Al-Bashir wer? Das fragen sich nicht nur Leser bei den Frage nach der neuen Regierung in Syrien – sondern offenbar auch die Presse. So sehen sich Medien etwa gezwungen, angesichts der unbekannten Vergangenheit des neuen syrischen Ministerpräsidenten auf dessen offiziellen Lebenslauf hinzuweisen, der auf einer Webseite verfügbar ist.
Mohammed al-Bashir wird einer Interimsregierung in Damaskus vorstehen, die bis zum 1. März regieren soll. Man liest etwas von einem Elektroingenieur und das nicht ganz unwichtige Detail, dass er früher der Gegenregierung in Idlib vorstand. Eine bemerkenswerte Konstellation, denn die wurde von der islamistischen Hayʼat Tahrir al-Sham (HTS), einer Nachfolgerorganisation der Al-Nusra-Front und damit in ihrer historischen Entwicklung ein Ableger der Al-Quaida.
In den alten Medien dominiert derzeit die von der neuen syrischen Regierung geschickt inszenierte Abrechnung mit dem Assad-Regime, etwa, indem die Horrorbilder aus dem Saidnaya Gefängnis um die Welt gehen. Es besteht kein Zweifel an dem „Schlachthaus“, wie es schon vor dem Sturz Assads bezeichnet wurde. Woran aber Zweifel bestehen sollte, ist die Übernahme dieser Narrative, ob nun gewollt oder ungewollt, während man über die Folter der HTS den Mantel des Schweigens legt.
Dass die HTS nach wie vor als Terrororganisation eingestuft wird, etwa von der EU und den USA, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Während man Giorgia Meloni immer noch übelnimmt, dass vor 80 Jahren Benito Mussolini in Italien regiert hat, sieht man es bei den Islamisten, die in den letzten Jahren in Syrien wüteten, weniger eng. Dabei hatte die EU noch im Jahr 2020 die HTS als „mächtigsten Akteur“ in der Provinz Idlib bezeichnet, dessen Ziel es sei, Assad zu stürzen und eine islamische Herrschaft in Syrien zu errichten. Im Bericht der Europäischen Asylagentur steht weiter:
„Es wurde berichtet, dass die HTS häufig schwere Menschenrechtsverletzungen begeht, darunter Belästigungen, Attentate, Entführungen und Folter sowie die rechtswidrige Inhaftierung von Zivilisten. Auch Zivilisten wurden erpresst und entführt, um Lösegeld zu erpressen. Die Gruppe hat formelle Militärkampagnen, Attentate, Geiselnahmen und „Einzelgänger“-Operationen durchgeführt, darunter auch Selbstmordattentate. Angehörige religiöser Minderheiten wurden gezwungen, zum Islam zu konvertieren und sunnitische Bräuche anzunehmen. Die UN berichteten über die Rekrutierung und den Einsatz von 187 Kindern durch die HTS im Zeitraum Januar bis Dezember 2018.“
Das State Department der USA kennt ebenfalls pikante Geschichten bezüglich jener Gruppe, mit denr nicht nur Bundeskanzler Olaf Scholz möglicherweise bald verhandeln will:
„HTS und ISIS haben Kinder als menschliche Schutzschilde, Selbstmordattentäter, Scharfschützen und Henker eingesetzt. Sie nutzen Kinder auch zur Zwangsarbeit und als Informanten, was sie Vergeltungsmaßnahmen und extremen Strafen aussetzt. […] Berichten zufolge haben terroristische Gruppen, darunter ISIS und HTS, Ausländer – darunter Migranten aus Zentralasien und Frauen, darunter auch westliche Frauen – gezwungen, genötigt oder auf betrügerische Weise rekrutiert, sich ihnen anzuschließen.“
90 Prozent der Provinz Idlib standen unter der Kontrolle der HTS, und man kann damit die recht kühne Vermutung in den Raum stellen, dass der neue Premier Syriens nicht völlig im Unklaren darüber war, was die „Rebellen“ so trieben. Da aber die radikalen Islamisten bereits in den letzten Jahren verstanden haben, wie westliche Medien funktionieren, verkauft sich das Image des freundlichen Elektroingenieurs im Anzug deutlich besser. Andere Länder, andere Sitten: Hierzulande gehen Kinder in die Schule, bei der HTS fungieren sie als Scharfrichter.
Statt diese unangenehme Seite der Machtübernahme in Damaskus in den Vordergrund zu stellen, lautet nun vielmehr die Devise, den „Rebellen“ die Hand zu reichen. So denkt man im Vereinigten Königreich darüber nach, die HTS nicht mehr als Terrororganisation aufzulisten. Ein großartiges Symbol des Westens an den Orient: Man muss als radikaler Islamist nur den anti-westlichen Gegner beseitigen und die Macht an sich reißen, dann kann auch eine Terrororganisation zum akzeptierten Partner werden. Das erinnert nicht zufällig an den einen oder anderen Regierungsumsturz in der Dritten Welt, bei dem die USA den jeweiligen Putschisten anschließend als rechtmäßige Kraft anerkannten.
Der Westen hat Syrien jahrelang mit Sanktionen überzogen. Das syrische Volk stand nie im Mittelpunkt. Warum diese Sanktionen nun unter Islamisten zurückgenommen werden, hat einen faden Beigeschmack: offenbar sieht der Westen sie als „seine“ Islamisten an.
Israel hat dagegen eine deutlichere Vorstellung davon, mit wem man in Damaskus zu tun hat. In Latakia hat die israelische Luftwaffe syrische Schiffe versenkt, sowie Militärflughäfen bombardiert und Waffendepots zerstört. Die neue Regierung soll alle schweren Waffen einbüßen, bevor sie diese reklamieren kann.
Zugleich sind israelische Bodeneinheiten aus den Golanhöhen weiter vorgerückt und haben den Berg Hermon besetzt. Damit kann die israelische Artillerie nicht nur weit ins syrische, sondern auch libanesische Gebiet zielen und die IDF ihre Radarüberwachung ausweiten. Angeblich möchte Israel nur vorübergehend bleiben; da das syrische Chaos jedoch kaum enden dürfte, ist eine mittel- bis langfristige israelische Präsenz wahrscheinlich. Während die Türken ihre Pufferzone im Norden sichern, richten die Israelis ihre im Süden ein.
Insofern muss man Benjamin Netanjahu ernstnehmen, wenn er sagt: „Wir ergreifen alle notwendigen Maßnahmen, um unsere Sicherheit angesichts der neuen Situation in Syrien zu gewährleisten.“ Israel, so der Premierminister, ändere „das Gesicht des Nahen Ostens“.
Ein hochrangiger israelischer Beamter sagte der Nachrichtenagentur Reuters, die Luftangriffe würden in den kommenden Tagen anhalten, während Außenminister Gideon Saar sagte, Israel habe kein Interesse daran, sich in innere syrische Angelegenheiten einzumischen und sei nur um die Verteidigung seiner Bürger besorgt. „Deshalb greifen wir strategische Waffensysteme wie zum Beispiel verbleibende Chemiewaffen oder Langstreckenraketen an, damit sie nicht in die Hände von Extremisten fallen“, sagte Saar vor Reportern in Jerusalem.
Deutschland, das glaubt, sich seiner Merkel’schen Erblasten von 2015 wenigstens teilweise entledigen zu können, hat indes nicht einmal mitbekommen, wie es von außen unterminiert wird. So berichtet jedenfalls der Focus und beruft sich auf den Partner Table.Media. Demnach kommen bereits seit 2023 Assads Offiziere und offenbar auch Radikale über eine Rattenlinie von Syrien über Libyen und Sizilien nach NRW. Erst am Samstag sollen 200 Offiziere der Assad-Armee im libyschen Benghasi angekommen sein.
Libyen ist wie Syrien weiterhin ein geteiltes Land. Armeechef Khalifa Haftar kontrolliert den Osten des Landes und gilt als Verbündeter der russisch-syrisch-iranischen Achse. Laut Medienberichten sollen auch russische Truppen in Haftars Gebiet übergesiedelt sein.
Der Focus berichtet von hunderten regimetreuen Familien, die bereits nach Deutschland geschleust worden seien. Mit dem Ende der Assad-Herrschaft könnte ihre Zahl dramatisch steigen, warnt der Syrien-Experten Lawand Kiki: „Trotz der nun weiterverbreiteten Versöhnungsrhetorik werden viele Täter nach Deutschland kommen, um sich der Rache und Strafverfolgung in ihrer Heimat zu entziehen.“ Zitat:
„Diese Gruppen haben in Deraa und anderen Orten rund um Damaskus mit willkürlicher Brutalität geherrscht“, berichtet ein nach Deutschland geflohener syrischer Menschenrechtsaktivist. „In den letzten Jahren standen die Söldner auf den Lohnlisten der russischen Truppen. Doch wegen der vielen Morde störten sie und wurden nach Deutschland geschickt, um die syrische Opposition unter Druck zu setzen.“
Man kann demnach weiter so tun, als müssten Deutschland die Vorgänge in Syrien nicht interessieren. Aber wen die Vorgänge nicht interessieren – zu dem kommen die Vorgänge bald von ganz allein. Ob nun als Migranten, Extremisten oder Destabilisierungsversuche.