Nun ist er also endlich unterschrieben: Am Freitag brachten die EU-Vertreter den von Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel widerwillig unterzeichneten Brexit-Vertrag nach London, wo Boris Johnson seine Unterschrift mit viszeraler Freude unter das Dokument setzen konnte. Johnson sprach von einem »phantastischen Moment, der endlich das Ergebnis des Referendums von 2016 umsetzt und viel zu viele Jahre des Streits und der Spaltung beendet«. Damit tritt das Vereinigte Königreich nach 47 Jahren Mitgliedschaft aus der EU aus. Zuvor hatte die Queen dem Brexit-Gesetz ihre Zustimmung erteilt. Johnson kommentierte: »Zeitweilig hat es sich so angefühlt, als würden wir die Brexit-Ziellinie nie erreichen, aber wir haben es geschafft.« Endlich könne man als geeintes Land voranschreiten und zugleich eine starke Beziehung mit der EU unter »Freunden und souveränen Gleichen« aufbauen.
Am 31. Januar um 23 Uhr wird das Vereinigte Königreich offiziell aus der EU ausscheiden. Zu diesem Anlass will die britische Regierung 50-Pence-Münzen herausbringen, die die Inschrift »Friede, Wohlstand und Freundschaft mit allen Nationen« tragen. Daneben soll der hochsymbolische Tag mit Union Jacks und Lichtershows in Downing Street und dem Regierungsbezirk gefeiert werden.
Tatsächlich wird vorerst aber fast alles beim Alten bleiben. Denn am 31. Januar beginnt eine einjährige Übergangsfrist, in der die Briten und die EU ein Handelsabkommen aushandeln und das gemeinsame Verhältnis klären wollen. Eine unmittelbare Folge ergibt sich immerhin: Ende des Monats werden die britischen Abgeordneten aus dem EU-Parlament in Straßburg ausziehen. Die konservative EVP wird dadurch ihren Status als größte Fraktion ausbauen, ohne Mitglieder zu gewinnen. Die Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen verlieren durch das Ausscheiden ihre britischen Fraktionsmitglieder und fallen auf 154, 97 und 67 Abgeordnete zurück. Zugleich schiebt sich die Gruppe Identität und Demokratie (ID), zu der neben der AfD auch die italienische Lega und das französische Rassemblement National (Le Pen) gehören, mit künftig 76 Abgeordneten vor die Grünen-Fraktion. Die Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) verlieren die britischen Konservativen aus ihren Reihen und werden künftig von der polnischen Regierungspartei PiS dominiert (dann 62 Mandate).
Mit dem Auszug aus den europäischen Institutionen sind die Briten für das kommende Jahr nicht mehr in Brüssel und Straßburg vertreten, obwohl sie vorerst weiterhin an EU-Regelungen gebunden bleiben. Das wird aber nur ein provisorischer Zustand sein, der mit dem 31. Januar 2021 definitiv enden soll. Schatzkanzler Sajid Javid hat in einem Interview erneut hervorgehoben, dass es nach diesem Datum keine automatische Befolgung von EU-Regeln mehr geben werde. In Davos wurde Javid – und damit implizit der abwesende Boris Johnson – von den versammelten Wirtschaftsgrößen für die Überwindung der Brexit-Unsicherheit gefeiert.
Das nächste Kapitel: Handelsverträge mit aller Welt
Das Abweichen von den EU-Regeln wird auf der Insel dabei nicht als wirtschaftsfreundliches Signal gesehen und ist doch notwendig, um London die volle Freiheit für weltweite Handelsabkommen zu geben. Bis Ende des Jahres wollen die Briten nicht nur ein Abkommen mit der EU abschließen, sondern auch einen Freihandelsvertrag mit den USA. In Davos verkündete US-Finanzminister Steven Mnuchin, dass ein solcher Vertrag auch für Donald Trump »absolute Priorität« habe. Das Abkommen werde für beide Seiten »großartig« werden. Von Davos war Mnuchin direkt nach London gereist, um die Verhandlungen anzustoßen. Danach kündigte er an, dass es hoffentlich noch in diesem Jahr zu einem Vertrag kommen werde.
Daneben wollen die Briten prioritär mit Japan, Australien und Neuseeland verhandeln. Im Falle zäher Verhandlungen mit der EU hat Johnson bereits lanciert, dass er sich auch Strafzölle gegen französischen Käse oder deutsche Autos vorstellen könnte. Seinen wirklichen Verhandlungsplan will Johnson Anfang Februar vorlegen.
»Unser System wird fairer und gerechter werden«
Erst mit dem definitiven Ausscheiden aus der Union in etwa einem Jahr wird auch die Freizügigkeit der EU-Bürger in Großbritannien (und umgekehrt der Briten in der EU) enden. Als wirtschaftsfreundlich gilt auch der Rückzug aus der EU-Freizügigkeit und damit das Ende der billigen Arbeitskräfte vom Kontinent nicht, das mit Johnson schon 2021 kommen soll (nicht erst 2023, wie ursprünglich von Theresa May vereinbart).
Doch die britische Regierung dürfte auch hier versuchen, die Verluste an der EU-Front durch globale Gewinne auszugleichen. So überraschte Johnson zuletzt mit dem Vorschlag, das bisher verlangte Mindesteinkommen von 30.000 Pfund für jeden Zuwanderer abzuschaffen. Dies steht in gewissem Gegensatz zur restriktiven Einwanderungspolitik seiner Vorgängerin und signalisiert eine größere Offenheit auch für Niedrigverdiener aus aller Welt – solange sie nur ein Jobangebot im Königreich vorweisen können.
Auf dem Londoner »UK–Africa Summit« kündigte Johnson zudem an, dass sich das britische Einwanderungssystem radikal ändern wird: »Wenn Sie zu uns kommen wollen, um an unseren Universitäten zu studieren, wenn Sie eine Rolle in der kommenden High-Tech-Revolution spielen wollen, wenn Sie mit den Titanen unserer Finanzwelt arbeiten wollen, dann werden Sie erfreut sein zu hören, dass sich eine Sache ändern wird. Unser Einwanderungssystem. Unser System wird fairer und gerechter werden. Indem wir die Menschen gleich behandeln, wo immer sie auch herkommen, indem wir Menschen für wichtiger halten als ihre Pässe, können wir die besten Talente aus der ganzen Welt anziehen, wo immer sie auch sein mögen.«
Im Hintergrund steht die Einführung eines Punktesystems, mit dem Johnson dem Vorbild Australiens folgen will. Der konservative Think-tank »Migration Watch UK« kritisierte, dass ein am australischen Modell ausgerichtetes Einwanderungssystem die Zahlen auch erhöhen könnte. Allerdings stünde dies im Gegensatz zu den im Wahlkampf bekundeten Absichten der Konservativen. Eins lässt sich bereits festhalten: Während die EU sich mit der Migration herumschlägt, die sie eben hat, wird Johnson die Einwanderung nach Großbritannien aktiv gestalten.
So sollen, wie am gestrigen Tag bekannt wurde, die Beschränkungen für hochbegabte Einwanderer gelockert werden, um mehr Naturwissenschaftler, Forscher und Mathematiker anzuziehen. Die neuen Visa (»global talent visa«) sollen unter anderem den Familiennachzug für Hochbegabte erleichtern. Zugleich will die Regierung die Fördergelder für mathematische Studien und Dissertationen verdoppeln. Der Mathematikprofessor Ivan Fesenko begrüßte die Entscheidungen der Regierung: »Die bessere Finanzierung der mathematischen Forschung bedeutet, dass wir sehr viel bessere Chancen haben, die vierte industrielle Revolution anzuführen: Künstliche Intelligenz basiert grundlegend auf Mathematik und seinen Anwendungen.«