In der westlichen Welt herrscht Weihnachtsstimmung, 2024 geht zu Ende, aber in keiner überregional bedeutenden Region ist der Jahresausklang gegenüber dem Jahresbeginn derart verändert wie im Nahen Osten: Die Assad-Diktatur ist gewaltsam beendet, die aggressive Militärmacht Iran ist entzaubert, Russland hat für den Nahen Osten keine Hand mehr frei, die Terror-Organisationen Hamas und Hisbollah sind weitgehend zerstört und Israels Ministerpräsident Benyamin Netanyahu steht auf dem Gipfel des höchsten Berges der Region, dem 2800 Meter hohen Hermon, der die Grenze zu Syrien bildet. Soweit sein Auge reicht: Israels Verteidigungsarmee hat im Nahen Osten grundlegend aufgeräumt. Jetzt werden die Karten neu gemischt.
Wer dieses Szenario im Januar oder auch noch Monate später vorausgesagt hätte, dem hätte man einen guten Psychiater empfohlen. Auch am Tisch der Nahost-Experten aller Couleur, in den Staatskanzleien der EU, bei den UN, auf allen Gipfeln der Präsidenten und Ministerpräsidenten inklusive der Außenminister gab es keinen einzigen, der auch nur ansatzweise die aktuelle Lage als geopolitisches Erdbeben realitätsnah eingeschätzt hat.
Der amerikanische Sicherheitsberater, Jake Sullivan, der in diesem Jahr fast im Stile einer Pendeldiplomatie eines Henry Kissinger die Region vielfach bereiste, dem wohl alle Informationen der westlichen Geheimdienste zur Verfügung stehen, musste deshalb dieser Tage in einem Fernseh-Interview eingestehen: „Ja, wir sind überrascht … die Geschwindigkeit, der Umfang und das Ausmaß der Neugestaltung des Nahen Ostens in dieser kurzen Zeit – ich glaube, es gibt nur sehr wenige Menschen, die das alles hätten vorhersagen können und dass wir hier im Dezember 2024 sitzen und das Bild so sehen würden, wie es aussieht.“ Die Einschränkung, „es gibt nur sehr wenige Menschen“, ist eine diplomatische Formulierung für „nobody“, Jake Sullivan eingeschlossen.
Es begann am 17. September: Rund 3000 Nachrichten-Pager explodierten urplötzlich auf einen digitalen Knopfdruck in den Händen und Hosentaschen führender Hisbollah-Terroristen im Libanon. Ein allseits bestauntes Wunderwerk der israelischen Geheimdienste. Zehn Tage später pulverisierte eine Spezialbombe die Zentrale der Hisbollah-Terror-Organisation in Beirut mit ihrem Anführer Hassan Nasrallah und mehrere Komplizen. An einem Samstagmorgen vier Wochen später greift Israels Luftwaffe militärische Einrichtungen im 1500 Kilometer entfernt liegenden Iran effizient an. Es war eine Antwort auf rund 200 ballistische Raketen und Drohnen, die der Iran auf Jerusalem und Tel Aviv am 1. Oktober zielte. Dabei starb ein einziger Mensch und das war ausgerechnet ein Araber in Jericho. Alle Kampfflugzeuge der Israel Air Force landeten sicher auf ihren Heimatflughäfen.
Israel hätte schon viel früher angegriffen, wenn sein Hauptunterstützer, die USA, seit Monaten nicht vehement Einspruch erhoben hätten. Washingtons Geheimdienste und Nahost-Experten fürchteten einen allumfassenden Krieg im Nahen Osten mit Tausenden von Toten auch auf israelischer Seite, wenn die IDF im Libanon einmarschiert und den Iran direkt angreift. Israel wusste es nicht besser, aber es hatte keine andere Wahl. Der Gegner wollte und will die Auslöschung des Judenstaates. Exakt den Genozid, den auch internationale Gerichte in Den Haag versuchen, Israel vorzuwerfen.
Schon in den ersten Tagen nach dem Einmarsch in den Libanon stellte sich heraus, dass Israel keinen Tag zu früh kam. Die Hisbollah war drauf und dran, im Norden Israels ein viel größeres Massaker anzurichten als die Hamas ein Jahr zuvor im Umfeld von Gaza. Sie waren weitaus besser ausgerüstet, konnten im Süden des Libanon walten und schalten, wie sie wollten, fast jedes Haus war mit schwersten Waffen ausgerüstet. Nachdem Israel fast die gesamte Infrastruktur der Hisbollah zerstört hat – innerhalb von acht Wochen – und inzwischen ein Waffenstillstand vereinbart wurde, nimmt die libanesische Bevölkerung in diesen Tagen mit den israelischen Truppen Kontakt auf und liefert restliche Waffen freiwillig ab. Israels Strategie ist damit aufgegangen – zumindest vorläufig. Anzahl der getöteten Soldaten der IDF: 57 und 21 Zivilisten.
Eben das Vorläufige ist – beabsichtigt oder auch nicht – die Ursache für den Sturz der über 50-jährigen Assad-Diktatur in Syrien. Assads Gegner, davon gab es stets jede Menge, lagen seit Jahren auf der Lauer, haben die Gunst der Stunde genutzt. Sie haben erkannt, dass der Iran eine Macht der Maulhelden ist, die Assad mit eigenen Truppen nicht zu Hilfe eilt, ihn gnadenlos im Stich lässt. Proxys sind offensichtlich kalkulierte Opfer. Dass sich Putins Russland nach über 1000 Kriegstagen in der Ukraine nicht in Syrien militärisch engagiert, dafür muss man nicht politische Wissenschaften studiert haben oder Militär-Experte sein. Moskau geht es einzig und allein um ihren Stützpunkt an einem warmen Meer. Ein Traum seit dem russischen Zarenreich. Der Traum ist vorerst nicht gefährdet. Dass Assad und Familie bei Putin Unterschlupf gefunden haben, ist Mafia-Ehre.
Syrien, das heute halb so groß ist wie die Bundesrepublik und 22 Millionen Einwohner hat, war die letzten 2000 Jahre nie ein einheitlicher Staat, der sich selbst regiert hat. Zuletzt 661 v.d. Z. nur 90 Jahre lang. Das Land ist eine Ansammlung mehrerer Völker und Stämme: Araber, Turkmenen, Armenier und Kurden, um nur die wichtigsten zu nennen. Sie sprechen unterschiedliche Sprachen, haben verschiedene Traditionen, sind Muslime, Christen, Drusen oder Alawiten mit verschiedenen Rechtssystemen, die allesamt mit Demokratie und Menschenrechten nichts am Hut haben. Im Norden führte die Türkei unter Erdogan seit Jahren fast ungestört einen rücksichtslosen Kleinkrieg gegen die Kurden. Deshalb hat sich jeder Machthaber Syriens bisher nur mit Gewalt durchsetzen können. Assads Gefängnisse waren Schlachthäuser für politische Gegner.
Alawiten – die Assad-Familie gehört dazu – sind im Islam minderwertiger als Christen und Juden. Das heißt etwas. In dieser Region sind Mitleid und Menschlichkeit, die der Westen gerne pflegt, eine unbekannte Währung. Wer hier mitreden oder gar Einfluss haben will, muss das wissen und bei allen Entscheidungen im Hinterkopf haben – so traurig und ablehnungswürdig diese Tatsache sein mag. Mit einer feministischen Außenpolitik sitzt man in Syrien und in der muslimischen Umgebung bestenfalls am Katzentisch. Euros und Dollars werden gerne angenommen. Gegenleistung: schaumamal.
Wohin die Reise geht, weiß zum Jahresende niemand. Die siegreichen Islamisten, die sich unter dem Dach der Hayat Tahrir al-Sham (HTS) zusammengeschlossen haben, senden versöhnliche Signale auch in Richtung Israel. Sie waren einst Mitglieder der gefürchteten Terror-Organisationen Al Qaida und ISIS, haben sich aber inzwischen von ihnen losgesagt und in der nördlichen Provinz Idlib für syrische Verhältnisse vernünftig regiert.
Auch die HTS hat jetzt zur Kenntnis genommen, wie 350 israelische Kampfflugzeuge hunderte syrischer Flugzeuge, Kriegsschiffe, Waffenlager und Waffenfabriken in wenigen Stunden zu Lande und in den Häfen sicherheitshalber zerstört haben, bevor sie in falsche Hände geraten. Der machtvolle Auftritt Israels war Absicht. Diese Sprache wird in der Region verstanden.
Wer immer HTS ist, welche Ziele die fünf darin befindlichen Milizen anstreben, die neuen Machthaber stehen vor einem Scherbenhaufen, sie brauchen Hilfe. Wer ihnen die Hand reicht, muss wissen, mit wem er sich einlässt und sollte die Vergangenheit kennen. Gutmenschen werden jedenfalls das Nachsehen haben.