„Ist die AfD ihre eigene Opposition?“ klingt als Frage zunächst einmal kryptisch, ist aber in der Tat ein interessanter Leseschlüssel nicht nur für die künftige EU-Politik der Partei, sondern auch für die gegenwärtigen innenpolitischen Probleme Deutschlands. Wieso?
Man erinnert sich: Schon seit mehreren Monaten, ja eigentlich Jahren herrschte zunehmende Verstimmung innerhalb der ID-Fraktion gegenüber der AfD. Der Grund lag nicht nur im wirtschafts- und außenpolitischen Bereich (Stichwort Schuldenpolitik und Ukrainekrieg), sondern auch und vor allem im strategischen: Viele der in der ID (und auch der EKR) zusammengefaßten Parteien, allen voran Marine Le Pens „Rassemblement National“, bemühten sich um eine sogenannte „Entdämonisierung“ des eigenen Images und der eigenen Positionen, um endlich die überall in Europa vorhandenen „Brandmauern“ zu durchbrechen und in die bürgerliche Kernwählerschaft einzudringen; und zwar nicht nur aus rein wahltaktischen Gründen, sondern auch kultur-, institutions- und identitätspolitischen Motiven. Denn nur durch Sicherung einer starken Präsenz im Bereich von Bildung, Medien, Verwaltung und Kunst kann erst jene Breitenwirkung erzielt werden, die die Voraussetzung einer echten und dauerhaften Beeinflussung von Politik ist. „It’s the culture, stupid!“, sollte es heißen, und nicht: „It’s the economy“.
Da kamen die teils realen, teils imaginierten Ausrutscher einzelner AfD-Politiker eher ungelegen, vor allem, wenn es um Anspielungen auf das Dritte Reich ging, das sich auch außerhalb Deutschlands nicht eben einer großen Popularität erfreut. Und auch, wenn man sich seitens der europäischen Partner völlig bewußt war, daß viele dieser Aussagen nicht unbedingt repräsentativ für die Gesamtpartei standen und von den deutschen und internationalen Medien oft genug verzerrt und aufgeplustert worden waren, ließ sich doch eine privilegierte Partnerschaft mit dem „gärigen Haufen“ gegenüber der französischen oder italienischen Wählerschaft nicht wirklich gut verkaufen.
Jetzt wurde die AfD also ausgeschlossen und hat sich entschieden, lieber eine zahlenmäßig überaus überschaubare Fraktion mit einigen Kleinstparteien zu bilden, als ganz alleine dazustehen; eine Entscheidung, die gar nicht so selbstverständlich ist, wie sie scheint. Denn wenn die Fraktionsbildung auch offensichtliche finanzielle und institutionspolitische Vorteile besitzt, gerade was die Anwesenheit in den verschiedenen Arbeitsgruppen und Kommissionen der EU sowie den Zugang zum allgemeinen Informationsfluß betrifft, stellt jenes neue Bündnis doch auch ein gewisses dauerhafteres „Commitment“ gegenüber den neuen Partnern dar und kommt natürlich auch einer politisch-ideologischen Solidaritätserklärung gleich, die durchaus längerfristige Konsequenzen hat, während eine „splendid isolation“ weniger Zukunftsoptionen verschließen und dafür eine gewisse ideologische Selbstfindung ermöglichen würde.
Wer sind also die neuen Partner der AfD-Delegation, und was sagt dies über das Selbstverständnis der Partei aus?
Da wäre zunächst die polnische „Konfederacja“; wie die „AfD“ ein gäriger Haufen, der so ziemlich alles umfaßt, was rechts von der ehemaligen Regierungspartei PiS steht und von monarchistischen und ultrakatholischen bis hin zu neopaganen, antisemitischen und ultraliberalen Positionen eine verwirrende politische Vielfalt umfaßt und sich im inneren Dauerstreit befindet – kein Wunder, daß von sechs Abgeordneten wohl nur drei sich der neuen Fraktion angeschlossen haben.
Ferner wird Éric Zemmours „Reconquête“ in der neuen Fraktion vertreten sein; allerdings nur mit einer einzigen Abgeordneten, nämlich der Lebensgefährtin Zemmours, da die vier anderen sich während des jüngsten französischen Wahlkampfs von ihrem Parteichef distanziert haben. Dieser hatte sich gegen eine engere Allianz mit Le Pens „Rassemblement National“ ausgesprochen, den er als zu zentristisch empfindet.
Wie die beiden vorangegangenen Gruppen läßt sich auch die ungarische Partei „Mi Hazank Mozgalom“ als rechte Opposition gegenüber einer rechtskonservativen Mehrheitspartei verstehen, nämlich der Fidesz Viktor Orbáns. Sie wird mit nur einem Vorsitzenden anwesend sein; ebenso wie die tschechische „Svoboda a přímá demokracie“, die gleichfalls in „rechter“ Opposition zur „ANO“ des ehemaligen Ministerpräsidenten Andrej Babiš steht. Nur die bulgarische „Wasraschdane“ und die litauische „Volks- und Gerechtigkeitsunion“, beide auch mit nur einem Abgeordneten im EU-Parlament vertreten, stellen in ihrem jeweiligen Umfeld die stärkste bzw. einzige relevante Rechtspartei dar. Diskussionen werden wohl auch noch mit der slowakischen Partei „Republika“ geführt, die zwei Abgeordnete besitzt (von denen aber wohl nur einer in die neue Gruppe aufgenommen werden soll), sowie mit der spanischen „Se Acabó la Fiesta“ (drei Abgeordnete) – auch hier handelt es sich um eine Art Rechtsopposition gegen die „gemäßigteren“ rechtskonservativen Parteien SR bzw. VOX.
Nun soll gar nicht geleugnet werden, daß jede dieser Parteien aus ihrem eigenen Kontext verstanden werden muß und auch höchst individuelle Positionen vertritt, doch bereits dieser oberflächliche Überblick zeigt, worauf es in diesem kleinen Artikel ankommen soll: Im „Europa der souveränen Nationen“ sitzen fast ausnahmslos Kleinstparteien, deren Existenz in ihrer jeweiligen Nation nur durch ihre rechte Opposition gegenüber einer größeren, ebenfalls rechtskonservativen Partei legitimiert wird.
Nun ist klar, daß die AfD sich diese Kombination nicht aus freien Stücken aussuchen konnte, sondern überhaupt nur mit solchen Parteien in Kontakt treten konnte, die in den beiden größeren Rechtsfraktionen ID und EKR keinen Platz hatten. Trotzdem ist die neue Bündnissituation nicht uninteressant für das Selbstverständnis wenigstens gewisser Kreise der AfD, die seit Jahren eher gegen die echte oder imaginierte „Entdämonisierung“ der eigenen Partei zu kämpfen scheinen als gegen den äußeren Gegner. Daß die AfD nicht „eine“, sondern eigentlich „zwei“ Parteien ausmacht, und zumindest im europäischen Kontext nun in einen Verband mit jenen getreten ist, die sich als Gralshüter „echten“ Rechtskonservatismus empfinden und gegen die Liberalisierungsbestrebungen ihrer jeweils „salonfähigeren“ größeren rechtskonservativen Gegner stemmen, ist also durchaus aussagekräftig, auch für den inneren Machtkampf der AfD.
Handelt es sich bei der Zusammenarbeit der AfD mit den sogenannten „Hooligans“ nun nur um eine kurzfristige Notlösung, oder aber um eine dauerhaftere, wenn auch unfreiwillig getroffene Entscheidung? Die nächsten Jahre werden es zeigen. Deutlich ist aber, daß weder Viktor Orban, noch Marine Le Pen, Jarosław Kaczyński, Santiago Abascal Conde, Andrej Babiš oder viele andere besonders „amused“ sein werden, daß die größte rechtskonservative Partei des größten EU-Staats nunmehr nicht die gleichberechtigte Partnerschaft mit den anderen „Großen“ sucht, von denen viele bereits Regierungsverantwortung ausübten, sondern die Augenhöhe zugunsten einer Solidarisierung mit den Kleinstparteien der jeweiligen nationalen Rechtsoppositionen aufgibt.
Freilich: Politiker haben ein langes Gedächtnis, Bündnisse aber können von einer Minute auf die nächste umstürzen. Aber trotzdem: Der Weg hinein in die Mitte von Gesellschaft und Wählermasse, der Kampf um Koalitions- und Regierungsfähigkeit, die Suche nach starken europäischen Partnern, der Gang durch die Institutionen und die allgemeine Vernetzung mit den konservativen Milieus Europas wird durch die neue Konstellation weder kurz- noch mittelfristig wirklich gefördert werden, was fraglos auch Auswirkungen auf die innerdeutsche Positionierung einer AfD haben wird, die zumindest in wesentlichen Teilen paradoxerweise Rechtsopposition gegen einen in Deutschland weitgehend inexistenten moderateren Rechtskonservatismus zu spielen scheint …