Tichys Einblick
Revolte der uneinigen Flügel

Boris Johnson bleibt im Amt – wenn auch geschwächt

Die Vertrauensabstimmung in der konservativen Fraktion hat Johnson eindeutig gewonnen. Dennoch steht er vor einem Scherbenhaufen. Ein gutes Drittel der Abgeordneten stimmte gegen ihn. Einigkeit wäre nötig, aber vermutlich geht es unruhig weiter. Der Premier könnte auch davon profitieren.

IMAGO / ZUMA Wire

In einem holzgetäfelten Tagungsraum sitzen die konservativen Abgeordneten einander in Reihen gegenüber und sind meist eifrig an ihren Smartphones beschäftigt. Andere stehen zusammen und diskutieren noch in einer Mischung aus Vertrautheit und Distanz, als der Vorsitzende des „1922 Committee“, Graham Brady, ans Pult tritt, um das Ergebnis der parteiinternen Abstimmung zu verkünden. Es ist ein Sieg für Johnson. Alle 359 Stimmen waren gültig. Der parlamentarische Arm der Partei hat Vertrauen in den Premier.

Johnson überlebt das Misstrauensvotum der konservativen Unterhausabgeordneten mit der Unterstützung von 61 Prozent seiner Fraktion. 148 Abgeordnete, deutlich mehr als ein Drittel der konservativen Fraktion, hat am Montagabend in geheimer Wahl gegen Johnson gestimmt. Das ist ein Schlag. Im Vorfeld hatten Johnsons Unterstützer stets von einer „komfortablen Mehrheit“ gesprochen, die er sich sichern werde. 61 Prozent Zustimmung in der eigenen Fraktion erscheinen erst einmal nicht als Höhepunkt des Komfortablen.

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Solches gilt als Pyrrhus-Sieg im Westminster-System, das den Premierminister als „Ersten unter Gleichen“ (primus inter pares) nicht nur in seinem Kabinett, sondern auch in seiner Fraktion definiert. Zu Recht wurde bemerkt, dass die 148 konservativen Abgeordneten der Opposition aus Labour, Liberaldemokraten und SNP wertvolle Schlüsse auf den im Amt verbleibenden Premier schenken. Und natürlich sagte der Oppositionsführer Keir Starmer – kaum überraschend –, dass die Briten genug von Johnson hätten. Laut Umfragen wünschen sich aber wirklich 56 Prozent der Bürger Johnsons Rücktritt, auch wenn noch kein Nachfolger in Sicht ist.

211 Abgeordnete stimmten für den Premier. Der sprach von einem „sehr guten Ergebnis für die Politik und für das Land“. Was man nun wolle, sei „vorwärtskommen“. Und vielleicht hat Johnson nun wirklich die Chance auf eine kleine Atempause, um die Agenda seiner Regierung weiterzuführen, die noch lange nicht abgearbeitet ist.

Caesar in der britischen Politik

Die allgemeine, von der britischen Presse ausgedrückte Erwartung ist, dass Johnson diese seine „Verwundung“ noch eine Weile mit sich herumtragen wird, um in nicht allzu ferner Zukunft aus irgendeinem anderen Grund zurückzutreten – ähnlich wie Theresa May, die ebenfalls ein Misstrauensvotum gewann (mit 63 Prozent ihrer damals noch deutlich kleineren Fraktion) und ein halbes Jahr später durch Boris Johnson ersetzt wurde. Dazu könnten sogar, wie die BBC nicht müde wurde zu betonen, die Fraktionsregularien geändert werden, um ein neues Misstrauensvotum vor Ablauf der üblichen Jahresfrist zu ermöglichen.

Das ist, wie gesagt, die etablierte Sicht der Dinge im britischen „Kommentariat“ – so nennt ein Teil der britischen Presse gelegentlich milde abfällig einen anderen Teil derselben Presse. Sollte Johnson sich wider Erwarten doch länger halten, dann wird es sein, weil er nicht wie Theresa May oder John Major ist, den ebenfalls ein besseres Ergebnis einst nicht vor dem baldigen Fall bewahrt hat.

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Doch Johnson ist wohl wirklich anders. Man könnte ihn den Caesar der britischen Politik nennen. Denn auch wenn einige ihn für seine präsidentiellen Ambitionen schelten – das ist das Analogon der altrömischen Königskrone in der heutigen britischen Politik –, kann er sich ähnlich wie der historische Gaius Iulius auf das Volk stützen, um gegen die Senatoren Recht zu bekommen. Solange kein Brutus kommt, dürfte Johnson also sicher sein.

Und der ist noch nicht wirklich in Sicht. Wettbüros sehen den ehemaligen Gesundheits- und Außenminister Jeremy Hunt mit 15 Prozent als den derzeit wahrscheinlichsten konservativen Nachfolger Johnsons. Das ist nicht unbedingt ermutigend für die Kritiker, zumal der hölzerne Oppositionsführer Starmer auf gleicher Höhe liegt. Umfragen sind freilich ein anderes Feld.

Johnsons Kritiker sind zerstritten

Darüber hinaus sind die konservativen Johnson-Kritiker auch in sich zerstritten. Der letzte Misstrauensbrief, der die heutige Wahl auslöste, kam von Jesse Norman, einem ehemaligen Staatssekretär im Schatzkanzleramt. Dieser alte Johnson-Unterstützer gehört eher zum metropolitanen Flügel seiner Partei – das heißt, jenem Flügel, der der britischen Wokery zuhört und versucht, ihr halbwegs konservative Antworten auf ihre Fragen einzuflüstern.

Auch Johnson fährt hier einen Mittelkurs mit seinem Anti-CO2-Enthusiasmus („zero net“). Doch für Norman ist der Johnson von heute noch immer viel zu „populistisch“. Er kritisierte das angedeutete Abrücken Johnsons vom EU-Vertrag zu Nordirland und fand das Ruanda-Abkommen unschön („ugly“). Auch die geplante Privatisierung des staatlichen Fernsehsenders Channel 4 (der sich schon jetzt über Werbung finanziert) lehnt Norman als schädlich für die „Film- und Fernsehindustrie“ des Landes ab. Ebenso findet er das Verbot bestimmter Protestformen nicht gut. In der entsprechenden Regelung geht es unter anderem darum, dass die Polizei durch seine schiere Lautstärke störenden Protest einschränken kann. Auch das öffentliche Festkleben von Aktivisten wollen die Tories mit einem Verbot belegen.

Zu guter Letzt wirft Norman dem Premierminister vor, keine Vision für das Land zu haben und den Mangel mit starker Rhetorik auszugleichen. So sei es unmöglich, ein Atomkraftwerk pro Jahr zu bauen, wie Johnson Anfang Mai angekündigt hatte. Dabei ist das vielleicht nur eine Frage des Wettbewerbs und einer stärkeren Entflechtung von China. Der Staatskonzern China General Nuclear hatte noch unter Premier David Cameron den Auftrag für die neuen britischen Atomkraftwerke bekommen. Inzwischen kommen die engen Bande mit der Volksrepublik aber auch in Britannien aus der Mode, sodass der Ausbau der Branche ohnehin auf neue Füße gestellt werden muss.

Einige wollen einen eindeutigen Brexiteer als Nachfolger

Auf der anderen Seite stehen ultrakonservative und ihrerseits auch „populistische“ Abgeordnete wie Andrew Bridgen, ein überzeugter Vertreter des Brexit, der Johnson vor allem mangelnde Prinzipientreue vorwirft und daneben auf die derzeit schlechten Popularitätswerte des Premiers verweist. 56 Prozent der Briten wünschen sich demnach den Rücktritt Johnsons. Bridgen warnt davor, solche Umfragen als linksbeeinflusste Instrumente der Täuschung zu unterschätzen. Anscheinend sagen ihm seine eigenen Antennen in die Wählerschaft etwas Ähnliches.

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Bridgen erinnert daran, dass Abgeordnete wie Steve Baker und David Davis lange vor Johnson für den Brexit geworben haben. Er wirbt für einen eindeutigen, keinen konvertierten Brexiteer als Nachfolger. Das Land sei in Gefahr, weil die Remainer-Parteien sich noch immer zusammentun könnten, um das Land zurück in die EU zu führen. Auch ein Jeremy Hunt könnte hier vielleicht wieder Brücken errichten, die sich später als Fesseln herausstellen. Bridgen zitiert daneben ein Briefing, in dem daran erinnert wird, dass einige Regierungspartys der vergangenen zwei Jahre noch nicht überprüft wurden, darunter Johnsons Geburtstagsparty im Sommer 2020 und eine „Abba-Party“ im November jenes Jahres. Ein Parlamentsausschuss könnte dazu auch den Premier, seine Frau und andere Personen befragen.

Eines scheint sicher: Der Abtritt Johnsons würde in einem Hauen und Stechen innerhalb der konservativen Partei ohne klaren Ausgang enden. Johnsons Verbleib an der Macht ist aber kaum weniger prekär angesichts breiter Vorbehalte der britischen Wählerschaft gegen einen Premier, der sich nicht an die eigenen Lockdownregeln gehalten hat. Vielleicht heilt die Zeit diese Wunden.

Spaltungen überwinden oder mit ihnen leben

Die gestrige Misstrauensabstimmung über Johnson war ein Relikt der Covid-Zeit. Daneben sind solche Abstimmungen aber immer auch Palastrevolten, in denen unterlegene Einzelne und Gruppen aufbegehren und auf bessere Chancen für sich hoffen. So legitim das ist, so wenig hat es mit Partygate oder (vielleicht sogar) mit politischen Themen überhaupt zu tun.

Es als unwesentliches Beiwerk abzutun, wäre aber auch falsch. Vielmehr funktioniert Politik immer so, dass verschiedene Interessen zufriedengestellt und zusammengebunden werden müssen. In dem Maße, in dem das misslingt, verlieren Parteien an innerem Zusammenhalt und in der Folge an Einfluss nach außen.

In diesem Fall haben wir es zudem mit verschiedenen Formen von Abschluss gegenüber dem Land, dem Außen selbst zu tun: Die einen wollen den Brexit noch immer nicht akzeptieren, andere erlegen dem Volk rigide Maßnahmen auf, die sie dann selbst nicht einhalten. Am Ende könnte auch Johnson von diesen Spaltungen profitieren, indem er sich auf Messers Schneide zwischen den uneinigen Teilen seiner Partei und seines Landes bewegt und – für sich und andere – das Beste daraus macht.

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