Tichys Einblick
GESCHEITERTER PUTSCHVERSUCH

Bolivien – ein Land am Rande einer Staatskrise

Einheiten der bolivianischen Armee stürmen den zentralen Platz von La Paz, Panzer rammen die Tore des Präsidentenpalastes. Doch der Putschversuch scheitert. Was ist geschehen? Und welche Auswirkungen hat die erneute Staatskrise in Bolivien?

picture alliance / Anadolu | Mateo Romay Salinas

Über die Zahl der beteiligten Putschisten fehlen bis jetzt verlässliche Angaben. Fest steht, dass die bolivianischen Soldaten schweres militärisches Gerät einsetzten, sich aber nach einigen Stunden plötzlich zurückzogen. Nach übereinstimmenden Medienberichten sei deren Anführer Juan José Zúñiga Macías festgenommen worden. Die bolivianische Generalstaatsanwaltschaft habe zudem Ermittlungen gegen den Heereschef und seine Gefolgsleute eingeleitet. General Zúñiga werde des Terrorismus und bewaffneten Aufstands gegen die Sicherheit und Souveränität Boliviens beschuldigt. Mindestens neun Menschen seien bei dem gescheiterten Umsturz verletzt worden.

Offenbar richtete sich der Putschversuch gegen eine abermalige Präsidentschaftskandidatur des früheren Staatsoberhauptes Evo Morales, der in den Jahren 2006-2019 über die Geschicke des Andenlandes entschied. Der linke Präsident musste vor fünf Jahren unter dem Druck des bolivianischen Militärs seinen Stuhl räumen, weil bekannt geworden war, dass er allenfalls durch Wahlbetrug seine Macht abzusichern vermochte. Diese Information erregte damals breite öffentliche Empörung: An der Plaza Murillo kamen viele Demonstranten zusammen und brachten ihren Unmut zum Ausdruck.

Nach mehreren Gerichtsentscheidungen darf der erste indigene Staatschef Boliviens eigentlich nicht für eine weitere Amtszeit kandidieren, hat aber bereits angekündigt, dass er im nächsten Jahr dennoch antreten wolle. Vorerst nutzten andere Politiker des Movimiento al Socialismo (MAS) die mit dem offensichtlichen Wahlbetrug verbundene Demütigung im parteinternen Kampf gegen den fortan von vielen Bolivianern als „illegitim“ bezeichneten Staatschef. Bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 2020 ging Morales‘ Parteikollege Luis Arce ins Rennen, der die absolute Mehrheit der Stimmen erzielte und seitdem im Casa Grande del Pueblo sitzt.

„Wir sind überzeugt, dass die Demokratie der einzige Weg ist, um Differenzen zu lösen, und dass die Institutionen sowie die Rechtsstaatlichkeit respektiert werden sollten. Wir bekräftigen unsere Forderung, dass alle an diesem Putsch beteiligten Mitverschwörer verhaftet und vor Gericht gestellt werden müssen“, sagte Evo Morales nach dem erfolglosen Staatsstreich. Spanischsprachige Medien berichten, dass der ehemalige Präsident und sein Parteikollege Arce derzeit um die Führungsrolle in der MAS konkurrieren. Pikant: Der verhaftete Anführer der Putschisten behauptet, der Umsturzversuch sei vorher mit Luis Arce „abgesprochen“ und „durchexerziert“ worden. „Präsident Arce hat mir zugeflüstert, dass die Situation im Land sehr schlecht sei. Daher wäre es notwendig, etwas vorzubereiten, um seine Popularität zu steigern. Daraufhin habe ich ihn gefragt, ob wir mit gepanzerten Wagen vorfahren sollen und er hat sofort zugestimmt“, sagte Zúñiga vor seiner Verhaftung. Noch am Abend, nach der – teilweisen – Ausstrahlung dieses Interviews im Fernsehen, wurde aus dem Missmut einzelner Internetnutzer fast schon ein massenhafter Proteststurm. „Es war eine fürchterliche Show mit schlecht ausgebildeten Schauspielern, aber es kann durchaus sein, dass dem gescheiterten Putschversuch nun ein langer kalter Bürgerkrieg folgt, in dessen Verlauf das Ansehen Boliviens und der linken Regierungspartei MAS unaufhaltsam sinken wird“, prophezeit die bolivianische Tageszeitung „El Diario“.

Der missglückte Staatsstreich war nicht der erste in der Geschichte des Andenlandes. Bolivien erlebte zahlreiche Phasen der Militärherrschaft, so 1951, 1964–1969 und 1971–1982. Vor allem in der Phase der Diktatur unter Oberst Hugo Banzer (1971–1978) und während das Kampfes der Regierung gegen die Guerillas wichen zahlreiche Intellektuelle und Kulturschaffende ins Ausland aus. Im Herbst 2003 kam es in La Paz beinahe zu einem Volksaufstand, als bolivianische Gewerkschaften gegen den Erdgas-Ausverkauf an US-amerikanische Konzerne protestierten. Die Unmutsbekundungen richteten sich zugleich gegen die vom IWF geforderten Einsparungen im Staatshaushalt. Die bolivianische Regierung setzte damals erneut das Militär gegen die Demonstranten ein. Der sogenannte „octubre negro“ (Schwarzer Oktober) beschreibt die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der (von der indigenen Bevölkerung dominierten) Protestbewegung und den bolivianischen Sicherheitskräften, in denen mehr als 60 Menschen getötet und über 400 verletzt wurden.

Die Aufarbeitung dieser Ereignisse ist mitnichten abgeschlossen: Der wohl bekannteste bolivianische Gegenwartsautor Edmundo Paz Soldán, der seit vielen Jahren im Exil lebt, hat mehrere Romane vorgelegt, die immer wieder um das Thema des künstlerischen Schaffensprozesses kreisen, der häufig an der archaischen Realität in dem Andenstaat scheitert. Im Roman „Sueños digitales“ (2000) geht es zum Beispiel um einen Grafikdesigner, der im Dienst der politischen Machthaber mit neuer Technologie Bilder fälschen soll. In „La materia del deseo“ (2001) kehrt ein bolivianischer Professor aus dem Exil in sein Land zurück, um die Spuren eines von der Militärdiktatur beseitigten Oppositionellen zu verfolgen. Und in der Erzählung „Río fugitivo“ beschreibt Paz Soldán einen durch Hacker organisierten Aufstand gegen eine Strompreiserhöhung, während die Hauptfigur, ein Dechiffrierspezialist, im Auftrag der Regierung die politisch motivierten Computerkriminellen aufspüren soll. Doch auch der Regierungsstil von Evo Morales, der sich mehr als dreizehn Jahre an der Staatsspitze halten konnte, hinterließ tiefe Spuren in der Kultur Boliviens. So gibt es einige überaus begabte junge Autoren, die in ihren Kurzgeschichten die Gefühlsarmut in der bolivianischen Jugendszene darstellen. Die linke Politik des früheren (und vielleicht künftigen) Präsidenten wird schlicht als „basura“ (Müll) abgetan. Das Leben in den Gassen von Sucre und La Paz besteht aus Drogen, Sex und Leere. Es gibt weder Familienbindungen noch irgendwelche Ideale.

In diesen Tagen blickt die Welt erneut auf Bolivien: Die Vereinten Nationen zeigten sich besorgt angesichts der jüngsten Ereignisse in La Paz. „Wir rufen die bolivianische Gesellschaft, einschließlich der Streitkräfte, dazu auf, sich verantwortungsvoll zu verhalten und die demokratischen Werte zu berücksichtigen“, hieß es in einer Mitteilung aus New York. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kritisierte den Umsturzversuch scharf. „Ich verurteile dezidiert alle Versuche, die demokratisch gewählte Regierung Boliviens zu stürzen“, schrieb sie auf der Plattform X. „Die Europäische Union stehe an der Seite der bolivianischen Demokraten“, fügte sie hinzu. Es drängt sich allerdings die Frage auf, wen sie damit meint. Arce? Morales? Fest steht: Die Aufarbeitung des Putschversuches steht den Bolivianern noch bevor – nicht nur die literarische.

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