Tichys Einblick
»You must stay at home«

Boris Johnson: späte Ausgangssperre

Bemerkenswert ist, wie Boris Johnson sein spätes Ausgangsverbot für Großbritannien intoniert: »Kein Premierminister möchte Maßnahmen wie diese veranlassen. Ich kenne den Schaden, den diese Disruption anrichtet – im Leben der Menschen, ihren Betrieben und Arbeitsstellen.«

Boris Johnson

Leon Neal - WPA Pool/Getty Images

Nachdem der britische Premier sich endlich zu einer Ausgangssperre bereitfand, hat prompt eine Diskussion über deren Sinnhaftigkeit und die damit verbundene Gesetzgebung im Vereinigten Königreich eingesetzt. Dabei wird auch eine wissenschaftliche Studie herangezogen, die nachdrücklich zu breitgestreuten, randomisierten Tests rät. Wie viele Infizierte hat es wirklich gegeben?

Wenn es derzeit einen liberalen, vielleicht libertären Regierungschef in Europa gibt, dann ist es wohl Boris Johnson. Insofern ist seine Entscheidung, ein Ausgangsverbot über Großbritannien zu verhängen bemerkenswert: »Kein Premierminister möchte Maßnahmen wie diese veranlassen. Ich kenne den Schaden, den diese Disruption anrichtet – im Leben der Menschen, ihren Betrieben und Arbeitsstellen.« Daher werde man Wirtschaft und Arbeitnehmer zugleich mit einem gewaltigen Programm unterstützen. Es war dann doch kein Spaziergang hin zu einer wirksamen Durchsetzung der sozialen Distanzierung in der Londoner U-Bahn, auf den Straßen und in den Parks des Königreichs. Zudem sagten Modellrechnungen für den Fall einer ungebremsten Pandemie bis zu 260.000 Tote in Großbritannien voraus.

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Es mag richtig sein, dass man das Virus am Ende nicht wird eindämmen können, weil es sich einfach zu leicht verbreitet. Die Aufgabe ist dann, die Ausbreitung so weit zu verlangsamen, dass das Gesundheitssystem eines gegebenen Landes damit umgehen kann. Und so gab Johnson der lieben Not nach und verhängte ein allgemeines Ausgangsverbot. Denn »wenn zu viele Menschen zur selben Zeit ernsthaft« erkrankten, wäre das nationale Gesundheitssystem NHS nicht mehr in der Lage, mit der Situation umzugehen. Dann würden »mehr Menschen in Gefahr geraten zu sterben, nicht nur durch das Coronavirus, sondern auch durch andere Krankheiten«. Daher sei es von vitalem Interesse, die »Verbreitung der Krankheit zu verlangsamen«. Johnsons Botschaft in einem Satz: »You must stay at home.«

Die ›Lockdown-Reaktionszeit‹ der Briten war damit relativ lang: Deutschland ebenso wie Spanien oder Frankreich hatten spätestens bei der Marke von je 200 Toten im Land Ausgangsbeschränkungen erlassen. Johnson wartete etwas länger, bis die Marke von 355 Toten erreicht war. In Italien hatte es 800 Tote gegeben, bevor eine Ausgangssperre eingeführt wurde.

Dabei sind die nun von Johnson verhängten Regeln etwas strikter als die deutschen, so sie denn kontrolliert werden. Die Briten dürfen ihre Wohnungen und Häuser demnach nur verlassen,

Und das seien auch schon alle Gründe, aus denen man das eigene Haus verlassen sollte, schloss Johnson diese Aufzählung in seiner abendlichen Fernsehansprache, die er diesmal allein, im Sitzen, mit einer bald festverklammerten, bald fäusteballenden Gestik. Wo immer möglich solle man die Lieferdienste für Lebensmittel und anderen Bedarf nutzen. Die britische Regierung hat daher alle nicht-essentiellen Geschäfte geschlossen, ebenso Bibliotheken, Kirchen und andere Gotteshäuser. Parks bleiben aber zum Zweck der Leibesertüchtigung geöffnet. Größere Gruppen sollen von der Polizei allerdings zerschlagen werden. Ansagen, die an Klarheit nichts zu wünschen lassen.

Von Kommentatoren – wie dem konservativen Robert Peston – wird inzwischen sogar die Frage gestellt, inwieweit Wirtschaftsunternehmen, die nicht essentiell für den Gesundheitsschutz oder die öffentliche Sicherheit sind, aber die körperliche Anwesenheit der Angestellten erfordern, weiterhin arbeiten sollten – setzen sie ihre Mitarbeiter doch einem erhöhten Erkrankungsrisiko aus. Diese Fragen sind aber wohl nur in einem Land erlaubt, dass sich sehr weitgehend von der Realwirtschaft gelöst hat und dessen Geschäftsmodell weitgehend auf (auch virtuell zu erbringenden) Dienstleistungen beruht.

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Der britischen Polizei ist indes nicht ganz klar, wie sie die von der Regierung geforderten Maßnahmen durchsetzen kann. Fürs erste müsse man auf die eigene Überzeugungskraft zurückgreifen, bis eine Notstandsgesetzgebung die Durchsetzung der neuen Regeln auch formal erlaube. Diese Lücke dürfte inzwischen ein spezielles Corona-Notstandsgesetz geschlossen haben, das der Regierung auf 329 Seiten erhebliche Sonderrechte während der Pandemie einräumt. Das Gesetz ist zunächst auf zwei Jahre befristet und kann theoretisch schon in einem halben Jahr auslaufen – wenn die Regierung sich dazu bereitfindet. Andere fragen sich, ob es je auslaufen wird, denn auch mit dem Erreger SARS-CoV-2 werden wir in Zukunft wohl leben müssen. Die Opposition gegen das Gesetz erhält dementsprechend verschiedene Grade der Empörung.

Scharf kritisiert wird das Gesetz von Bürgerrechtsgruppen wie »Big Brother Watch«. Die »gefährlichste« Neuerung ist laut Silkie Carlo das uneingeschränkte Recht, potentiell infizierte Personen festzunehmen und zu isolieren. Auch die Einschränkungen des Versammlungsrechts und das Recht zur Verfolgung der Handydaten gelten der Vorsitzenden der Bürgerinitiative als kritisch. Nun sollen die strengen Ausgangsregeln zunächst nur bis Ostern gelten, aber eine Verlängerung ist wahrscheinlich, zumal man derzeit noch bei jeder Lockerung einen Anstieg der Fallzahlen erwartet. Das hat zumindest das Beispiel der einstigen Kronkolonie Hongkong die Briten gelehrt.

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Zwar sind die Fallzahlen in Großbritannien noch immer niedrig im Vergleich mit vielen seiner kontinentalen Nachbarn. Allerdings liegt ähnlich wie in den Niederlanden die aufgrund der diagnostizierten Fälle errechnete Sterblichkeit (case-fatality-rate) mit um die 5% relativ hoch, was auf eine zurückhaltende Testpraxis schließen lässt. Besorgnis in Downing Street dürfte zudem ausgelöst haben, dass man von einem baldigen exponentiellen Wachstum der noch relativ flachen Kurve ausgehen muss. Insofern würde man ohne eindämmende Maßnahmen wohl in knapp zwei Wochen das italienische Niveau erreichen. Johnson hat unterdessen 7.500 Ärzte aus dem Ruhestand reaktiviert, um der Knappheit im nationalen Gesundheitssystem entgegenzutreten.

Zugleich will Johnson mittelfristig von rund 5.500 Tests, die derzeit täglich im Vereinigten Königreich durchgeführt werden, auf 25.000 Tests am Tag kommen. In Deutschland werden angeblich vier Mal so viele Tests gemacht. Doch scheint es hierzulande an den ergänzenden Laborchemikalien zu fehlen. Insofern ist auch im Ursprungsland des Covid-19-Tests keine ausgreifende Testung der Bevölkerung möglich. Diese wäre aber sehr wohl nötig, wie nun eine Studie der Universität Oxford meint – und zwar nicht nur um das wirkliche Ausmaß der Ansteckungsrate zu ermessen, sondern auch um der Pandemie richtig zu begegnen.

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In Britannien hat, kaum dass Johnson seinen Lockdown verkündet hatte, bereits eine rege Diskussion über dessen Sinnhaftigkeit eingesetzt. Im Moment wollen die Kritiker zwar noch nicht an den Maßnahmen rütteln, sie diskutieren aber die Bedingungen einer baldigen Rückkehr zur Normalität. Die Oxforder Studie vermutet, dass das Virus in Großbritannien schon vier Wochen vor dem ersten Todesfall, ab Mitte Januar spätestens zirkulierte und dass die britische Bevölkerung folglich schon jetzt viel stärker infiziert ist, als die Tests es abbilden. Je nach den verwendeten Grundannahmen wären inzwischen bereits 36 oder 68 Prozent der Briten infiziert. Wenn das Inselvolk aber schon so nahe an der berühmten »Herdenimmunität« läge, dann müssten auch die Neuinfektionen bald abnehmen und wenige Tage später auch die schweren Fälle und Krankenhauseinweisungen. Diese Annahmen machen ein schnelleres Ende der Ausgangsbeschränkungen wahrscheinlich, als gemeinhin für möglich gehalten. Oder ist das nur die berühmte Jagd nach dem »silver lining«, dem Hoffnungsstreif am Horizont?
Sind bereits Millionen Briten angesteckt?

Der wissenschaftliche Berater der Regierung, Sir Patrick Vallance, hat nun eine Zahl in den Raum gestellt, nach der auf einen Todesfall durch das Coronavirus 1.000 Infektionen kommen. In diesem Falle wäre auch die deutsche Sterblichkeit von derzeit 0,5% noch zu hoch angesetzt. Denn tatsächlich wären dann in Deutschland nicht gut 31.000 Menschen mit dem Virus infiziert, sondern 149.000, also bald fünf Mal so viele, entsprechend den derzeit 149 Todesfällen (Zahlen vom 25. März laut Robert-Koch-Institut). Die tatsächliche Sterblichkeit läge gemäß Vallance bei 0,1%. Doch das gilt sicher nur, wenn die medizinische Versorgung über den gesamten Lauf der Pandemie für alle Patienten aufrechterhalten werden kann.

Wenn aber die obengenannte Oxforder Studie recht hätte, wendet Ross Clark vom wöchentlich erscheinenden »Spectator« ein, dann gäbe es schon jetzt 23 bis 44 Millionen Infizierte in Großbritannien. Die Durchseuchung wäre vielleicht schon an ihrem Ende oder zumindest weit fortgeschritten. Dann ergäbe auch die Eindämmung weniger oder keinen Sinn mehr. Und auch die Sterblichkeit wäre dann eine äußerst geringe.

Nun, der Premierminister scheint sich auf solche Annahmen noch nicht verlassen zu wollen, im Gegenteil. Was aber eigentlich Not tut, um die Pandemie besser zu verstehen, wären eben randomisierte Antikörpertests, die einen Überblick über die reale Durchseuchung böten. Dieselben gibt es wohl noch in keinem Land der Erde. Doch erst wenn man diese Zahlen für verschiedene Länder kennt, könnte man die Gefährlichkeit der Krankheit – immer nach Maßgabe der bisherigen Erfahrungen – besser einschätzen und so auch die richtigen Wege zu ihrer Bewältigung finden.

Die Universität Oxford will zusammen mit den Universitäten von Cambridge und Kent möglichst bald mit den noch zu entwickelnden Antikörpertests beginnen, die eine Aussage über die wirklich erlangte Immunität erlauben. Auf Ergebnisse hofft man innerhalb von ein bis zwei Wochen.

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