Tichys Einblick
Kaukasus-Konflikt

Aserbaidschan greift Armenien an – und die EU hat ihren Anteil daran

Noch im Juli hatte von der Leyen den aserbaidschanischen Machthaber Ilham Alijew als „vertrauenswürdigen Energielieferanten“ bezeichnet. Wegen des Ukraine-Kriegs wechselte man den einen Autokraten gegen den anderen aus. Baku dürfte das als Ermunterung gesehen haben, um das christliche Armenien neuerlich anzugreifen.

IMAGO / Xinhua

Aserbaidschan attackiert Armenien – und die Welt schaut zu. Dabei sind die Konstellationen verblüffend. Der Angreifer hat nämlich erst vor kurzem seine Energiepartnerschaft mit der Europäischen Union und Italien gefestigt. Schon damals stand bei TE: „Dasselbe gilt für die Entscheidung Italiens, mehr Gas aus Aserbaidschan und Algerien zu importieren, obwohl beide Länder als mit Moskau verbündet und damit als unsichere Partner gelten; im Falle Aserbaidschans muss man sich zudem fragen, ob man damit nicht den nächsten Krieg gegen Armenien mitfinanziert.“

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Es war damit ein Angriffskrieg mit Ansage. Noch mehr als Italien war es die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die dem aserbaidschanischen Machthaber Ilham Alijew die Hand reichte. Um sich moralisch von Russland abzusetzen, das einen Angriffskrieg gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen hatte, legte sich die EU mit einem Autokraten ins Bett, der erst im Herbst 2020 einen Krieg geführt hatte.

Von der Leyen twitterte im Juli: „Die EU setzt auf vertrauenswürdige Energielieferanten. Aserbaidschan ist einer von ihnen. Mit der heutigen Einigung verpflichten wir uns, den südlichen Gaskorridor zu erweitern, um die Gaslieferungen aus Aserbaidschan in die EU zu verdoppeln. Das sind gute Nachrichten für unsere Gasversorgung in diesem Winter und darüber hinaus.“

Die Kurzsichtigkeit dieser Entscheidung war von Anfang an klar. Die EU signalisierte Aserbaidschan damit, welche Prioritäten sie setzte. Mit der Gasabhängigkeit gab man Baku das geeignete Instrument in die Hand, den Kontinent unter Druck setzen zu können, wollte man die eigenen Machtinteressen im Kaukasus durchsetzen. Dabei lag dem Spiel von Anfang an eine zweifelhafte Doppelmoral zugrunde. Russisches Gas wollte man nicht, weil daran das Blut von Ukrainern klebte; das aserbaidschanische Gas, an dem armenisches Blut klebte, kommt dagegen von „vertrauenswürdigen Energielieferanten“.

Die EU finanziert den Krieg Alijews mit. Und das alles für einen „Green Deal“ bzw. eine Energiewende, die heimische Kohlekraftwerke durch Wind- und Solaranlagen ersetzen und Atomkraftwerke abschalten will – weil man in Ermangelung einer grundlastfähigen Energiequelle auf Gasimporte angewiesen ist. Die heimische Förderung oder ein Autarkieprogramm im Sinne der französischen Nuklearstrategie nach den Erfahrungen der Ölkrise ist ein Tabu. Irgendwann, so träumen Berliner wie Brüsseler Eliten, sollen Gaskraftwerke auf Wasserstoff umgerüstet werden. Doch für die Zwischenzeit gibt es keinen Plan – irgendwo müssen Strom und Wärme dann doch herkommen.

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In einer naiven Verkennung geopolitischer Realitäten hat man im Falle Aserbaidschans erneut Energiepolitik und Außenpolitik der Klimapolitik untergeordnet. Statt sich die Hände mit CO2 oder „radioaktivem Abfall“ schmutzig zu machen, importiert man weiterhin Gas aus fragwürdiger Hand. Das ist im Übrigen keine moralische Frage. Kann Deutschland ein außenpolitisches Interesse an einer Instabilität der Kaukasus-Region und des Nahen Ostens haben – insbesondere angesichts der Erfahrungen aus dem syrischen Bürgerkrieg?

Der neu entfachte Kaukasus-Konflikt ist ein Vorgeschmack auf das außenpolitische Chaos, wenn das Gleichgewicht der Mächte kippt. Man muss kein Russlandfreund sein, um zu begreifen, dass ohne den russischen Einfluss im Kaukasus und Nahen Osten ein neuer Flächenbrand entfacht werden könnte; ähnlich, wie der Westen erst nach dem irakischen Zerfall begriff, was für ein Pulverfass Saddam Hussein zusammengehalten hatte. Dass Russland durch seine Intervention in Syrien auch das Leben zahlreicher christlicher Minderheiten rettete, die ansonsten den islamistischen Gotteskriegern ausgeliefert gewesen wären, ist ein in Deutschland totgeschwiegenes Thema.

Letzteres gilt mit Abstrichen auch für Armenien, dessen einzige Schutzmacht Russland ist. Das gilt allerdings mit Abstrichen auch für Aserbaidschan, mit dem Moskau eine wechselhafte Beziehung pflegt. Aus diesen Erwägungen heraus hat Aserbaidschan auch nicht die Sanktionen gegen Russland unterstützt. Andererseits ist Armenien anders als Aserbaidschan Teil der OVKS, dem russisch-dominierten Militärbündnis, dem auch Weißrussland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan angehören.

Bisher konzentrierten sich die Auseinandersetzungen auf Bergkarabach, das völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, de facto jedoch von einem armenischen Regime verwaltet und kontrolliert wird. Große Teile dieser „Republik Arzach“, die selbst von Armenien nicht offiziell anerkannt, wenn auch unterstützt wird, gingen bereits im Bergkarabach-Krieg im Herbst 2020 verloren. Für Armenien hat das Gebiet nicht nur aufgrund seiner ethnischen und kulturellen Zugehörigkeit eine große Bedeutung, sondern auch aufgrund seiner Gebirgspässe und als Vorposten gegen den feindlichen Nachbarstaat.

Wie wenig die Aserbaidschaner die Eigenheiten des nominell unter ihrer Herrschaft stehenden Bergkarabachs achten, haben sie in der Vergangenheit immer wieder gezeigt. So beschossen aserbaidschanische Truppen die damals noch armenisch kontrollierte Ghasantschezoz-Kathedrale – völlig unmotiviert. Nach der Eroberung der Kirche und ihres Umlandes „restaurierte“ Aserbaidschan das beschädigte Denkmal, um zu zeigen, dass sich das Land an internationale Standards hält. Doch stattdessen wurde das Dach der Kathedrale verkleinert – und das Kreuz entfernt. Im April 2022 raffte sich das EU-Parlament dazu auf, eine Resolution gegen die von Aserbaidschan betriebene „Auslöschung armenischer Geschichte“ zu verabschieden. Das Regime in Baku hat der UNESCO verboten, die beschädigten Kirchen, Klöster und historischen Gedenkstätten zu besuchen, um die Zerstörung zu dokumentieren.

Der Konflikt zwischen dem muslimischen Aserbaidschan und dem christlichen Armenien hat keine primär religiöse Komponente, doch die christliche Identität spielt für Armenien, das als ältester christlicher Staat der Geschichte gilt, eine dominante Rolle. Die Bekämpfung des Christentums ist damit ein Instrument zur Tilgung der armenischen Identität und damit des armenischen Selbstbewusstseins. Man kann die Aversion erahnen, nimmt man eine Äußerung des aserbaidschanischen Präsidenten aus dem Jahr 2015 als Beispiel: „Armenien ist nicht einmal eine Kolonie, es ist nicht einmal würdig, ein Diener zu sein.“

In der letzten Nacht griffen aserbaidschanische Soldaten jedoch direkt armenisches Kerngebiet an. Fast 50 Soldaten starben bei den Gefechten. Das ist einer der Gründe, weshalb der neue Konflikt über das hinausgeht, was man von den bisherigen Grenzkonflikten kennt, wie sie zwischen den verfeindeten Nachbarstaaten an der Tagesordnung sind. Armenien rief gar den Bündnisfall der OVKS aus. Prinzipiell hat das christliche Kaukasusland damit nicht Unrecht: In der Vergangenheit hatte sich die OVKS in ähnlichen Fällen aus der Affäre gewunden, weil Bergkarabach nicht Teil des Territoriums war.

Gleich, ob die heutigen Angriffe der Beginn einer Invasion oder bloße Machtdemonstration sind: Es sind Tests, um zu sehen, inwiefern die alte Ordnung besteht. Seit dem Ende des letzten Bergkarabach-Krieges hat Russland Friedenstruppen in der Region stationiert. Die Türkei hat Friedensinspekteure vor Ort. Der Status quo hängt daher direkt mit der Stabilität Russlands zusammen. Die ukrainischen Erfolge an der Ostfront könnten Baku den Anlass gegeben haben, auszutesten, wie stark Russland noch ist – und wie es reagiert.

Bisher beließ es Moskau beim Ruf nach einem Waffenstillstand. Sollte Aserbaidschan jedoch deutlicher gegen Stellungen in Armenien vorgehen, muss sich Wladimir Putin die Frage gefallen lassen, welche Rolle die OVKS noch spielt; Ähnliches gilt für die anderen Mitgliedsländer. An der Armenien-Frage hängt nichts weniger als der russische Einfluss im Kaukasus und im Nahen Osten. Sollte Putin schweigen, dürfte es nur eine Frage der Zeit bleiben, bis in Syrien neue Unruhen geschürt werden. Auch der Iran dürfte sich mit einer Zuschauerrolle nicht begnügen.

Sollten Russland und OVKS dagegen aktiv werden, würde Ankara sich einschalten. Die Türkei gilt als wichtigster Bündnispartner Aserbaidschans. Ankara erkennt den Völkermord an den Armeniern bis heute nicht an, nimmt den kleinen störenden Nachbarn mit Baku seit Jahrzehnten in die Mangel. Wie so oft treibt das Nato-Mitglied sein eigenes Spiel in der Region und hat bisher keine Möglichkeit ausgelassen, um Aserbaidschan zu stärken und Armenien zu schwächen. Von der EU und der Nato hört man zu solchen Vorgehen freilich wenig. Dass Erdogan wegen der nahenden Präsidentschaftswahl selbst unter Druck steht – die Umfragen sehen derzeit düster aus –, könnte ihn dazu motivieren, aus dem Konflikt außenpolitisches Kapital schlagen zu wollen.

Anders als das arme Armenien hat Aserbaidschan noch andere Optionen. Den Öl- und Gasreichtum des Landes hat Alijew über Jahre ausgenutzt, um über die „Kaviar-Connection“ Verbündete im Westen zu finden. Die CDU hat dabei eine unrühmliche Rolle gespielt. Bereits im letzten Krieg zeigte es sich materiell und technologisch überlegen. Baku strebt offenbar eine Rolle als kaukasische Mittelmacht zwischen der Türkei, Russland und dem Iran an. Neben Bergkarabach hadert das Land mit der Exklave Nachitschewan: Zwischen dem aserbaidschanischen Territorium und dem Mutterland liegt der armenische Staat. Eine aufstrebende Macht darf eine solche Situation eigentlich nicht dulden.

Zudem hat sich Alijew abgesichert. „Das Gesamtvolumen der Lieferungen nach Europa im Jahr 2022 wird zwölf Milliarden Kubikmeter betragen“, erklärte der aserbaidschanische Energieminister Parwis Schabasow auf Twitter. Bis August sei auch die Produktion in diesem Jahr um fast zehn Prozent auf 30,6 Milliarden Kubikmeter gesteigert worden. Das war einen Tag vor dem Angriff. Der Protest aus Brüssel, Berlin oder Rom dürfte daher verhalten bleiben. Einzig Paris, das einen guten Draht nach Eriwan besitzt, schaltet sich zumindest diplomatisch ein. Aber Frankreich kann sich auch aufgrund seiner Energiepolitik einen solchen Luxus erlauben.

In Deutschland hingegen dominiert eine Berichterstattung, die von Gefechten „zwischen Armenien und Aserbaidschan“ sprechen, in der bekannten Art und Weise, die nicht Täter und Opfer benennen will. Die aktive Rolle Aserbaidschans wird so heruntergespielt, am Konflikt sind eben irgendwie beide schuld, obwohl die ethnischen Säuberungen in Bergkarabach keine zwei Jahre her sind. Es geht nämlich nicht um „Grenzkonflikte“ in Bergkarabach, sondern die Nichtanerkennung Armeniens durch die beiden großen Nachbarländer. John Eibner, der Chef der christlichen Hilfsorganisation CSI, hat dies bereits beim letzten Krieg in einem lesenswerten Interview prägnant auf den Punkt gebracht:

„Das Muster einer ethnisch-religiösen ‚Säuberung‘ der Armenier in ihrem anatolischen und transkaukasischen Heimatland ist klar. […] Sollte Russland – aus welchen Gründen auch immer – seine Rolle als Beschützer der Armenier aufgeben, dann ist ein sofortiger Ausbruch der anti-armenischen Gewalt anzunehmen.“

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