Auch in Belgien sind am 9. Juni Wahlen. Das ist ein ziemlicher Zufall, denn am selben Tag gehen auch die Wahlen zum EU-Parlament mit Sitz in Straßburg und Brüssel zu Ende. Das kleine Belgien mit seinen knapp zwölf Millionen Einwohnern – wovon derzeit noch zwei Drittel eindeutig belgischer Herkunft sind – war schon immer ein wenig das Labor für die EU, zumindest was die alte EU oder EG mit ihrer Mischung aus Romanen und Germanen anging.
In Belgien kann man die Schwierigkeiten dieses Völkergemischs jeden Tag von Neuem erleben. Flamen und Wallonen unterhalten bis heute, bei wenigen Ausnahmen, getrennte Parteien und Fraktionen im Parlament. Sogar die Meinungsumfragen werden für beide Großregionen getrennt durchgeführt. Fragt sich nur, wo die wenigen Deutschsprachigen im Hoheitsgebiet bleiben (sie gehen in der wallonischen Region Lüttich unter).
Gewissermaßen springt derzeit der rechtsnationale Funke von den Niederlanden auf Belgien über. Im November gratulierte Parteiführer Tom Van Grieken Geert Wilders zu seinem Wahlsieg im Nachbarland: „Zweifellos sehnen sich die Menschen nach echten Veränderungen, nicht nur in den Niederlanden, sondern auch in Flandern.“ Inzwischen liegt der VB auch in der zweisprachigen Region Brüssel, in dem die wallonischen Parteien sich den größten Teil des Kuchens aufteilen, bei fünf Prozent. Die Hauptstadt könnte bei den kommenden Wahlen an die Rechtsliberalen des Mouvement Réformateur (MR) gehen; das ist übrigens die Partei von EU-Ratspräsident Charles Michel, der nun doch nicht für das EU-Parlament antreten wird.
Das wiederum bedeutet, dass Michel nicht vor dem Ende seiner Amtszeit als Präsident zurücktreten muss und dass es folglich auszuschließen ist, dass Viktor Orbán in diesem Sommer im Zuge der (rotierenden) EU-Ratspräsidentschaft Ungarns auch den Sessel Michels – wenn auch nur provisorisch – übernähme. Das nämlich wollten die Eurokraten, namentlich der EVP-Vorsitzende Manfred Weber (CSU), um jeden Preis verhindern. Operation gelungen, Michel festgeklebt, Schlagzeile „Orbán wird EU-Ratspräsident“ verhindert.
Radikale Töne im belgischen Wahlkampf?
Doch genug von diesen belgisch-europäischen Miscellanea. Denn auch in Belgien werden die Wahlen interessant genug. Der VB ist seit Anfang des Jahres mit dem altbewährten Slogan „Erst onze Mensen“ (deutsch etwa: „Unsere Menschen zuerst“) angetreten. Im Hintergrund wird dieser Slogan durch Begriffe wie den einer „Umvolkung“ (omvolking) Belgiens flankiert, wobei es den parteipolitischen Gegnern angeblich „eiskalt den Rücken runterläuft“. Dabei sind es doch sie, denen genau diese Operation zugeschrieben wird.
Konkret kritisieren VB-Vertreter wie der EU-Abgeordnete Tom Vandendriessche, dass sich die Asyl- und Migrationspolitik der EU eben nicht entschieden genug gegen die illegale Zuwanderung wende. Der jüngst beschlossene Europäische Migrationspakt gehe eben nicht gegen illegale Migration vor, sondern habe eigentlich das Ziel, „noch mehr Migranten anzuziehen“. Ein „bewusster und organisierter großer Austausch“ sei das.
Laut der belgischen Statistikbehörde (Statbel) waren Anfang letzten Jahres noch 65,5 Prozent der Bevölkerung belgischer Herkunft, 21 Prozent waren Belgier mit Migrationshintergrund, 13,4 Prozent Ausländer. Gut die Hälfte der Ausländer stammen nicht aus einem anderen EU27-Land (53 Prozent). In Flandern sind es anteilig etwas mehr (58 Prozent), in Wallonien ist das Bild genau anders herum: Dort stammen 60 Prozent der Ausländer aus der EU, nur knapp 40 aus anderen Ländern. Die Hauptstadt Brüssel wird wie immer getrennt gezählt: Hier kamen 61 Prozent der Ausländer aus Nicht-EU-Ländern.
Flugblätter an Afghanen: 70 Prozent wollen euch nicht hier
Zugleich wird der Vlaams Belang aber auch im Ausland aktiv, und das gewissermaßen in der Höhle des Löwen selbst. In Afghanistan, vorerst nur in der Hauptstadt Kabul, verteilt die Partei demnach Flugblätter auf Englisch und dem dort geläufigen Dari-Persisch, wie das Niewsblad berichtet. Darin werden die Einwohner des Landes über das informiert, was man den großen „EU-Migrations-Betrug“ nennen könnte. Die Blätter belehren die einfachen Afghanen, wie folgt: „70 Prozent der Bevölkerung wollen dich nicht hier.“ Hier, das bedeutet „bei uns“, wie die Franzosen sagen, chez nous, in Belgien oder Europa.
Eine andere Information des Flugblattes lautet, in Anspielung auf eine neue Regelung der belgischen Regierung zu staatlichen Unterkünften (TE berichtete): „Du wirst obdachlos sein.“ Oder auch: „Die Lebenshaltungskosten sind sogar für Einheimische hoch.“ Tom Van Grieken meint dazu: „Die Vivaldi-Regierung weigert sich, etwas zu unternehmen, um den Zustrom von Asylbewerbern einzudämmen, also werden wir unserer Verantwortung gerecht.“ Vivaldi heißt die Regierung des Rechtsliberalen Alexander De Croo, weil in ihr außerdem noch drei andere politische Farben vertreten sind: nämlich Sozialisten, Christdemokraten und Grüne, also quasi Frühling, Sommer, Herbst und Winter, wie in dem bekannten Konzertzyklus des venezianischen Komponisten.
Van Grieken weist darauf hin, dass im vergangenen Jahr mehr als 35.000 Asylbewerber nach Belgien gekommen sind, von denen „die überwiegende Mehrheit keinen Anspruch auf Schutz hatte“, aber auch nicht abgeschoben wird. Auf Deutschland umgerechnet wären das ungefähr 252.000 Antragsteller. Deutschland übertraf Belgien demnach um etwa 40 Prozent der belgischen Zahl.
„Nur eine strikte Einwanderungspolitik ist menschlich“
Daneben wies Van Grieken darauf hin, dass „eine strikte Einwanderungspolitik die einzige menschliche Migrationspolitik“ sei, womit er zweifellos auf die vielen Toten auf den illegalen Migrationswegen hinwies. Zudem kann man auch die Warnungen über die Schwierigkeiten eines Lebens in Belgien hier veranschlagen: Was blüht vielen Zuwanderern in Europa anderes als ein langes Leben von der Stütze? Den Afghanen rät der Vlaams Belang, zu Hause zu bleiben oder sich nach Reise- bzw. Fluchtalternativen in der eigenen Region umzusehen.
Angeblich gab es durchaus auch Zustimmung für die Flugblatt-Aktion von afghanischer Seite: „Es gibt einige Afghanen, die mit uns übereinstimmen, aber es gibt auch diejenigen, die Zeugnis davon ablegen, wie einfach es ist, nach Europa zu kommen.“ Mit anderen Worten: Afghanen, denen es nicht schwerfiel in die EU zu kommen und hier als Flüchtling anerkannt zu werden.
Was wird nach den Wahlen im Juni passieren? Für Belgien wie für die Niederlande sind aufgrund der Zersplitterung der Parteienlandschaft lange Verhandlungsrunden üblich. Belgien hat eine Fünf-Prozent-Hürde, was die Vielstimmigkeit aber wegen der Zweisprachigkeit kaum mindert. 26 Prozent für den VB könnten bedeuten, dass die Partei knapp ein Sechstel der 150 Parlamentssitze bekäme und bei Koalitionsverhandlungen weniger leicht ignoriert werden dürfte – zumindest ihre Positionen, die sich offenbar zunehmender Beliebtheit erfreuen.
Noch lässt sich rein auf dem Schreibtisch anhand der Umfragezahlen eine knappe Mehrheit der Vivaldi-Koalition von etwa 75 Sitzen (also genau die Hälfte der Abgeordnetenkammer) konstruieren. Die würde fallen, wenn Vlaams Belang und N-VA gemeinsamen wachsen würden, ohne ihre Stimmen gegenseitig auszutauschen.