Der letzte Bundeswehrsoldat hat inzwischen Afghanistan bereits verlassen. Was passiert aber nach dem vollständigen Abzug des westlichen Militärs? Wird Afghanistan sich selbst überlassen, wird es seinen eigenen Weg in die Zukunft als islamischer Gottesstaat auskämpfen? Das ist zumindest nicht der Plan der USA. Dem renommierten US-Journalisten und Buchautor F. William Engdahl zufolge sollen über 18.000 zivile Auftragnehmer des Pentagon im Land verbleiben. US-Demokraten verkaufen dies damit, dass sich bei einem ersatzlosen Abzug die Frauenfeindlichkeit des brutalen Talibanregimes wieder vollständig durchsetzen könnte. Das klingt nach edlen Motiven, ist aber bestenfalls ein Teil der Wahrheit.
Privatisierung des Krieges
Mit dem Abzug des Militärs sollen Söldnertruppen und Geheimdienste gegebenenfalls mit Unterstützung von Spezialeinheiten das Zepter übernehmen. Bereits heute kommen am Hindukusch sieben Angehörige privater Sicherheitsfirmen auf einen Soldaten. Warum aber werden die letzten militärischen Einheiten abgezogen und wird das Land fast vollständig einer Mischung aus privaten Interessen und geheimdienstlichen Aktivitäten überlassen? Etliche Motive sind dafür auszumachen, nachvollziehbare und auch einige andere.
Den längsten Krieg der US-Militärgeschichte nach 20 Jahren endlich zu beenden, kann als Erfolg verkauft werden, auch wenn Amtsvorgänger Donald Trump die Entwicklung in die Wege geleitet hat. Damit geht der Umstand einher, dass die US-Administration nicht mehr in der Öffentlichkeit begründungspflichtig ist für den Militäreinsatz einschließlich etwaiger Gefallener.
Ein Grund dürfte auch darin liegen, dass das Kriegsgeschehen damit durch den Kongress kaum mehr kontrollierbar ist. Man ist den lästigen Fragen in dessen Ausschüssen nicht mehr ausgesetzt, die Beinfreiheit in der Operationsführung vergrößert sich. Die von außen nicht überschaubaren, von innen in weiten Teilen auch kaum steuerbaren US-Geheimdienste können damit das Ruder übernehmen und ihre Bahnen ziehen. In diesem Dunstkreis können als geheim eingestufte Operationen mit „Spezialkräften“ und verdeckt wirkenden Geheimdiensteinheiten un- terhalb des Radars der Öffentlichkeit durchgeführt werden.
Der Krieg wird privatisiert und der parlamentarischen Kontrolle entzogen. Sind das aber Manöver, die sich mit der demokratischen Konstitution der Vereinigten Staaten vertragen, einem unserer engsten Verbündeten? Darf das sein, dass Söldner die Missionen von regulären Truppen in Afghanistan fortführen? In welches Licht geraten dadurch auch die NATO-Länder, die zwar ihre Soldaten heimholen, den Konflikt aber zwielichtigen Interessen und unüberschaubaren Entwicklungen überlassen?
Neben Geheimdiensten und zwischenstaatlichen Organisationen haben sich Firmen wie DynCorp als militärische Auftragnehmer in Stellung gebracht. Im Netz ist DynCorp als privates US-Sicherheits- und Militärunternehmen ausgewiesen. Von der Zentrale in den USA aus gesteuert, setzt DynCorp Mitarbeiter in vielen Konfliktgebieten der Welt ein, darunter Bosnien, Somalia, Angola, Haiti, Kolumbien, Kosovo, Kuwait, Afghanistan und Irak.
Private Anbieter militärischer Leistungen beschäftigen gerne Einsatzveteranen. Diese wissen, wo es in Krisen- und Kriegsgebieten langgeht. Ihr Berufsrisiko lassen sie sich bei entsprechender Ausbildung und dem Nachweis praktischer Erfahrung teuer bezahlen. Wenn Personen aus diesem Umfeld zu Schaden kommen, ist das lediglich Privatsache. Statt Heldenfriedhof in Arlington und Staatsbegräbnis gibt es eine Firmenbeisetzung.
Allein für Afghanistan werden derzeit 30 Mitarbeiter gesucht. Bereits bis 2019 hatte dieser Dienstleistungskonzern für Ausbildungsaufträge zugunsten der afghanischen Armee und für die Verwaltung von Militärbasen mehr als sieben Milliarden US-Dollar eingestrichen. Sehr kompliziert wird die Chose bei Aufgaben wie „Beaufsichtigung der Zerstörung afghanischer Mohnfelder“. Schaut man auf die Entwicklung der Produktionsmengen von Opium, aus dem bekanntlich das Rauschgift Heroin raffiniert wird, scheint DynCorp wie auch andere nicht sehr erfolgreich gewesen zu sein.
Rauschgiftrekorde
Die nackten Zahlen vermitteln einen verheerenden Eindruck. Die rigide Antirauschgiftpolitik der Taliban hatte zu einer Reduzierung der Opiumernten auf etwa 185 Tonnen im Jahr 2001 geführt. Entgegen allen offiziellen Verlautbarungen konnten sich nach der US-Invasion ab Oktober 2001 die Opiummärkte wieder erholen. Sechs Jahre nach Beginn der US-Besetzung gab es in Afghanistan mehr Land, auf dem Drogen angebaut wurden, als in Kolumbien, Bolivien und Peru zusammen. Nach Angaben von Alfred McCoy stieg die Opiumproduktion auf mehr als 8.000 Tonnen im Jahr 2007 und erreichte 2017 mit 9.000 Tonnen einen vorläufigen Rekord.
McCoy weiß, wovon er spricht. Er lehrt an der Universität von Wisconsin südostasiatische Geschichte mit den Forschungsschwerpunkten illegaler Drogenhandel und verdeckte Operationen des US-Geheimdiensts Central Intelligence Agency (CIA). Ergo ein ausgewiesener Kenner der Materie.
Den US-Krieg in Afghanistan beklagte Alfred McCoy im Jahr 2018 mit den Worten: „Wie konnte die einzige Supermacht der Welt mehr als 16 Jahre lang ununterbrochen kämpfen – auf dem Höhepunkt des Konflikts eine Truppe von mehr als 1000.00 Soldaten einsetzen, das Leben von fast 2.300 Soldaten opfern, mehr als eine Billion Dollar für ihre militärischen Operationen ausgeben, … eine Armee von 350.000 afghanischen Verbündeten finanzieren und ausbilden – und trotzdem nicht in der Lage sein, eines der ärmsten Länder der Welt zu befrieden?“ Nach seiner Auffassung ging es bei der US-Präsenz nicht um die Bildung einer demokratischen Nation oder Demokratie. Es ging um Heroin.
Geheimdienste am Ruder
Derartige Machenschaften hinter den offiziellen Kulissen erfordern selbstredend eine organisatorische Ausgangsbasis mit in die zwielichtigen Strukturen passendem Personal. Wie früher jene von Hamid Karzai ist die derzeitige afghanische Regierung unter Ashraf Ghani ebenfalls eine Schöpfung der Vereinigten Staaten. Ghani soll Washingtons bewährter Stellvertreter in Kabul bleiben. Einer der größten afghanischen Opiumbarone war bis 2011 der Bruder von Karzai. Im Jahr 2009 schrieb die „New York Times“ unter Berufung auf ungenannte US-Beamte: „Ahmed Wali Karzai, der Bruder des afghanischen Präsidenten und ein mutmaßlicher Akteur im boomenden illegalen Opiumhandel des Landes, erhält regelmäßige Zahlungen von der CIA, und das schon seit acht Jahren.“
Ahmed Karzais Karriere endete abrupt, als er in seinem Haus in Helmand von einem seiner Leibwächter niedergeschossen wurde. Der afghanische Landesteil Helmand ist weltgrößter Opiumproduzent.
Auch wenn Washington bestreitet, in die afghanische Opiumwirtschaft verwickelt zu sein, legt laut Alfred McCoy allein die Geschichte der CIA seit dem Vietnamkrieg etwas anderes nahe. Er dokumentierte als Autor des Buches „Die CIA und das Heroin – Weltpolitik durch Drogenhandel“ die engen Verbindungen dieses Geheimdiensts zum Beispiel zu Hmong-Stammesangehörigen in Laos, die in den Opiumhandel verwickelt waren. Später sollte sich herausstellen, dass die von der CIA kontrollierte US-Fluggesellschaft Air America während des Vietnamkriegs an verdeckten Operationen wie der heimlichen Verschiffung von Opium aus dem Goldenen Dreieck beteiligt war.
Bereits während des von den USA finanzierten Krieges der afghanischen Mudschaheddin gegen die Sowjetarmee in den 1980er-Jahren drückte der Dienst mit politischer Rückendeckung ein Auge zu, als Osama bin Laden Tausende „afghanischer Araber“ rekrutierte. Afghanische Kriegsherren wie Gulbuddin Hekmatyar bereicherten sich zusammen mit dem pakistanischen Geheimdienst ISI an den riesigen Gewinnen aus dem Drogenhandel. Es erfordert keine große Vorstellungskraft, dass möglicherweise die CIA und mit ihnen verbundene Organisationen in die einträglichen Rauschgiftgeschäfte verwickelt sind.
Treten hier entscheidende Gründe zutage, weshalb die USA Afghanistan nicht vollständig verlassen und durchs Hintertürchen im Land präsent bleiben werden? Die CIA scheint wie auch private militärische Auftragnehmer in unmittelbarer Nähe derart schmutziger Geschichten unterwegs zu sein. Das ergibt sich allein daraus, dass es über die langen Jahre zweifellos möglich gewesen sein dürfte, mit entsprechenden Schwerpunkten die verschlungenen Opiumwege auszukundschaften, Exportrouten zu kontrollieren und wenigstens die unmittelbaren Profiteure auszuschalten. Zudem müssen Hunderte Tonnen Chemikalien nach Afghanistan importiert worden sein, um aus der Milch des Schlafmohns Heroin herzustellen. Und das hätten die Amerikaner nicht mitbekommen?
Osama bin Laden ist seit zehn Jahren tot, weshalb wurde der Afghanistaneinsatz nicht spätestens damals als aussichtsloses Unterfangen abgebrochen? Die derzeitige Lage ist keine wesentlich andere als im Jahr 2011. Aber beendet wird der US-Einsatz in Afghanistan, einem der größten Opiumproduzenten der Welt, auch heute nicht. Er ändert lediglich seine Form. Ins Bild gehört auch, dass das afghanische Militär seitens der USA mit rund vier Milliarden US-Dollar jährlich finanziert wird.
Exit-Strategie für Auslandseinsätze
Ist nun im Lichte dieser Entwicklungen der jahrzehntelange Afghanistankrieg gänzlich als Fehlschlag zu werten? Müssen sich die Angehörigen der Gefallenen oder die Verwundeten sagen lassen, dass ihr Einsatz – außer der Förderung der Drogenwirtschaft und der endemischen Korruption – nichts bewegt hat? Ganz so ist es zum Glück nicht. Es gibt einige positive Pflänzchen im Lande, die der Bewässerung und Behütung bedürfen. Es wurden tatsächlich Straßen gebaut, Brunnen gebohrt und nicht nur Mädchenschulen eingerichtet.
Eine Staatlichkeit auch nur halbwegs im westlichen Sinne ist aber weit und breit nicht in Sicht. Ein langer gesellschaftlicher Atem wäre nun im Interesse einer nachhaltigen Verbesserung der Lebensbedingungen für breite Bevölkerungsschichten nötig. Durch eine verbesserte Gesundheitsversorgung und den Geburtenüberschuss ist die Bevölkerung in den letzten zehn Jahren um ein Drittel gewachsen, eine auch nur annähernde wirtschaftliche Entwicklung hat jedoch nicht stattgefunden. Infolge des Krieges und der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Katastrophen nahm der Auswanderungsdruck zu. Die Folgen sehen wir zehntausendfach in Europa.
Die Bundesregierung scheint jedenfalls erst mal froh darüber zu sein, den Kriegseinsatz in Afghanistan für die Bundeswehr beenden zu können. Viel zu späte Erkenntnisse dringen endlich durch, eine halbwegs ehrliche Aufarbeitung des bald 20 Jahre währenden Einsatzes hat dem auf dem Fuße zu folgen. Damit unser Land nicht wieder in eine kriegerische Auseinandersetzung hineinstolpert und Jahrzehnte keinen Ausweg zu dessen Beendigung findet. Von elementarer Bedeutung ist dabei, dass künftig ohne weitreichende – eigene – Strategie mit klaren Zielen keine Ein- sätze mehr begonnen werden dürfen.
Hierzu gehört das Festlegen von Bedingungen, unter denen Auslandseinsätze zu beenden sind (Exit-Strategie). Nicht fehlen darf in Anbetracht der schmerzhaften Erfahrungen am Hindukusch auch ein kritischer Blick auf das Verhalten der Verbündeten. Kriegseinsätze mit hochhehren Ankündigungen zu beginnen und die Partner zur Bündnisloyalität zu verpflichten, ist die eine Seite. Wenn das Ganze aber Tausende gefallene Soldaten später in ein Fiasko mit privaten Söldnerheeren übergeht, diskreditiert dies das ganze Bündnis nicht weniger als auch die eigene Position. Das Resultat ist alles andere als eine positive Referenz für künftige gemeinsame Operationen. Die Anzeichen der Kriegseinsätze in der Sahelzone scheinen bereits heute ähnlich problematisch.
Der Krieg gegen den Terror hat Afghanistan zum Tummelplatz privater Söldnerheere mit undurchschaubaren Interessen werden lassen, die Herrschaft der Taliban kehrt zurück.
Ein Ergebnis, das dem Westen noch lange wie ein Mühlstein um den Hals hängen wird.