In Brüssel laufen die Gespräche zur Bildung der neuen parlamentarischen Gruppen auf Hochtouren, und es zeichnen sich interessante Entwicklungen ab. Zunächst: Die EKR hat Macrons „Renew Europe“ überholt und ist (gegenwärtig) mit 83 Abgeordneten zur drittgrößten Gruppe geworden. In der Tat hat die EKR gerade jene vier Abgeordneten von „Reconquête“, die Éric Zemmour abtrünnig wurden, aufgenommen, während Sarah Knafo, die einzige Abgeordnete, die ihrem Parteichef (und Liebhaber) treu geblieben ist, nunmehr ironischerweise als „non-affiliée“ auf die Hinterbänke des Parlaments verbannt werden wird.
Außerdem: Die EKR hat die fünf Abgeordneten der rumänischen „AUR“ aufgenommen, die bei den EU-Wahlen 14,9% der Stimmen erhalten hatte; eine christlich-nationalistische Partei, die sich für die Vereinigung zwischen Rumänien und Moldawien ausspricht und die starke ungarische Minderheit des eigenen Landes nicht gerade eben mit Sympathie betrachtet.
Diese Entscheidung hat einen doppelten oder möglicherweise sogar dreifachen Boden, denn die AUR ist zwar deutlich pro-Nato eingestellt und forderte kürzlich die Ausweisung des russischen Botschafters aus Rumänien, ist gleichzeitig aber auch skeptisch, was eine explizitere militärische Unterstützung des Landes für die Ukraine betrifft, und spricht sich für ein stärkeres Engagement Rumäniens für seine Minderheiten in der Westukraine aus. Mit der AUR stärkt sich also das pro-Nato-Profil der EKR, ohne aber exzessiv atlantisch zu werden, und rückt gleichzeitig in eine christlich-konservative Richtung, die manchen liberal-konservativen Abgeordneten wie denen der belgischen NVA nicht ganz geheuer ist.
Eine solche ist nicht eben wahrscheinlich, und somit stellt sich für Orban nunmehr nur noch die Möglichkeit, sich entweder der ID anzuschließen, oder aber eine eigene Gruppe zu bilden. Ersteres ist aber kaum zu erwarten, da die ID gegenwärtig völlig von Marine Le Pens „Rassemblement national“ dominiert wird, der in seinem Bestreben nach „Entdämonisierung“ und Salonfähigkeit mit Blick auf die anstehenden französischen Parlamentswahlen wohl kaum ein explizites Bündnis mit Viktor Orbán eingehen will, der in den französischen Medien seit dem Ukraine-Krieg in den düstersten Tönen beschrieben wird: Le Pen hat nicht die schwere Entscheidung getroffen, sich der AfD zu entledigen, um mit Orbán dann nur eine andere Hypothek aufzunehmen.
Und was die AfD betrifft: Deren Versuch, gegenwärtig ebenfalls eine eigene Gruppe zu gründen, dürfte mit Orbáns parallelen Bemühungen in Konflikt geraten, da ein Zusammenschluß beider Parteien angesichts der bekannten Drohungen der süddeutschen Wirtschaft völlig ausgeschlossen ist. Hiermit bestätigt sich eine Entwicklung, die auch die letzten EU-Wahlen mit dem beeindruckenden Absturz der Fidesz von 52,5 Prozent auf 44,8 Prozent suggerierten: Viktor Orbán, der sich einst als Königsmacher sah, der alle konservativen Parteien im EU-Parlament vereinigen würde, scheint angeschlagen, innen- wie außenpolitisch, und muß bei seinem weiteren Versuch, „den Tiger zu reiten“ und eine Schaukelpolitik zwischen den Weltmächten zu betreiben, überaus vorsichtig sein, um nicht unter die Räder zu geraten.
Anstatt sich in den Regen stellen zu lassen, hat Meloni sich vielmehr zu einem unverzichtbaren Element des gegenwärtigen Machtgleichgewichts gemacht und nutzt diese Position nun, um in kleinen Schritten ebenso pragmatisch wie realistisch ihre Ziele zu verfolgen.
Das ist ihr von ihren Gegnern aus Neid oder Unverständnis bis heute als „Melonisierung“ angekreidet worden, trägt aber Früchte, von denen ihre Partner innerhalb des rechten Lagers nur träumen können. Der italienischen Wirtschaft geht es besser denn je; der gesamte, von Liberalkonservativen seit Jahren sträflich vernachlässigte Kultursektor wird diskret und ohne Skandale mit Vertrauensleuten Melonis umbesetzt; die mittelmeerische Migration konnte allmählich zurückgedrängt und die Neuankömmlinge elegant an Deutschland weitergereicht werden (das ja offensichtlich nach Neubürgern nur so lechzt); beim letzten G7-Treffen konnte Meloni das „Recht auf Abtreibung“ aus der Schlußerklärung streichen; der italienische Einfluß auf Libyen ist enorm gewachsen; eine Verfassungsänderung steht bevor, welche Melonis Macht ebenso wie die ihrer Partei enorm stärken wird; ihren größten Konkurrenten, Salvini, hat sie fast in die Bedeutungslosigkeit getrieben; und die letzten Wahlergebnisse waren ein wahres Plebiszit für eine Fortsetzung des bisherigen Kurses.
Nun gestaltet Meloni auch das konservative Lager im EU-Parlament entsprechend um – und man darf höchst gespannt auf die Resultate sein, wenn sie angesichts der Schwäche der französischen wie der deutschen Regierung und der allgemeinen Unbeliebtheit Ursula von der Leyens ihr machiavellistisches Geschick zunehmend auf dem Brüsseler Parkett unter Beweis stellen wird.