Tradition des Kalten Krieges.
Die Schalte zwischen den beiden mächtigsten Männern der Welt kann jedoch kaum über die Erosion der transatlantischen Großmacht hinwegtäuschen. Kaum ein US-Präsident der letzten einhundert Jahre hat sich so wenig öffentlichkeitswirksam gezeigt wie der aktuelle Amtsträger. Setzte sich Donald Trump dem Fegefeuer der Presse aus, so hat Biden nahezu alle Fragen an seine Pressesprecherin delegiert. International blieb Biden beim G20-Gipfel wie auch bei der COP26 blass – als handelte es sich bei Biden um einen Staatschef wie jeder andere. Einprägsam blieb nur die Aufnahme eines müden Präsidenten, der seinem Spottnamen „Sleepy Joe“ alle Ehre machte – sowie eine peinliche Begegnung mit der Duchess of Cornwall in Emissionsangelegenheiten.
In der Ukraine zeigt man sich indes über Truppenmassierungen an der russisch-ukrainischen Grenze alarmiert, die USA befürchten gar eine neuerliche Invasion der ehemaligen Sowjetrepublik. Russland hält mit seinen Zügen den Gegner so unter Druck, dass Letzterer nur noch reagieren kann, statt zu einer eigenen Strategie zu finden. Es wäre naiv zu glauben, dass Moskau mit dem Partner in Peking nicht wenigstens grundsätzliche Rücksprachen hält. Das dürfte vonseiten Chinas im Falle des Vorgehens gegen Taiwan nicht anders aussehen.
In Deutschland scheint der Balkan als Pulverfass Europas beinahe vergessen. Mit dem Ende der Jugoslawienkriege, der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo sowie der Aufnahme Sloweniens und Kroatiens in die Europäische Union scheinen die meisten die Befriedung der einstigen Unruheregion als abgeschlossen anzusehen. In Wirklichkeit sind diese Ereignisse Hypotheken. Die Serben, besonders die in Bosnien-Herzegowina und Kosovo lebenden Minderheiten, sehen sich als Verlierer der Auflösung des jugoslawischen Vielvölkerstaates. Serbien erkennt das Kosovo bis heute nicht als unabhängig an und ordnet dessen einseitige Erklärung als Problem ein.
Das ist kein purer Revanchismus. Bis heute ist das Kosovo kein UN-Mitglied. Nur 115 Staaten weltweit erkennen das Land an. Nicht nur Russland, China und Indien verwehren die Anerkennung, sondern selbst EU-Mitgliedsstaaten wie Spanien, Griechenland oder die Slowakei hadern mit dem kleinen Balkanland. Wenn einseitige Unabhängigkeitserklärungen eine De-facto- und De-jure-Unabhängigkeit begründen sollen, sind dem globalen Sezessionismus Tür und Tor geöffnet. Das Kosovo-Beispiel bedeutet nicht nur für den Balkan gefährliche Destabilisierungstendenzen. So hat Russland die Abspaltung der georgischen Provinzen Abchasien und Südossetien und deren Anerkennung als unabhängige Staaten mit dem „Präzedenzfall Kosovo“ begründet.
Dass die fragile multiethnische und multireligiöse Föderation Bosnien-Herzegowina aus katholischen Kroaten, orthodoxen Serben und muslimischen Bosniaken von Anfang an künstlich von internationaler Hilfe zusammengehalten wurde, zeigte sich bereits um die Jahrtausendwende in den scharfen Worten Peter Scholl-Latours, der es als europäisches „Absurdistan“ verhöhnte. Ohne die internationale Klammer ist die Auflösung nur eine Frage der Zeit. Der Prozess, vorangetrieben durch den serbischen Vertreter Milorad Dodik, hat in jüngster Zeit an Fahrt gewonnen. Dodik schwächt seit Jahren die gesamtstaatlichen Institutionen und beabsichtigt, eine eigene serbische Armee auf bosnischem Territorium zu errichten. Eine „Armee der Republika Srpska“ gab es bereits im Jugoslawienkrieg – der Name steht bei den Kroaten und Bosniern gleichermaßen für die Kriegsverbrechen Anfang und Mitte der 1990er Jahre.
Die Sehnsucht nach nationaler Selbstbestimmung hat jüngst den Hohen Repräsentanten der internationalen Staatengemeinschaft, Christian Schmidt, dazu gezwungen, gegenüber den Vereinten Nationen die Alarmglocken zu schellen: „Bosnien-Herzegowina sieht sich seiner schwersten existenziellen Bedrohung der Nachkriegsperiode konfrontiert.“ Dodiks Vorgehen bringe nicht nur Frieden und Stabilität in Gefahr, sondern könnte zur Auflösung des Dayton-Abkommens führen. Es handele sich um eine Sezession, ohne diese zu erklären. Zwar beschwichtigte der amerikanische Beauftragte für die Westbalkan-Region Gabriel Escobar nach einem Besuch der drei Spitzenvertreter des Landes, dass man sich geeinigt habe, dass es „keinen Krieg“ geben werde. Aber dies lässt eher erahnen, wie weit der Prozess der Auflösung des Balkanstaates abgeschlossen ist, als dass die Botschaft wirklich beruhigt. Dodik hat angekündigt, dass, sobald er eine eigene Armee aufgestellt habe, die bosnischen Truppen vertreiben werde. Wenn nötig mithilfe seiner „Freunde“.
Kroatien hat als EU-Mitgliedsstaat und direkter Nachbar Bosnien-Herzegowinas vor einer Verschlimmerung der Situation gewarnt. Außenminister Gordan Grlić Radman sprach gegenüber Reuters von einer „Vertiefung der Spaltung“ und einer „Bedrohung der Demokratie“. „Aktionen, die die 1990er Jahre widerspiegeln, müssen aufhören“, fügte er hinzu. Dass die Südostflanke der EU bald in Brand stehen könnte, scheint man in Brüssel derzeit ebenso wenig wie in Berlin wahrzunehmen. Bosnien-Herzegowina ist dabei eine Chiffre. Es ist das Land der Brücke von Mostar, die im Krieg zerstört und später neu aufgebaut wurde: als Zeichen der Toleranz, als Zeichen der Überwindung aller Spannungen, ja, auch als Aussöhnung zwischen Christentum und Islam. Es sind Brücken, die im Zeichen eines neuen Zeitalters weltweit bröckeln. Nach dem Rückzug aus Afghanistan könnte in einer Rücklaufspule der Geschichte auch die westliche Ordnung auf dem Balkan zurückgedreht werden. Der Kontinent ist nicht mehr die alleinige Einflusssphäre des europäisch-atlantischen Bündnisses, sondern wird zur umstrittenen Konfliktzone.
Die Staaten Europas wollten die Demokratie nach Afghanistan bringen, aktuell träumen sie von der weltweiten Klimarettung; dabei sind sie nicht einmal in der Lage, ihren Hinterhof in Ordnung zu halten. Ohne den Schutzschirm Washingtons sind die Europäer nach Jahrzehnten der Verhausschweinung hilflos ihren Nachbarn ausgeliefert. Deutschland hat sich als mächtigstes Land des Kontinents angewöhnt, die Probleme in Europa „wegzubezahlen“. Damit konnte es seinen Mangel an außenpolitischem Format und langfristiger Strategie lange Zeit verwischen. An der polnisch-weißrussischen Grenze, in der Ukraine und auf dem Balkan könnte diese bequeme Verschiebung von Problemen bald ihr Ende finden. Das europäische Absurdistan war Kreatur wie Modell einer Mini-EU.