Die Lage auf der Balkanroute spitzt sich weiter zu. In Serbien entwickeln sich Zustände wie einst um das griechische Lager Moria. Das ruft die EU-Kommission auf den Plan: Frontex soll seine Mission am Westbalkan ausdehnen. Sogar Ylva Johansson und Nancy Faeser müssen das Projekt widerstrebend absegnen.
Aus Serbien berichtet ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz vom starken Anwachsen der Migrantenzahlen. 19 Aufnahmelager besitze das Land, in denen dieses Jahr bereits 95.000 illegale Migranten registriert wurden, vor allem Afghanen und Syrer. Und die dürften zumeist auf ganz konventionellem Wege über die alte Balkanroute in das Land gelangt sein. Daneben spielen angeblich auch Menschen aus Indien, Kuba, Tunesien oder Burundi eine Rolle, die Serbien über freizügige Visa-Regelungen ins Land locke.
Wirklich enthüllend an dem Bericht ist aber eine andere Tatsache. Wehrschütz interviewt nämlich auch eine Dame vom UN-Flüchtlingshilfswerk, die ausführlich erläutert, wie der UNHCR an der Südgrenze des Landes die „Ankömmlinge … oder die Ankommenden“ in Empfang nimmt, „zusätzliche Bedürfnisse“ feststellt (unbegleitete Minderjährige, Familien, Menschen mit Behinderungen, ältere Menschen) und sie entsprechend in Lager einweist und weitere Hilfsdienste aufmerksam macht.
Das UNHCR-Zentrum in Preševo habe zeitweise mehr als 1.200 Migranten beherbergt. Auch Asyl in Serbien ist natürlich möglich. Sogar ein schwedisches Möbelhaus zeigt sich hilfsbereit und hat einige der Migranten eingestellt. Aber normalerweise kann auch das die Migranten nicht in Serbien halten. Die Zahl derer, die bleiben wollen, bewegt sich im Promille-Bereich. Von um die 300 spricht die UNHCR-Beauftragte Stefanie Krause, Leiterin des Belgrader Büros, die sich derzeit in serbischen UNHCR-Lagern aufhalten und Asyl in Serbien gestellt haben.
Bericht aus Tunesien: Balkanroute beginnt in der Türkei
Nun hat Serbien angekündigt, die Visafreiheit für Tunesien und das ostafrikanische Burundi aufzuheben. Ob diese Maßnahme aber für ein Abflauen der illegalen Migration über die Balkanroute sorgt, bleibt zweifelhaft. Denn neben dem Flughafen Belgrad gibt es andere Wege in den Westbalkan, die mindestens genauso frequentiert werden. Laut der spanischen Website Atalayar mit besonderem Augenmerk auf die südlichen Gestade des westlichen Mittelmeers (vulgo, die Maghreb-Staaten) heißt es, dass in diesem Jahr bereits 15.000 Tunesier über die klassische Balkanroute in die EU eingereist wären.
Der Wechsel von einer der Mittelmeerrouten zu den verschiedenen Landrouten, die stets in der Türkei beginnen, wird auch mit dem Sicherheitsbedürfnis der tunesischen Migranten erklärt. Aber natürlich droht auch auf dem Balkan Ungemach von Schleppern und anderen Gefahren. Die verschiedenen Routen führen über Bulgarien–Rumänien–Serbien oder Griechenland–Nordmazedonien–Serbien, seltener über Griechenland–Albanien–Montenegro–Bosnien nach Nordwesten mit dem vorläufigen Ziel Ungarn und Kroatien.
Die Gesamtzahl der Migranten über die Balkanroute wird von Atalayar höher angegeben als bisher von Frontex bekannt: 150.000 Migranten seien in diesem Jahr bereits über die Türkei-Route in die EU gekommen. Bis Ende September hatte Frontex von 106.000 Migranten berichtet, was bereits fast einer Verdreifachung der Zahlen vom Vorjahr gleichkommt. 150.000 Migranten bis Mitte Oktober entsprächen nahezu einer Vervierfachung. Angesichts der derzeitigen Dynamik innerhalb eines Monats erscheint eine solche Steigerung nicht mehr ausgeschlossen.
Johansson: Wir können mehr tun
Nachdem die sich zuspitzende Lage auf dem Westbalkan nun seit einigen Monaten anhält und auch aus Brüsseler Perspektive nicht mehr zu leugnen ist, will die EU-Kommission nun verstärkt Frontex auf dem Westbalkan einsetzen. Knapp 40 Millionen Euro sollen laut Welt vor allem für Überwachungssysteme, Drohnen und biometrische Geräte eingesetzt werden. Die Frontex-Mission soll von den EU-Grenzen zu Albanien, Serbien und Montenegro auf Bosnien-Herzegowina ausgedehnt werden. So hätte man die EU-Enklave Westbalkan schließlich eingekreist.
Innenkommissarin Ylva Johansson sagte: „Wir müssen und können in diesem Bereich wirklich mehr tun.“ In einer gemeinsamen Pressekonferenz mit ihr sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser vor einer Woche in Berlin, irreguläre Migration dürfe nicht den Menschen schaden, die zur Flucht gezwungen seien, vor allem nicht denjenigen, die „unter einem enormen Schutzbedürfnis stehen und hier in Deutschland eine Heimat finden sollen“.
Das „soll“ offenbar geschehen, weil es Faeser für richtig hält. Nichts bindet Deutschland in dieser Hinsicht, denn „sichere Orte“ stünden links und rechts der Routen, teilweise im Herkunftsland selbst zur Verfügung. Es ist das zentrale Vermächtnis Faesers in ihrer bisherigen Zeit als Innenministerin: Durch den Verzicht auf mehr Kontrollen an deutschen und EU-Außengrenzen wird dem deutschen Staat auch in diesem Jahr eine hohe Last durch die Zuwanderung zumeist gering gebildeter Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten aufgebürdet werden: „Wir stehen zu unserer humanitären Verantwortung“, sagte Faeser zu diesem Themenkomplex, um ein irgendwie verirrtes „gemeinsam“ anzuhängen.
Man müsse aber auch entschieden gegen irreguläre Migration vorgehen. Faeser war der Meinung, dass kein Mensch sich auf „gefährliche Fluchtrouten“ begeben müsse, um am Ende in Europa „keine Bleibeperspektive zu haben“. Daher soll die „irreguläre“ Migration über den Westbalkan „reduziert“ und sollen „menschenverachtende Schleuser“ angeblich bekämpft werden. Auch für Rückführungen von Migranten ohne Bleiberecht ist Faeser gemäß ihren Worten.
Aber hat nicht die SPD-Innenministerin gerade erst Erleichterungen für seit Jahren geduldete Ausländer umgesetzt, indem sie diesen ein „Chancenaufenthaltsrecht“ anbietet? Von der Rückführungsoffensive der Ampel ist daneben auch nach einem knappen Jahr im Amt nichts zu sehen oder hören.
Trotzdem kann man bemerken, dass man Ylva Johansson schon einmal besser gelaunt sah bei einem Treffen mit Faeser. Die Notwendigkeit eines funktionierenden EU-Außengrenzschutzes mag beiden Sozialdemokratinnen nicht schmecken, wird aber von Tag zu Tag drängender, größer und evidenter.