Jean-Claude Juncker ist immer für eine Überraschung gut. Auch in seinen fünf Jahren als Präsident der EU-Kommission war er fleischlichen Genüssen nicht eben abhold – sehr zur Freude der Journaille und sehr zum Verdruss seiner Mitarbeiter.
Denn vor allem in fortgeschritten heiterem Zustand sagte der lebensfrohe Luxemburger deutlich mehr, als es in Brüssel üblich ist. Dann erfuhr die Öffentlichkeit plötzlich etwas aus dem inneren Zirkel der EU – und Junckers Stab musste ausrücken, um die Scherben einzusammeln und zu retten, was meist nicht mehr zu retten war.
Das passierte durchaus öfter – zu oft, jedenfalls nach dem Geschmack von streng disziplinierten Berufspolitikern wie Angela Merkel. Junckers Interpretation von Redefreiheit in Feierlaune ging der deutschen Kanzlerin massiv gegen den Strich. Das war ein wichtiger Grund, weshalb sie versuchte, den Aufstieg des vielsprachigen Juristen an die Spitze der EU zu verhindern – letztlich erfolglos.
Aber das ist eine andere Geschichte. Hier und jetzt geht es um einen dieser Sprüche, die Juncker mal so nebenbei rausgehauen hat und in denen mehr Wahrheit über die EU steckt als in tausend Pressemitteilungen aus Brüssel:
„In der EU geht es am Schluss immer nur um die Bauern. Genauer: um die französischen Bauern.“
Wer das nicht glauben mag, der kann dieser Tage beim ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nachfragen. Der hat zuletzt am Montagabend eine Menge über die EU-Agrarpolitik gelernt – und über den Unterschied zwischen Reden und Handeln. Es dürfte ein recht schmerzhafter Erkenntnisprozess sein.
Denn anders als bisher werden für wichtige Agrarprodukte aus der Ukraine oberhalb einer recht kleinen Freimenge künftig wieder Zölle erhoben. Das haben eben gerade die Botschafter der EU-Staaten und eine Verhandlungsdelegation des EU-Parlaments vereinbart – gegen den erklärten Willen Ursula von der Leyens.
Die deutsche Nachfolgerin von Jean-Claude Juncker an der Spitze der EU-Kommission drängt seit Beginn des Ukraine-Kriegs auf eine immer stärkere Unterstützung für Kiew. Es fließt viel Geld, Unmengen an Waffen werden geliefert, inzwischen sind sogar Beitrittsgespräche mit der EU beschlossen worden.
Die ökonomisch bedeutendste Hilfe aber besteht bisher darin, dass die EU nach Kriegsbeginn im Frühjahr 2022 sämtliche Zölle auf ukrainische Agrarerzeugnisse ausgesetzt hat. Russland blockierte damals die ukrainischen Schwarzmeerhäfen. Ersatzweise konnten die landwirtschaftlichen Erzeugnisse dann auf dem Landweg in die EU kommen.
Von dort sollte Kiew sie auf dem Weltmarkt weiterverkaufen – jedenfalls war das der Plan der versammelten EU-Wirtschaftsexperten. Aber wie das halt so ist in der Planwirtschaft: Die begnadete Idee zündete, nun ja, nur so mittelgut.
Tatsächlich blieben nämlich wundersamerweise enorme Mengen an Mais und Hafer und so weiter in polnischen, slowakischen und rumänischen Silos hängen. Plötzlich gab es ein Überangebot in der EU. Es passierte, was dann immer passiert: Die Preise fielen, und die Wut der Bauern wuchs – vor allem in Polen, dessen Landwirte am stärksten betroffen sind. Andere osteuropäische Kollegen haben sich angeschlossen – und natürlich die Franzosen: Dort sind die Bauern bei Protesten immer gerne dabei.
Zusammen mit der existenzbedrohenden EU-Klimapolitik wurden die Vergünstigungen für die Ukraine zum entscheidenden Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Seit Monaten demonstrieren nun zehntausende Landwirte auf Polens Straßen. Sie blockieren Grenzübergänge, stoppen Güterzüge und schütten die transportierten ukrainischen Agrarprodukte auf die Gleise. Andere Bauern in anderen EU-Staaten machen es ihnen nach – mal mehr, mal weniger handfest.
Trotzdem wollte die EU-Kommission im Zuge ihrer Helft-Kiew-koste-es-was-es-wolle-Kampagne – den Bauernprotesten zum Trotz – die Zollfreiheit für Einfuhren von ukrainischen Agrarprodukten verlängern. Die waren ursprünglich bis Anfang Juni befristet. Die Rahmenbedingungen schienen auch günstig zu sein: In Polen ist ja gerade der stramme EU-Freund Donald Tusk zum Ministerpräsidenten gewählt worden, und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron gilt sowieso als einer der wichtigsten Verbündeten für die Ukraine – und für von der Leyen.
Es ist sicher keine allzu steile These, dass bei dieser Ausgangslage auch Wolodymyr Selenskyj vielleicht mit etwas Streit gerechnet – aber letztlich doch fest an eine Verlängerung der Zollfreiheit geglaubt hat. Schließlich hatte nicht nur von der Leyen ihm das fest versprochen.
Aber da kennt der Mann die EU schlecht.
Seit 2023 blockieren Polen, Ungarn und die Slowakei Importe aus der Ukraine und erlauben nur Transitverkehr. Das ist nach EU-Recht zwar eindeutig illegal, wird aber bis heute so gemacht. Die Kommission scheut den Konflikt. Sie lässt die Länder nicht nur machen – sie hat den Importstopp zwischenzeitlich sogar erlaubt. Und sie hat mehr Geld versprochen, um die Lage zu beruhigen.
Schon da hätte der ukrainische Präsident merken können, wie der EU-Hase läuft. Jetzt lernt er es auf die harte Tour.
Denn der angeblich glühende Pro-Europäer Donald Tusk fordert zwar wort- und gestenreich mehr EU-Unterstützung für die Ukraine. Aber die Wahlen in Polen hätte Tusk nicht ohne viele Stimmen auch von seinen Bauern gewonnen. Brüssel hin, Kiew her: Jetzt ist ihm das Hemd näher als der Rock. Seine Regierung hat für eine besonders niedrige Zollfreigrenze für Agrarprodukte aus der Ukraine gekämpft.
Und Emmanuel Macron fantasiert zwar wiederholt öffentlich darüber, womöglich Nato-Bodentruppen in die Ukraine zu schicken. Getreide aus der Ukraine will aber auch er möglichst nicht in der EU haben. Merke: Kein Präsident in Paris kann auf Dauer gegen die französischen Bauern regieren.
Im Ergebnis haben sich an vorderster Front Frankreich, Ungarn und Polen verbündet und von der Leyen kräftig abgewatscht. Der am Montagabend vereinbarte Kompromiss sieht nun zollfreie Obergrenzen für Eier, Geflügel, Grütze, Hafer, Honig, Mais und Zucker vor, die wesentlich niedriger sind, als es die EU-Kommission vorgeschlagen hatte. Nur Weizen bleibt außen vor.
Nach ersten groben Schätzungen von EU-Diplomaten dürften die neuen Importquoten Kiew bis zu 330 Millionen Euro jährlich kosten. Das hängt von der Entwicklung der Weltmarktpreise ebenso ab wie von den tatsächlich eingeführten Mengen und von den Kapazitäten der Häfen am Schwarzen Meer. Es könnte also weniger werden – oder auch viel mehr.
Formal muss das EU-Parlament der Einigung noch zustimmen. Aber in Brüssel glaubt sowieso niemand daran, dass der jetzt erzielte Kompromiss den Bauern in der EU ausreicht. Es geht also weiter.