Am Sonntag knatterten Motorräder mit wehenden russischen Fahnen durch Belgrad; Autos geschmückt mit pro-russischen Parolen und Putin-Porträts warben für Solidarität mit Moskau. „Die Russen, unsere Brüder, befreien das Land“, skandieren Teilnehmer prorussischer Demonstranten bei lautstarken Umzügen durch die Stadt. „Serben und Russen, Brüder für immer!“ Seit Kriegsausbruch gab es mehrere solcher Umzüge für Putin – allerdings nahmen in der serbischen Hauptstadt auch an Protesten gegen Russlands Krieg mehrere Tausend Menschen teil.
Serbien gilt traditionell als Freund, Partner und „kleiner Bruder“ Russlands. Nicht nur Oligarchen und ihren Familien dient Belgrad deshalb in diesen Wochen angesichts der Sanktionen und des EU-weiten Flugverbots für russische Flugzeuge als Brückenkopf und Drehscheibe in die Welt, berichtete der englische Guardian. Die Zahl der Direktflüge von Moskau nach Belgrad habe sich auf 15 pro Woche verdoppelt, viele Russen nutzten jetzt die „serbische Hintertür“.
Hinzu kommen in der jüngeren Geschichte ähnliche Erfahrungen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks Ende der 1980er Jahre. Jugoslawien, dominiert von Serbien, erlebte ähnliche Auflösungserscheinungen wie die UdSSR. Für die Serben endete diese Phase in fast traumatischer Weise mit blutigen Auseinandersetzungen, der Aufteilung Jugoslawiens, dem Kosovo-Krieg, der Bombardierung durch die Nato und schließlich Anklagen gegen ihre militärischen Führer wegen Kriegsverbrechen vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag.
Der Ukraine-Krieg wird nun allerdings zu einer Bewährungsprobe der historisch-kulturellen engen Beziehungen zwischen Serbien und Russland. Zwar bemüht sich Belgrad um eine Aufnahme in die EU, es gibt auch Ambitionen, in die Nato einzutreten. Belgrad stimmte jetzt in der UN-Vollversammlung für die Verurteilung des Krieges gegen die Ukraine – ohne sich aber irgendwelchen Sanktionen anzuschließen.
Die serbische Regierung von Aleksandar Vučić bemüht sich um eine Politik, die die EU-Ambitionen Serbiens nicht schmälert, das gute Verhältnis zu Putin und Russland aber nicht beschädigt. Das wird nur zunehmend schwieriger, auch wenn Vučić als „ein Meister der Schaukelpolitik“ (Neue Zürcher Zeitung) gilt. Der Präsident steht allerdings vor Wahlen im April, bei denen er weder die russophilen noch die westlich orientierten Wähler verprellen möchte. Wie stark die Putin-freundlichen Kräfte sind, zeigt die Schlagzeile „Die Ukraine hat Russland angegriffen“ des Boulevardblatts Informer zu Kriegsbeginn.
Putin ist einer der wenigen Verbündeten Belgrads im Kosovo-Konflikt. Russland erkennt die Unabhängigkeit der ehemals serbischen Provinz nicht an, sieht mit dem gleichen Misstrauen die Bemühungen Kosovos nach einer Aufnahme in die Nato.
Der Ausgang des Ukraine-Kriegs könnte nachhaltige Auswirkungen auf den Balkan haben. Sollte Putin tatsächlich mit einem politischen Erfolg – wie die Anerkennung der Annexion des Krim und die russische Hoheit über die abtrünnigen Donbass-Gebiete – erringen, werden die serbischen Separatisten in Bosnien-Herzegowina und Montenegro Morgenluft wittern. Dort streben die Organisationen der serbischen Minderheiten mit martialischen Auftritten paramilitärischer Einheiten und teils wilder Rhetorik nach einer Abspaltung. Der Führer der bosnischen Serben, Milorad Dodik, kämpft für eine Republika Srpska. Dodik, gegen den die USA jüngst Sanktionen wegen separatistischer Bestrebungen und Korruption verhängten, war schon mehrfach Gast bei Putin in Moskau.
Eine unruhige, durchaus einflussreiche serbische Minderheit gibt es auch in dem kleinen Montenegro, wo gleichfalls mit größter Aufmerksamkeit auf den Ausgang des Ukraine-Kriegs geschaut wird. Denn ein russischer Erfolg würde wohl den Protagonisten einer „großserbischen Idee“ eine Renaissance bescheren.
Der EU könnte angesichts der Gemengelage auf dem Balkan eine Schlüsselrolle zukommen – je mehr Aufmerksamkeit und positive Signale für eine, wenn auch ferne EU-Mitgliedschaft von Brüssel kommen, desto größer sind die Chancen für friedliche Entwicklungen. Der Besuch der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock vergangene Woche in Bosnien und Serbien wertete die NZZ zu Recht als ein gutes Zeichen.
Vor zwei Wochen wurde der prowestliche Ministerpräsident Bulgariens, Kiril Petkow, der stets auf die Bündnistreue Bulgariens zur Nato verweist, bei den Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag von prorussischen Nationalisten ausgebuht. Sowohl bei Petkows sozialdemokratischem Koalitionspartner als auch im Militär gibt es laut einem NZZ-Bericht viel Verständnis für russische Positionen. Petkow musste den Verteidigungsminister entlassen, weil dieser sich weigerte, Putins Feldzug als Krieg zu bezeichnen. Ein hoher bulgarischer General wurde wegen Spionage für Moskau verhaftet.
Viele Bulgaren sind zwar traditionell pro-russisch eingestellt. Nun aber signalisieren Meinungsumfragen einen deutlichen Meinungsumschwung, zumindest was Putin angeht. Inzwischen bewerten demnach mehr als die Hälfte der Menschen den sowjetischen Staatschef negativ. Kriegsgegner bemalten in Sofia das Denkmal zu Ehren der Roten Armee mit den ukrainischen Nationalfarben.