Tichys Einblick
Sprecher für die Juden Europas

Ariel Muzicant: Wir brauchen jetzt ein Umdenken in Europa

Es ist selten, dass einer im ÖRR so geradeaus sprechen darf. Eine seltene Kombination von Umständen führte nun zu den klaren Worten des Vertreters der Juden in Europa. Für Ariel Muzicant ist die Lage zugleich schwer und einfach: Wer nicht hören will, der müsse eben fühlen, was Europa wirklich bedeutet.

Screenprint: via ORF

Der Österreicher Ariel Muzicant ist Interims-Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses und spielt seit langem eine führende Rolle in der jüdischen Gemeinde seines Heimatlandes. Er war dabei auch nicht mit politischen Gefechten geizig, und für seine Streitbarkeit ist er wohl bis heute bekannt. Am vergangenen Freitagabend brach er den Shabbat, um sich in ein ORF-Studio zu setzen und dort über die Zunahme des Antisemitismus in Europa zu sprechen (noch für einige Tage anzusehen). Was er zuerst beklagte, geht durchaus unmittelbar zu Herzen, vor allem angesichts der mindestens sehr merkwürdigen Handlungen deutscher, französischer und britischer Polizisten, die die Plakate der israelischen Geiseln in Berlin, Paris oder London eigenhändig abkratzten, zum Teil mit dem vorgeschützten Argument, ein Impressum habe gefehlt. Sicher gingen die Beamten hier auf Weisung vor, und diese Weisung ist eben das Problem, weil dahinter weniger rechtliche Bedenken stehen als eine politische Feigheit.

Muzicant hält das Bild eines neun Monate alten Säuglings hoch, der die jüngste Geisel der Hamas sei. Dasselbe Schicksal traf eine 87-jährige, alzheimerkranke Schoa-Überlebende. Keine unabhängige, menschenfreundliche Organisation auf der Welt tue irgendetwas, um sich um diese Geiseln zu kümmern, sie etwa zu „besuchen“, so formuliert Muzicant in einem dieser Tage seltsam gewordenen Zivilisationston. Der 1952 in Haifa Geborene zählt die Namen der UNO, des Roten Kreuzes, Roten Halbmonds und Amnesty International auf.

Es geht ja insgesamt um mehr als 240 israelische Geiseln, von denen freilich nicht sicher ist, dass sie noch leben. Angesichts dieser Realitäten fühlt sich Muzicant zusammen mit vielen seiner Glaubensbrüder in Europa „allein gelassen“, wie er sagt. Er hält dieses Vergessen der israelischen Geiseln und die Verdrängung der Greueltaten der Hamas für den Beginn des Antisemitismus. Muzicant legt Wert darauf, dass es sich bei Israels Kampf im Gazastreifen um die Auseinandersetzung mit einer „Mordbrigade“ handelt, die bereit ist, das Schlimmste zu tun, um ihre Ziele zu erreichen.

Wer nicht hören will, soll nach Hause fahren

Betont zurückhaltend stellt der Moderator Martin Thür hier die Nachfrage, ob sich die Juden in Europa denn auch unsicher fühlen. Das war tatsächlich schon zuvor seine Frage gewesen. Muzicant entgegnet ihm ein klares „Und wie!“. Alle Hände habe man damit voll, die Sicherheitsvorkehrungen in den verschiedenen Ländern hochzufahren. Das gilt freilich nicht nur für Muzicants Organisation, sondern logischerweise für alles, was irgendwie im Entferntesten mit jüdischem Leben zusammenhängt.

Der Europäische Jüdische Kongress kontaktiert alleinlebende Juden in ganz Europa, um zu überprüfen, dass es ihnen gut geht. Viele trauen sich schon nicht mehr aus dem Haus, schicken ihre Kinder nicht mehr zur Schule. Diese Situation betreffe heute 1,5 Millionen in Europa lebende Juden. Viele von ihnen entfernen Hinweise von ihren Häusern und Wohnungen, die auf die jüdischen Bewohner hindeuten. Das können ihre Namen oder traditionelle Einrichtungen wie die Mesusa am Türpfosten sein. In Kriegszeiten muss eine solche Religionsvorschrift offenbar großzügig ausgelegt werden.

Muzicant weist aber darauf hin, dass schon die aktuelle Bedrohung sich nicht nur gegen Juden richte. Der neue Lehrermord in Frankreich war da gewesen, auch in Wien scheint es in der Rotenturmstraße unangenehme Zwischenfälle für Passanten gegeben zu haben. Ausgangspunkt waren immer „Täter, die bei uns leben, genauso wie in allen anderen Ländern Europas“, so sagt es Muzicant hier noch etwas verschleiernd. Dann folgt aber schon ein relativer Klartext: „Man muss einfach den zu uns gekommenen Menschen klarmachen, dass es bei uns so nicht geht. Und wenn sie’s nicht hören wollen, dann sollen sie wieder nach Haus fahren.“

Nicht nur ein Problem für die Juden in Europa

20 Millionen Muslime leben laut Muzicant heute in Europa, davon seien 90 Prozent wunderbar integriert. Doch zwei Millionen Muslime, also die verbleibenden zehn Prozent, so der Kongresspräsident, würden sich eben nicht integrieren. Ob diese Zahl stimmt oder nicht, davon hängt hier nichts ab. Entscheidend, ist dass Muzicant auf die anderen hinweist. Dass dies nicht alles Asylbewerber aus den letzten Jahren sein müssen, gibt Muzicant zu. Aber man müsse sich eben überlegen, was man mit diesen zwei Millionen (wenig sind auch das nicht) offenkundig Nicht-Integrierbaren macht. Torschlusspanik macht sich breit: „Ich glaube, dass, wenn Europa nicht jetzt handelt, ist es in einigen Jahren zu spät.“

Muzicant spricht von einem Zuwachs an antisemitischen Taten um 300 bis 500 Prozent, je nach Land verschieden. Und tatsächlich geben das die nationalen Statistiken, soweit verfügbar, her. In Großbritannien scheint der Zuwachs noch einmal um vieles höher zu sein, nämlich bei einem Faktor 14 oder mehr zu liegen.

Das eigentliche Problem sieht Muzicant – nun geschickt werdend – aber nicht als ein Problem der Juden in Europa. Wenn man zuließe, dass sich die heutigen Zustände in europäischen Ländern fortsetzen und fortschreiben, dann würden die Juden einfach aus Europa wegziehen, weil ihnen schon jetzt klar sein kann, dass es dann keine Sicherheit mehr für sie geben kann. Weder kann irgendein Staat alle jüdischen Friedhöfe, noch kann er alle jüdischen Geschäfte und Wohnhäuser beschützen, die in Frankreich und anderswo inzwischen unter einer stetigen Bedrohung stehen, die dort mit Davidsternen markiert und später möglicherweise angegriffen zu werden. Oder es klingelt einer und zieht dann das Messer …

Muzicant weist demgegenüber darauf hin, dass, auch wenn alle Juden aus Europa wegziehen sollten, immer noch eine Bevölkerung zurückbleibe, die sich ebenso wenig gegen den Terror der Koranjünger wehren können wird. Und er kritisierte noch einmal scharf: Wo es heute eine Aggression von „Islamisten“ gegen Juden oder andere Bürger gebe, da würden wohl die Täter provisorisch festgenommen, verhört, es wird fleißig ermittelt, und dann werden sie mit einer Geldstrafe freigelassen. Demgegenüber fordert Muzicant: „Wir brauchen jetzt ein Umdenken, einen Paradigmenwechsel in Europa.“ Womit das Schlusswort dieses eindrücklichen Interviews erreicht war. Begründung, siehe oben: Sonst wird es bald zu spät sein. Und wer das alles nicht hören mag, der darf auch gerne wieder gehen.

Anzeige
Die mobile Version verlassen