Tichys Einblick
Tigray, Äthiopien, Eritrea

Afrikanische Wurzeln von Gewalt auf unseren Straßen

Den Westen erfassen die Ausläufer eines tiefsitzenden Konflikts am Horn von Afrika. Offenbar versuchen Mitglieder einer in Äthiopien berüchtigten Befreiungsfront weltweit einen Krieg fortzuführen, den sie vor Ort verloren haben - mit brutalen Gewaltakten gegen Eritreer. Von Alfred Schlicht

Protest am 6. August im kanadischen Toronto, nachdem das dortige Eritrea-Festival untersagt worden war (Protest in Toronto, Canada, on August 6 after the Eritrea Festival there was banned).

IMAGO / ZUMA Press

Als Anfang Juli im hessischen Gießen und Anfang August in der schwedischen Hauptstadt Stockholm Unruhen im Umfeld eritreischer Kulturfestivals stattfanden, wurde dies vielfach – auch in den Medien – als ein Konflikt zwischen Anhängern der eritreischen Führung und Oppositionellen, die der Regierung in Asmara kritisch gegenüberstehen, dargestellt. Aber die Lage ist komplizierter.

Schon über 30 Jahre herrscht Präsident Isayas Afewerki mit harter Hand in Eritrea – und schon länger gibt es unter den Eritreern Opposition gegen ihn. Eritrea-Festivals gibt es seit fast 4 Jahrzehnten überall in der Welt. Doch nie gab es Gewalt um diese Eritrea-Festivals, die mit dem Regime in Asmara verbunden sein sollen.

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Derartige Ausschreitungen fanden erstmals 2022 und in verstärktem Maß erneut in diesem Jahr statt. Der Verdacht liegt nahe, dass hinter den Gewaltexzessen die TPLF steht, die Befreiungsfront von Tigray, die auch den inneräthiopischen Konflikt 2020 durch brutale Gewaltakte ausgelöst hat. Erst als sich abzeichnete, dass die TPLF – nach dem Urteil des Friedensvermittlers Obasanjo die Hauptschuldige an dem Konflikt – den Krieg gegen die Zentralregierung in Addis Abeba verlieren würde, suchte sie nach anderen Schauplätzen und Opfern. Zahlreiche Auftritte im Netz bestätigten den Verdacht, dass Menschen aus Tigray wesentlichen Anteil am Gewaltmob in Gießen, Stockholm, Toronto und Seattle haben. In den sozialen Medien wurde gefordert, die Eritreer gegeneinander aufzuhetzen und vorhandene Spannungen zu schüren.

Nach den Ausschreitungen von Gießen trafen sich die Anführer der Gewalttäter im Frankfurter Restaurant ‚Tigray‘. Und zahlreiche Menschen aus Tigray beantragen bei uns als ‚Eritreer’ Asyl – unter Emigranten allgemein bekannt, aber in der deutschen Öffentlichkeit herrscht Ahnungslosigkeit. So verschwimmen bei Gewaltakten und anderen Straftaten die Grenzen zwischen genuiner eritreischer Opposition und Leuten aus Tigray, die bei uns als Eritreer firmieren und als Rädelsführer fungieren.

Für deutsche Behörden ist es nicht leicht, hier zu unterscheiden, zumal in Tigray und Eritrea die gleiche Sprache gesprochen wird. Länder, die vermeintlich Schutzsuchenden Sicherheit und auch materielle Hilfe geleistet haben, werden bedenkenlos zum Schauplatz innerafrikanischer Konflikte gemacht. Menschen, in deren Heimat Tigray Lebensmittel und Medikamente fehlen, attackieren hier die Polizei mit Steinen, die sie in Rucksäcken heranschleppen. Die Hassreden im Netz lassen befürchten, dass das in Zukunft weiter eskalieren könnte.

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Die Gegensätze zwischen Tigray und Eritrea reichen weit zurück. Schon vor Jahrhunderten unterschied man zwischen dem Inneren des äthiopischen Reiches und dem ‚Mereb-Melasch‘ – der Region [nördlich] des Mereb, der auch heute noch bzw. wieder Grenzfluss zwischen Äthiopien und Eritrea ist. Diese nördliche Region am Roten Meer wurde von einem halb-autonomen Herrscher, dem ‚Bahr-Negasch‘, dem ‚König des Meeres‘ regiert, der zeitweise auch die Funktion eines Beauftragten des äthiopischen Kaisers annahm.

Tigray dagegen wurde oft vom ‚Tigray Mekonnen‘, dem Herrn von Tigray, beherrscht. Oft konnten sich jedoch sowohl in Eritrea als auch in Tigray lokale Kräfte durchsetzen, ein geschlossenes, einheitliches Eritrea gab es ebenso wenig wie einen konsolidierten Staat Tigray.

Ein Gegensatz zwischen ‚Tigray‘ und ‚Eritrea‘ entstand, als durch die italienische Gründung der Kolonie Eritrea eine ‚harte‘ Grenze zwischen beiden Gebieten entstand. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts wurde Eritrea zwangsweise in den äthiopischen Staat eingegliedert, 1974 wurde Äthiopien von einer marxistischen Militärdiktatur übernommen, welche die repressive Politik des abgesetzten Kaisers Haile Selassie gegen Eritrea fortsetzte und intensivierte. Seit den 1960er-Jahren gab es in Eritrea bewaffneten Widerstand gegen die äthiopische Gewaltherrschaft.

Unter der kommunistischen Diktatur nahm dieser Widerstand an Umfang und Intensität zu – die Lage im Land wurde immer schlimmer, viele Eritreer suchten in den 1970er und vor allem 1980er-Jahren ihr Heil in der Flucht. Tausende gelangten damals bereits nach Europa, wo sie Asyl suchten und erhielten. Die eritreische Befreiungsorganisation EPLF war zwar die erste ihrer Art, aber mit der zunehmend brutalen Unterdrückung ganz Äthiopiens durch den kommunistischen Diktator Mengistu Haile Mariam regte sich Widerstand in vielen Teilen des großen Staates Äthiopien. Nach eritreischem Vorbild wurde die Tigray People’s Liberation Front [TPLF] gegründet. Die TPLF erhielt viel Unterstützung durch die erfahrenere EPLF.

Zwar gab es von Anfang an Gegensätze zwischen beiden Bewegungen, aber diese stellte man bewusst zurück, um Schulter an Schulter gegen den gemeinsamen Feind vorzugehen. Schon früh gab es innerhalb der TPLF die Idee eines ‚Gross-Tigray‘, das auch weite Teile Eritreas umfassen sollte.

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Schließlich hatte die EPLF zu Beginn der 1990er-Jahre Eritrea vollständig befreit. Die Eritreer unterstützten nun die Tigray-Befreiungsfront beim Vormarsch auf Addis Abeba. Nur aufgrund der massiven eritreischen Hilfe gelang es den TPLF-Kräften, die Macht in Addis Abeba zu übernehmen – dafür erhielt Eritrea die Unabhängigkeit. Die anfängliche Freundschaft zwischen Asmara und Addis Abeba hielt nicht lange. Je eigenständiger und selbstbewusster Eritrea agierte, desto ablehnender verhielt sich die Regierung in Addis Abeba, die ja von Menschen aus Tigray beherrscht wurde.

Mehr und mehr Ressentiments entstanden, Missverständnisse und technisch-administrative Probleme, etwa im Handel über die [eritreischen] Rotmeerhäfen, wurden zu Konflikten und eskalierten. Verächtlich formulierte der äthiopische Ministerpräsident Meles Zenawi, Kamele könnten das Wasser von Asab [bis dahin wichtigster Im- und Exporthafen für Äthiopien] saufen und wandte sich Djibouti als Haupthandelshafen zu. An der langen gemeinsamen Grenze kam es immer wieder zu Gewalttaten – beide Seiten beschuldigten einander. Dass Eritrea eine eigene Währung einführte, schien dem TPLF-Regime in Addis unerträglich.

Zur Jahrtausendwende Krieg am Horn von Afrika

Wenn dann 1998 ein regelrechter Krieg ausbrach, lag dies sicher auch an der fehlenden Debattenkultur am Horn von Afrika, an der nicht ausgeprägten Kompromissbereitschaft, am emotionalen Charakter des Konflikts und am Mangel an diplomatischen Verfahrensweisen. Schnell wurde der Konflikt auf die Ebene der Staats- bzw. Regierungschefs gebracht, die aus Befreiungsbewegungen und bewaffneten Konflikten kamen und somit einer Welt entstammten, in der Einlenken, Nachgeben und Kompromisse als Zeichen der Schwäche gewertet werden. So brach, vordergründig um kleine Grenzdivergenzen, der eritreisch-äthiopische Krieg aus.

Einer der härtesten und verlustreichsten Konflikte, die Afrika in der neuesten Zeit erlebt hat, ging durch internationale Vermittlung zuende – am 18. Juni 2000 unterzeichneten die beiden Kriegsparteien in Algier ein Waffenstillstandsabkommen. Eine Grenzkommission in Den Haag sollte den genauen Verlauf der Grenze zwischen beiden Gegnern festlegen. Diese kam am 13. April 2002 zu dem Entschluss, dass das von beiden Seiten beanspruchte und an sich unbedeutende Grenzörtchen Bademe Eritrea zustehe. Die von der TPLF beherrschte äthiopische Regierung akzeptierte diese Entscheidung nicht, gab Bademe nicht zurück und belog ihre eigene Bevölkerung, der internationale Schiedsspruch sei zugunsten Äthiopiens ausgefallen.

Zwar war der offene Krieg mit der Regelung von Algier beendet, doch folgte eine Eiszeit zwischen beiden Ländern. Denn noch während des Krieges war es zu Deportationen von 70.000 in Äthiopien lebenden Eritreern gekommen. Mütter wurden von ihren Säuglingen getrennt, alte Menschen wurden nachts aus ihren Betten geholt und in Busse verfrachtet, viele mussten ihr gesamtes Eigentum zurücklassen. Zwar gab es als Reaktion auch umgekehrt Ausweisungen von Äthiopiern aus Eritrea, doch mit weniger Menschenrechtsverletzungen und unter Einschaltung des Roten Kreuzes.

No war, no peace

Die folgenden 2 Jahrzehnte waren von einer Patt-Situation zwischen beiden Staaten gekennzeichnet. Es gab keinerlei Beziehungen zwischen den beiden Nachbarn, die sich doch so gut gegenseitig hätten ergänzen können. Reisen über die Grenze waren nicht möglich, es gab keine Telefonverbindungen, keinen Handel.

Eritrea zog sich weitgehend auf sich selbst zurück, baute seine Sicherheitsvorkehrungen aus und sah als absolute Priorität die Sicherung der Eigenstaatlichkeit und Unabhängigkeit. Die äthiopische TPLF-Regierung dagegen suchte Anschluss an den Westen und nahm damit die traditionelle Politik Äthiopiens aus der Zeit des Kaiserreichs, die durch die marxistische Militärdiktatur unterbrochen worden war, wieder auf. Sie profilierte sich dadurch positiv im Gegensatz zu dem Regime, das sie abgelöst hatte und auch gegenüber Eritrea, das dem Westen Misstrauen entgegenbrachte.

Es gab Wahlen in Äthiopien, wenn diese auch mit Mängeln behaftet waren, und die USA stellten sich auf den Standpunkt, dass mangelhafte Wahlen immer noch besser seien als gar keine. Außerdem empfahl sich Äthiopien als verlässlicher Verbündeter der USA und führte einen intensiven Krieg gegen die islamistische Shabaab-Miliz in Somalia – es spielte so eine im westlichen Sinne konstruktive Rolle am Horn von Afrika. Vor diesem Hintergrund gab es wenig Druck der internationalen Gemeinschaft, dem Schiedsspruch der internationalen Grenzkommission zu entsprechen und die kleinen Territorien an der Grenze an Eritrea zurückzugeben.

Dies bedeutete eine schwere Enttäuschung für Eritrea, das sich hintergangen fühlte und vom Westen allein gelassen. Eritrea wurde mit Sanktionen belegt unter dem Vorwurf, die somalischen Islamisten zu unterstützen. Um diesen Vorwürfen zu begegnen, wurde in Anwesenheit des somalischen Präsidenten eine Parade somalischer Rekruten der somalischen Regierungsarmee abgehalten, die in Eritrea ausgebildet wurden. Damit sollten die konstruktiven Beiträge zur Stabilität am Horn von Afrika unterstrichen werden.

„Game over“: Die ausgestreckte Hand von Abiy Ahmed

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Dass die Tigrayer, eine Minderheit von 5-6 Prozent der äthiopischen Bevölkerung, den 110-Millionenstaat dominierten, war auf die Dauer nicht vermittelbar und störte auch das für internationale Partner, allen voran die USA, gepflegte Image einer Demokratie. Deshalb setzte die TPLF Repräsentanten anderer Ethnien auf herausgehobene Posten, wie etwa den des Premierministers. So gelangte auch Abiy Ahmed, ein Geheimdienstoffizier, Sohn eines muslimischen Oromo-Vaters und einer ursprünglich christlichen Amhara-Mutter, ans Amt des Regierungschefs. Er, den man aufgrund seiner bisherigen Karriere als gefügigen, loyalen Apparatschik einschätzte, emanzipierte sich von der Tigray-Bevormundung und zeigte sich als unabhängiger Geist.

2018 hatte er seine Position offenbar ausreichend gefestigt, um die Hand nach Eritrea auszustrecken, offiziell die Grenzregelung der internationalen Kommission anzuerkennen und einen Verständigungs- und Normalisierungsprozess zwischen den beiden verfeindeten Nachbarn einzuleiten. In der Folge gelang es ihm, die Rolle der TPLF im Regierungsapparat zu reduzieren, politische Gefangene freizulassen und die Zensur zu lockern. Der TPLF entglitt die dominante Rolle, das Narrativ des ‚demokratischen‘ TPLF-Staates erhielt deutliche Schrammen. Zunächst wurde Abiy Ahmed international gefeiert und als Mann der Versöhnung mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Auch der eritreische Präsident nahm die Initiative von Abiy Ahmed geradezu herzlich auf, besuchte ihn in Addis Abeba und empfing ihn in seiner Hauptstadt. Im Rahmen einer Rede, welche die erste öffentliche Reaktion auf die Friedensinitiative aus Äthiopien war, sagte er an die Adresse der TPLF „Game over“ [das Spiel ist aus].

Plan B: Auf dem Weg zu einem „Groß-Tigray“?

Hatte die Friedensgeste aus Äthiopien die Welt zunächst begeistert, wurde bald die äthiopisch-eritreische Annäherung mit Vorbehalten betrachtet. Hatte man in der TPLF – auch wenn ihre Rechtsstaatlichkeit fragwürdig war – eine verlässliche Verbündete gehabt, schien der neue äthiopische Ministerpräsident die Rolle der Tigray-Befreiungsfront einzuschränken und gemeinsame Sache zu machen mit Eritrea, das die Errichtung eines US-Stützpunktes auf den Dahlak-Inseln im Roten Meer abgelehnt hatte. Besonders in den USA war man gewillt, die TPLF zu unterstützen im neuen Machtgefüge Äthiopiens, schon um dem Einfluss Eritreas zu begegnen, dessen Ausbreitung in Äthiopien man fürchtete.

Tatsächlich war die TPLF keineswegs bereit, das Verdikt des eritreischen Präsidenten, ‚das Spiel ist aus‘, zu akzeptieren. Die TPLF hatte von 1991 bis 2018 zwar Äthiopien in bester Kleptokratenmanier ausgebeutet und sich zahlreiche Vorteile verschafft, aber ihr Stammland, Tigray, nicht wirklich entwickelt, dafür aber territorial vergrößert. Für die TPLF-Führung war gesorgt worden, nicht für das Volk von Tigray. Nachdem ihr nun die Macht über ganz Äthiopien nach und nach entglitten war, holte sie ihren alten Plan B wieder hervor. Sie strebte die Errichtung eines eigenen Tigray-Staates an – allerdings im Format ‚Gross-Tigray‘, denn die bitterarme äthiopische Nordregion Tigray, immer wieder von schweren Hungersnöten heimgesucht, ist als solche nicht allein überlebensfähig.

Eine Angliederung von Teilen Eritreas hätte die landwirtschaftliche Nutzfläche vergrößert, dem vom Meer abgeschlossenen Binnenland einen Zugang zum Roten Meer eingebracht und einige wirtschaftlich interessante städtische Zentren; außerdem eine Bevölkerung, die der von Tigray kulturell und sprachlich nicht unähnlich war und die demographische Basis verbreitern konnte. Muslimische Teile des Staates Eritrea könnten Nachbarstaaten zugeschlagen werden, da das geplante Gross-Tigray als überwiegend christlicher Staat konzipiert war, während in Eritrea Christen und Muslime sich die Waage hielten. Die Spannungen in und um Tigray stiegen, es kam zu Divergenzen, ob eine Regionalwahl unter Corona-Bedingungen stattfinden dürfe, in Tigray wurde einem General der äthiopischen Bundesarmee verwehrt, sich zu seinen Truppen zu begeben. Ein offener Konflikt bahnte sich an.

Tigray-Krieg 2020–2022

Im November2020 begann die TPLF einen regelrechten Bürgerkrieg: Nachts wurde ein äthiopischer Armeestützpunkt überfallen, kurz darauf wurde ein Massaker an amharischen Wanderarbeitern in May Kadra nahe der sudanesischen Grenze begangen. Ein massives Eingreifen der äthiopischen Armee war jetzt überfällig, die TPLF eskalierte. Ziele in anderen äthiopischen Provinzen wurden beschossen und auch in Eritrea. Die TPLF-Miliz stieß in benachbarte Provinzen vor.

Wie üblich in einem solchen Bürgerkriegsszenario wurde die aufständische Provinz abgeriegelt. Es kam zu eklatanten Menschenrechtsverletzungen durch alle Konfliktparteien. Eritrea griff in den Krieg ein. Die TPLF drohte, nach Addis Abeba und nach Asmara, der Hauptstadt Eritreas, vorzustoßen. So beging sie den strategischen Fehler, eine äthiopisch-eritreische Allianz praktisch zu erzwingen und damit das Scheitern ihres Aufstandes einzuleiten. Eritrea rückte mit massiven Kräften in Abstimmung mit der äthiopischen Regierung über die lange gemeinsame Grenze nach Tigray vor. In Äthiopien hatten die Tigray-Milizen durch ihre Ausschreitungen auch gegen Zivilisten die anderen Ethnien gegen sich aufgebracht, so dass Amhara- und Afar-Milizen Seite an Seite mit der äthiopischen Armee gegen den gemeinsamen Gegner vorgingen.

Gleichzeitig versuchte die TPLF, zentrifugale Kräfte in ganz Äthiopien zu ermutigen, so dass es zu ethnischen Gewaltausbrüchen im ganzen Land kam. Doch die Rechnung ging nicht auf – es kam nicht zum völligen Zusammenbruch Äthiopiens. Erst als der Druck von Süden [äthiopische Truppen] und Norden [eritreische Truppen] zur existenziellen Gefahr für die TPLF wurde, fand sich diese zu Friedensverhandlungen bereit, die zum Abkommen von Pretoria [November 2022] führten. Auf dem Weg dorthin hatte die TPLF bedenkenlos zahlreiche Menschen in Tigray ihrer Kombination aus Machtrausch und Unfähigkeit zu strategischem Denken geopfert.

Zwar waren einige Zivilisten – von denen insgesamt 400.000 gestorben sein sollen – durch militärische Gewalt ums Leben gekommen sein, doch die Mehrzahl starb durch mangelnde medizinische Versorgung oder an Hunger. Zwar hat die TPLF das Narrativ lanciert, diese erneute Hungersnot [Tigray wird seit Jahrhunderten immer wieder von Hungersnöten heimgesucht] sei verschuldet durch äthiopisches oder eritreisches Militär. Doch erhob der Sprecher des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Stéphane Dujarric, 2022 schwere Vorwürfe gegen die TPLF, die Lager des World Food Programme überfallen und geplündert hatte.

Internationale Nahrungsmittelhilfe kam so nicht der hungernden Bevölkerung von Tigray zugute, sondern einer militanten Gruppierung, die sich daran bereicherte. Selbst die USA kritisierten dieses schamlose Vorgehen. Die Friedensregelung von Pretoria beendete zwar den akuten Aufstand der TPLF, doch blieb die TPLF als regionale politische Kraft bestehen. Welche Rolle sie künftig im Rahmen des Gefüges des äthiopischen Staates spielen wird, bleibt abzuwarten. Die aus Tigray nach Eritrea zurückkehrenden Militärfahrzeuge trugen Transparente mit der Aufschrift ‚Game Over‘ in Anspielung auf die Aussage des eritreischen Präsidenten aus dem Jahr 2018 an die Adresse der TPLF. Den bitterarmen Menschen in Tigray wäre ein Neuanfang sehr zu wünschen.

Export des Tigray-Konflikts in die ‚Diaspora‘ – Gewaltausbrüche der eritreischen ‚Opposition‘

Es ist bezeichnend, dass schwere Ausschreitungen bei Eritrea-Festivals in den Jahrzehnten, seit denen sie weltweit stattfinden, nicht stattgefunden haben. Erstmals 2022 kam es zu brutalen Gewaltakten in der bislang beschaulichen hessischen Universitätsstadt Gießen – vermeintlich durch Anhänger der ‚eritreischen Opposition‘. Auch dieses Jahr wieder wurde Gießen zum Schauplatz von unerfreulichen, inakzeptablen Szenen. Ein entfesselter Gewaltmob wütete dort, griff Polizisten und unbeteilgte Bürger an. Weitere Gewalttaten gab es bei Eritrea-Festivals in Stockholm, in Toronto und in Seattle. Bermerkenswert, dass diese Art der primitiven Konfrontation aufkam, seitdem eine militärische Niederlage der TPLF sich konkretisierte. Auch Netzauftritte weisen darauf hin, dass wahrscheinlich Täter aus Tigray am Werk waren. In bizarren Videobotschaften wird zu mehr Gewalt aufgerufen. Gefordert wird, Eritreer gegeneinander aufzuhetzen und beklagt wird, dass es immer noch nicht gelingt, die eritreische Jugend ausreichend zu mobilisieren.

Alles deutet daraufhin, dass die TPLF versucht, nun den in Äthiopien verlorenen Krieg mit anderen Mitteln fortzusetzen in allen Ländern, weltweit, in denen Eritreer Asyl suchten und fanden. Wie anfangs erwähnt, sind viele der vermeintlichen Eritreer Menschen aus Tigray. Natürlich sind auch eritreische Oppositionelle unter den ‚Aktivisten‘.Vieles deutet aber darauf hin, dass die TPLF die treibende Kraft hinter den Gewaltaktionen ist, die bei jeder sich bietenden Gelegenheiten durchgführt werden. Die Gesetzesbrecher sind Menschen, die von den Bürgern ihrer Gastländer viel Gutes erhalten haben, aber offenbar vor allem daran denken, hier ihre mitgebrachten Konflikte auszutragen – natürlich wieder auf Kosten der Bürger und Steuerzahler in Deutschland, Schweden und anderswo.

Der Autor ist Verfasser des Buches ‚Das Horn von Afrika’, das bei Kohlhammer erschienen ist.

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