Es ist ein Kurswechsel von historischen Ausmaßen – zumindest soweit er die grüne Partei betrifft und für sie gilt. Wie das Auswärtige Amt gegenüber dem WDR bestätigt hat, hält Außenministerin Annalena Baerbock an der Verabredung mit der libyschen Küstenwache zur Seenotrettung fest. Libyen ist demnach „völkerrechtlich verpflichtet, Seenotrettung in seinem Verantwortungsbereich zu organisieren und zu koordinieren“, so die Auskunft aus dem Auswärtigen Amt. Gemeint ist damit die offizielle Such- und Rettungszone des nordafrikanischen Landes, die auch internationale Gewässer umfasst – in WDR-Sprech als „weite Teile des Mittelmeers“.
In dieser Zone hat Libyen das Recht und die Verantwortung für die Seenotrettung. Aufgelesene Boote darf die libysche Küstenwache samt Insassen an die eigene Küste zurückbringen. Und dafür soll das Land auch weiterhin zuständig bleiben, wenn es nach dem Auswärtigen Amt geht.
Die Antwort nahm manchen Wunder. Denn die heutige Außenministerin hatte die schon damals gültigen Regelungen noch im Jahr 2018 heftig kritisiert. „Europa droht sich weiter von seinem Wertegefüge zu verabschieden, denn wer auf Rückweisung auf hoher See setzt, Menschen an die libysche Küstenwache überführt, der bricht mit dem Völkerrecht“, hatte die nach eigenem Bekunden „aus dem Völkerrecht kommende“ Grünen-Politikerin Baerbock damals mit Blick auf die eigene Wählerklientel getönt. Schon damals waren ihre Worte klug gewählt und die Außenamts-Mitteilung fährt sozusagen Slalom um sie herum: Aber wie soll Libyen die Seenotrettung koordinieren, ohne dass andere Akteure mit der libyschen Küstenwache zusammenarbeiten? Das wird wohl nicht gehen.
Gegen-Aufschrei der grünen Basis
Und so konnte der Gegen-Aufschrei der grünen Basis nicht ausbleiben. Organisationen, die sich der Erleichterung der illegalen Migration verschrieben haben, wie der in Berlin sitzende Verein „Sea-Watch“, kritisieren den grünen Kurswechsel deutlich. Die noch im Koalitionsvertrag gemachten Versprechungen, wonach „illegale Zurückweisungen“ an den EU-Außengrenzen beendet werden sollten, seien reine Lippenbekenntnisse gewesen. Die Politik der „letzten 16 Jahre“ werde lediglich fortgesetzt, das sei „schon beschämend“, so Felix Weiss von Sea-Watch.
Und auch der grüne Obmann im Menschenrechtsausschuss des Bundestags, Max Lucks, erwartet, dass seine Bundesregierung sich „klar und in verschiedenen Formaten auch dafür einsetzt, dass die Kooperation mit der libyschen Küstenwache so, wie sie bisher geschehen ist, nicht vorangetrieben wird“. Wenn Lucks sich so als standhafter Kritiker der Außenministerin präsentiert, dann muss einen nur das Wörtchen „auch“ ins Überlegen bringen. Sein wortreiches Statement verdeckt vielleicht nur, dass Herr Lucks seiner Außenministerin damit erlaubt hat, dass sie auch andere Dinge durchaus tun darf, solange sie nur parallel „in verschiedenen Formaten“ seinen Vers aufsagt. So einfach könnte ein leidiges Positionierungsproblem der Regierungsgrünen aus der Welt geschafft werden: Man kann das eine tun, ohne das andere zu lassen.
Im Klartext heißt das: Baerbock trägt zwar zähneknirschend die in dieser Frage unveränderte Haltung des Außenamtes mit, setzt aber daneben in Pressemitteilungen und Mikrophon-Terminen Äußerungen in die Welt, die so klingen, als sei sie weiterhin gegen Zurückweisungen an den EU-Außengrenzen im Mittelmeer.
Tatsächlich hat Baerbock just am Donnerstag ihre neue Außenamtslinie schon wieder relativiert, als sie sich in Athen demonstrativ kritisch über Frontex äußerte, interessanterweise mit einer Formulierung, die stark an ihr eigenes Zitat von 2018 erinnert: „Wenn wir da wegschauen, dann gehen unsere Werte im Mittelmeer unter.“ Fragt sich nur, wann die Außenministerin diese Ansicht auch in Bezug auf Griechenland fallen lässt. Das könnte noch spannend werden, vor allem wenn man bedenkt, dass sie zugleich für Harmonie zwischen Athen und Ankara sorgen will.
Wann sprechen die Grünen Klartext mit ihren NGOs?
Einen Tag zuvor hatte auch das WDR-Magazin Monitor noch Stimmung gegen die Arbeitsteilung mit der libyschen Küstenwache gemacht, von „Jagdszenen“ fabuliert und sich uneingeschränkt mit den illegalen Migranten solidarisiert. Einen Tag später ist klar: Die Grünen an der Macht sind für diese Praxis, die die Migranten in ein Land zurückbringen, in dem ihnen angeblich „Folter und Misshandlungen“ drohen. Doch handelte sich das WDR-Magazin sich mit seinem migrationistischen Furor auch die Außenamts-Absage ein, die klarstellte, dass „Libyen völkerrechtlich verpflichtet [ist], Seenotrettung in seinem Verantwortungsbereich zu organisieren und zu koordinieren“. Und mit diesem Verantwortungsbereich ist die gesamte libysche Such- und Rettungszone gemeint.
Die Bundesregierung weiß auch, so berichtet der WDR, dass die libyschen Haftzentren für illegale Migranten nicht in allem den eigenen, europäischen Vorstellungen und Standards entsprechen. Die Zustände seien „zum Teil menschenunwürdig und besorgniserregend“, teilte das Auswärtige Amt dem WDR mit. Man setze sich für eine „sofortige Verbesserung der Zustände in den sogenannten ‚Detention Centern‘ ein“. Solche Worte sind schön und gut und vor allem relativ preisgünstig, denn Libyen wird sich hier nicht unbedingt in seine inneren Angelegenheiten hineinreden lassen – es sei denn die EU zahlt. Auch das wäre nicht das erste Mal.
Auf der anderen Seite erwartet die grünen Regierenden aber eine viel größere Aufgabe: Sie müssten endlich einmal ihrer eigenen Klientel die Spielregeln an dieser Stelle so mitteilen, dass sie verstanden werden. Ein gutes Dutzend grün durchwirkte NGOs durchstreift noch immer mit spendenfinanzierten Schiffen das zentrale Mittelmeer – immer in der Hoffnung, Bootsmigranten aus Nordafrika auflesen zu können, um sie in europäische Häfen zu bringen. Dass es für solche Fälle internationale Regelungen gibt, an die sich Nationalstaaten ebenso wie privat-hauptamtliche Seenotretter halten müssen, wäre vielleicht auch eine öffentliche Aussage der Außenministerin wert. Nur wird man darauf wohl lange warten.