Tichys Einblick
Großbritannien zwischen Brexit und Corona

Boris Johnsons Brexit-Berater im Corona-Kreuzfeuer

Boris Johnsons Berater und Brexit-Stratege Dominic Cummings hat die Lockdown-Regeln verletzt. Gut so, meinen einige, da die Neuinfektionen zuletzt stark zurückgegangen sind. Andere eröffnen die Jagd auf den Mann, weil sie diese Regierung und ihr Programm grundsätzlich ablehnen.

imago images / PA Images

Wie man jüngst auch in deutschen Zeitungen lesen konnte, ringt Boris Johnson noch mit einem funktionierenden Zollregime für Nordirland. Dabei sind die Grundlinien dazu schon durch das Austrittsabkommen mit der EU gelegt und müssen nun noch konkretisiert werden. Insofern gibt es hier wenig Neues und eigentlich auch keine Kehrtwenden, nur den schwierigen Weg zu einer Lösung.

Der Text eines irischen Rundfunkjournalisten, der sozusagen als Gralshüter des heiligen Karfreitagsabkommens auftritt, zeigt deutlich: Auf der irischen Insel ist Politik noch Zeremoniell. Alle Beteiligten bewegen sich entlang der interkonfessionellen Abmachung, die sich kaum biegen lässt und auf keinen Fall brechen darf. Insofern könnte der nördliche, zum Vereinigten Königreich gehörige Inselteil auf Dauer einen Zwischenstatus genießen, der diesem zeremoniellen Charakter Rechnung trägt und dabei vielleicht sogar noch etwas ökonomischen Gewinn abwirft. Doch den wird Brüssel wohl zu minimieren versuchen.

Auf der anderen Seite steigen gerade die Chancen, dass der Brexit »härter« wird als gedacht. Durch den europaweiten Shutdown der produzierenden Wirtschaft wurden die meisten Lieferketten ohnehin unterbrochen. Ist damit das erwartete Chaos eingetreten? Vielleicht bei den deutschen Corona-Soforthilfen, aber kaum in der Wirtschaft, die sicher umdisponieren musste, aber derzeit eher um die Nachfrage besorgt sein dürfte. Die wirtschaftlichen Verluste, die der Corona-Krise auf dem Fuße folgen, dürften die etwaigen Einbußen durch einen harten Brexit um ein Vielfaches übertreffen. Das reale Abgeschnittensein der Briten vom Kontinent könnte so zur idealen Gelegenheit für einen Neustart werden, die wirkliche »Stunde Null« des EU-Austritts – obwohl es eben nicht die Entscheidung der Briten für eine eigene Wirtschaftszone war, die den alten Kontinent in dieses Chaos der anderen Art, diesen ächzenden Stillstand gestürzt hat.

Mit dem Coronavirus scheint eine schmutzige Bombe der eigenen Art über Europa niedergegangen zu sein, ein viraler Niederschlag, gegen den nun alles verzweifelt Regenschirme kauft. Immerhin ist so fürs Erste nicht mehr der gemeine Brite an den Gefahren der unordentlichen Innovation schuld. Der neue Zustand wird folglich – wenn auch ängstlich – von den Eliten gefeiert, während sich der normale Bürger eher murrend oder still verwundert an die Idee des Lockdowns, an Maskentragen und Abstandhalten gewöhnt.

Zurück in die Brexit-Gräben

Aber mit dem langsamen Abschied vom Lockdown, der sich nun auch in England ankündigt, wachsen auch die Selbstheilungskräfte der Skandalisierungsmaschine in Teilen der britischen Presse, bei der BBC und den Twitterati. Dass eben diese Maschine wieder anläuft, könnte ein Hinweis darauf sein, dass sich das Land von Covid-19 erholt. Die jüngsten Empörungsbewegungen der Meinungsmacher verbinden sich allenfalls noch durch ihren Anlass mit Corona und den Folgen.

Am letzten Wochenende ist einmal mehr Dominic Cummings, der höchste, nicht mehr sehr geheime Ratgeber von Boris Johnson, zum Thema für Gazetten und Vignetten geworden. Es wird also erneut – mit allerdings ungesehener Vehemenz – der Rücktritt des einflussreichen Beraters gefordert. »Remoaner Revenge« nannte Brendan O’Neill im Magazin Spiked die jüngsten Angriffe auf Cummings, die diesen wegen eines oder mehrerer Verstöße gegen die britischen Ausgangsregeln zu Fall bringen wollen. Es geht also auch wieder einmal um die Rache der von der Geschichte schlecht Behandelten, die ohnehin und immer schon gegen diese Regierung und ihr Programm waren.

Dabei bleibt immer noch allzu deutlich, dass eine solche Geschichte auch irgendwie Clickbait für die Kommentatoren des linksliberalen Establishments ist: Sie müssen darauf einsteigen, weniger aus Berufsehre denn aus Meinungsstolz. Aber zugleich zeigen sie durch ihre allfälligen Angriffe nur, wie abhängig sie eigentlich von ihrem persönlichen Tabu, dem konservativen Revolutionär Cummings, sind. Nicht ganz klar ist, ob hier von einer geistigen oder gar spirituellen Dominanz zu reden ist oder schlicht von der Macht des Ausgegrenzten.

Cummings auf essentieller Fahrt

Was war der Anlass? Am 26. März, kurz nachdem Boris Johnson einen britischen Lockdown ausgerufen hatte, wurden er und sein Gesundheitsminister Matt Hancock positiv auf das neue Coronavirus getestet. Am folgenden Tag erkrankte Mary Wakefield, Journalistin und Ehefrau von Dominic Cummings – allerdings nicht sicher an Covid-19. Bis heute sind weder sie noch Cummings getestet worden. Nach seiner eigenen Darstellung war Cummings zunächst nur besorgt, sich bei seinen Kontakten mit Johnson oder anderen Ministern angesteckt zu haben. In der komplizierten Situation – das Paar hat einen vierjährigen Sohn – entschloss er sich am Abend des 27. März, auf das Anwesen seiner Eltern ins 400 Kilometer entfernte Durham im Nordosten Englands zu fahren. Dort stand ein eigenes Häuschen für die Familie bereit. Zudem bewohnt Cummings’ Schwester ein weiteres Haus auf dem Grundstück und hatte ihre Hilfe angeboten.

Der Plan war offenbar, den kleinen Sohn in die Obhut der Schwester bzw. ihrer Töchter zu geben, falls beide Eltern stärkere Symptome zeigen sollten. Das wurde zwar nicht nötig, doch am nächsten Tag wachte Cummings mit typischen Covid-Symptomen auf. In einem Artikel gab Cummings’ Frau, die Journalistin Mary Wakefield, einige Einblicke in ihre leichteren Symptome (wie Kopfschmerzen und Übelkeit) und den schwereren Verlauf bei ihrem Mann, der letztlich zehn Tage mit hohem Fieber und Muskelkrämpfen bei schwachem Atem darniederlag. Kein Wort allerdings davon, dass sie nicht in London waren. Zur Märtyrergeschichte taugt der Bericht wohl noch nicht, obwohl man bemerken kann, dass Cummings im Zuge der jetzigen Diskussion eine etwas sympathischere Presse erhält als sonst üblich. Am Montagabend gab Cummings eine einstündige Pressekonferenz im Rosengarten von Downing Street, um sich besser zu erklären. Auch das inmitten all der nie dagewesenen Ereignisse eine Premiere.

Am Ende bleibt es bei seinem Verstoß gegen die Regeln, der vor allem in der Autofahrt von London in den Nordosten besteht. Dem herrschenden Rationale zufolge wäre damit die Gefahr einhergegangen, das Virus stärker in einem anderen Landesteil zu verbreiten. Doch wie sollte das eigentlich geschehen, wenn beide Gatten sich in Durham isolierten? Die Journalisten fragten insbesondere nach Zwischenstopps, die Cummings aber verneinte. Aber vor allem: Wie hätte das Paar Cummings-Wakefield seinen Sohn ohne Hilfe eines Kindermädchens – denn die waren bis vor kurzem auch verboten – in London versorgen sollen, etwa in dem schlimmen Fall, dass beide hospitalisiert hätten werden müssen? Das Regelwerk der Regierung spricht in der Tat davon, dass die Existenz kleiner Kinder zu den »außergewöhnlichen Umständen« gezählt wird, die besondere Verhaltensweisen rechtfertigen können.

Ein Regierungssprecher teilte mit: »Da seine Frau mutmaßlich mit dem Coronavirus infiziert war und angesichts der hohen Wahrscheinlichkeit, dass sich auch sein Zustand verschlechtern würde, war es für Dominic Cummings essentiell, dass sich jemand um sein kleines Kind kümmern würde.« Das Schlüsselwort ist hier in der Tat »essentiell« – denn alles durfte nur noch essentiell sein im Corona-Königreich, ob Autofahrten oder Einkaufstouren. Flankiert wurde dieses Statement mit Bildern eines sonnengebräunten Cummings in Freizeitkleidung mit Kinderfahrrad und Spielball. Das nennt sich wohl, das Volk mit Entertainment ablenken – oder Familienwerte demonstrieren. Je nach Betrachtungsweise.

Inzwischen sind weitere Nachrichten aufgetaucht, etwa die Beobachtung eines pensionierten Chemielehrers, der Cummings und Ehefrau am 12. April wiederum in Durham in einen Wagen einsteigen sah und ordnungsgemäß »baff« war, da man zu jener Zeit doch um praktisch jeden Preis zu Hause bleiben sollte, um »Leben zu retten«. (Wenn sich Periodensysteme mit solch radikaler Unvorhersehbarkeit verhielten wie Menschen gelegentlich, dann wäre es nichts mit dem Chemie-Unterricht.) Und angeblich soll Cummings eine Woche später noch einmal von London nach Durham gereist sein, um dort auf einem morgendlichen Sonntagsspaziergang die Hasenglöckchen (passenderweise Hyacinthoides non-scripta) zu inspizieren. Zwischendurch war er in London zur Arbeit erschienen. Die letzte Reise wird von Cummings bestritten, am 12. April habe sich die Familie bemüht, wieder nach London zu kommen, und habe daher eine kleine Tour zu einer benachbarten Burg unternommen, um die Fahrtüchtigkeit Cummings’ zu erproben. Dabei begegneten sie dem ehemaligen Chemielehrer, dem Wakefield »frohe Ostern« wünschte.

»Es geht nicht darum, was ihr denkt«

Von der Presse befragt, was er sich dabei gedacht habe, erwiderte Cummings anfangs sein übliches »Who cares«. Um genau zu sein, sagte er zu einem Journalisten: »Wen kümmert schon, ob etwas gut aussieht? Die Frage war, das Richtige zu tun. Es geht nicht darum, was ihr denkt.« Komisch nur, dass Cummings’ Vater die Polizei in Durham anrief und sie um einen Anruf bei seinem Sohn am nächsten Morgen bat. Diese Kommunikation wird inzwischen von der Regierung bestritten, vielleicht um den Eindruck einer gewissen Sorglosigkeit zu erwecken und den anderen Eindruck der Sonderbehandlung des hohen Regierungsberaters zu vermeiden.

Die Diskussion um Cummings wird wohl noch etwas anhalten, aber am Ende vermutlich versanden. Denn weder hat der Chefberater vor zurückzutreten, noch hat Johnson irgendwelche »uneingeschränkten« Solidaritätsadressen ausgesprochen, die in einen Rücktritt (als ihrem logischem Gegenbild) münden müssten. Was Johnson allerdings gesagt hat, ist, dass er seinen Berater nicht »den Hunden« ausliefern werde. Später drückte er dasselbe etwas gewählter aus: Cummings habe gehandelt, wie jeder Familienvater in seiner Situation gehandelt hätte, sein Verhalten sei legal und integer gewesen. Die offiziellen Corona-Regeln weichte Johnson so durch die Hintertür und im Nachhinein etwas auf.

Ein Kabinettsmitglied lässt sich derweil mit der staatstragenden Note zitieren: »Man kann Popularität verlieren, aber man darf nicht das Vertrauen verlieren.« Die Geschichte sei eine Ablenkung von dem, »was die Regierung tun müsste«. Was aber, wenn es keine Ablenkung, sondern eine Hinlenkung wäre, ein freundlicher Hinweis aus dem Off, dass die Abstands- und Nichtbewegungs-, also eigentlich Stillstandsregeln auf Dauer vielleicht etwas übertrieben sind?

Der Lockdown als psychologische Politik

Im Grunde ist ja alle Lockdown-Politik eine Art psychologischer Politik. Deshalb wird jetzt auch die Cummings-Affäre von einigen Politikern, aber auch von der Polizei so hoch gehängt: Wenn man dieses Verhalten als vorbildlich hinstelle, werde es sehr schwer, die Corona-Regeln noch zu überwachen. Genau das wollen einige Unterstützer von Cummings – wie der Spiked-Herausgeber Brendan O’Neill – erreichen. Doch sie scheinen wenige im Vergleich mit den empörten Bürgern, die nun tagtäglich von den Boulevard-Organen aufgefahren werden. Andere prophezeien freilich, dass die Briten bald andere – nämlich wirtschaftliche – Sorgen haben werden. Nichts übertreiben, könnte die Maßgabe für diesen Sommer werden. Auch nicht die Regeln für den Menschenpark.

Das wird am Ende die Ökonomie den Handelnden beibringen, und zwar auf den drei Ebenen der Arbeit, des Konsums und der Armut, die natürlich zugleich miteinander verbunden sind. Gesprochen wird schon jetzt über einen sprunghaften Anstieg der Nachfrage nach kostenlosem Essen, was zu unbekannten Schlangen vor einer Londoner Tafel führte.

Die Betreiber von Bars, Pubs und Restaurants – doch wohl nicht nur sie – bringt derweil die Zwei-Meter-Regel auf die Barrikaden, durch die jede Art von Kundenverkehr und damit auch die damit zu erzielenden Umsätze stark eingeschränkt werden. Man fordert die Reduktion auf einen Meter. Wie immer sind die Briten da, wo es nutzen könnte, schnell bei der Hand mit internationalen Vergleichen: Italien, Frankreich und die WHO – wie verlässlich sie auch immer sein mag – fordern einen Meter Abstand, Australien und Deutschland anderthalb, die USA 1,8 Meter (also sechs Fuß), außer den Briten wollen aber nur die Spanier volle zwei Meter. Die Frage ist, was die sorgsam berechneten Abstände überhaupt nützen, auch wenn man sich um die angemessene Belegung von Gasträumen vermutlich Gedanken machen muss. In Flugzeugen sorgt ja angeblich die von den Maschinen hergestellte Quasi-OP-Luft für Keim- und Virenfreiheit. Auch das glaubt man noch nicht so ganz.

Schließlich das Thema Arbeit: Nach den konservativen Hinterbänklern sprechen sich nun auch Teile des Kabinetts für ein baldiges Ende der hemmenden Lockdown-Maßnahmen für diesen Bereich aus. Die Mehrheit der Kabinettsmitglieder unterstützt einen »Zurück-an-die-Arbeit«-Ruf für den kommenden Monat. Noch steht ihnen einen Trio der »Gesundheitspolitiker« gegenüber, bestehend aus dem aktuellen Minister Matt Hancock, dann Michael Gove, der dasselbe Amt früher ausübte, und Johnson selbst, der hierin auf seine wissenschaftlichen Berater hört und wohl hören muss.

Aber vermutlich wird Johnson seine »Ermutigung zur Arbeit« bald noch einmal intensivieren, zumal auch die Londoner Zahlen durchaus ermutigend sind. Was sich schon länger in einer Reproduktionszahl von nur noch 0,4 ankündigte, bewahrheitet sich nun auch durch die aktuellen Testergebnisse, die wieder das Niveau von Anfang März erreichen: In London ist das Virus auf dem Rückzug. Aber Bevorzugungen für einzelne Landesteile soll es nicht geben, höchstens könne man Hotspot-Verschärfungen hier und da wieder zurücknehmen.

Brexit-Klärungen ab Juni

Wirklich Neues zum Brexit lieferte derweil das Unterhaus. Mit der konservativen Stimmenmehrheit beendete man die Freizügigkeit mit der EU. Innenministerin Priti Patel sagte es so: »Wir beenden die Freizügigkeit, um Großbritannien für die Welt zu öffnen.« Der Schengen-Raum ist ein Raum der Sonderrechte für EU-Bürger. Für das Vereinigte Königreich können diese Sonderrechte seit dem Brexit keinen Bestand mehr haben. Es war also mehr ein Vollzug des Notwendigen, als ein origineller Akt britischer Gesetzgebung. Dagegen polemisierten einige natürlich trotzdem, darunter der erwartbare Guy Verhofstadt. Das Gesetz entspreche eher einer hochgezogenen Zugbrücke, jammerte der verzweifelte Europhile. Dabei sind die Zugangsbedingungen der Regierung Johnson klar (Punktesystem nach australischem Modell).

Weitere Klärungen über die Beziehungen zwischen EU und UK werden im Juni erwartet, wenn die beiden Verhandlungsteams die Chancen eines gemeinsamen Handelsabkommens besprechen wollen. Eine Verlängerung der Frist, die am 31. Dezember ausläuft, hat Johnson bisher kategorisch ausgeschlossen. Er setzt also wiederum auf eine Lösung unter Druck, und wieder geht der Glaube um, dass Johnson tatsächlich ein Abkommen will. Es kann aber auch sein, dass die Verhandler im Juni feststellen, dass eine gemeinsame Einigung unwahrscheinlich ist. Dann könnte man sich immer noch auf den Handel zu WTO-Bedingungen einstellen und vielleicht auf diesem »gemeinsamen Spielfeld« einige Fragen klären.

Die Ausgangspunkte der beiden Seiten sind heute, genau besehen, unvereinbar: Die britische Seite will ein Freihandelsabkommen, wie die EU es bereits mit Kanada hat. Die EU-Verhandler wünschen sich immer noch eine direkte Einflussnahme auf ihren Nachbarn – also etwas, das die Briten mit ihrem Votum abgelehnt haben. Die kommenden Verhandlungen werden keinesfalls leichter als die vom letzten Jahr, ja, sie könnten vielleicht 27 Mal schwieriger werden: Denn dieses Mal muss nicht eine »irische Frage« geklärt werden, es stellen sich vielmehr Handelsfragen mit 27 EU-Mitgliedern.

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