Anlässlich des 20. Jahrestags der EU-Osterweiterung am 1. Mai traf der polnische Außenminister Radek Sikorski seine deutsche Amtskollegin Annalena Baerbock. Beide kamen zunächst in der Grenzstadt Słubice zu Gesprächen zusammen und diskutierten anschließend mit Studenten der Europa-Universität Viadrina in der Nachbarstadt Frankfurt (Oder). Die Feierlichkeiten erinnerten an einen sowjetischen Märchenfilm: Alles ist groß, prächtig und im Überfluss vorhanden, die wachsenden Sorgen über die zunehmende und autokratisch eingesetzte Macht des Herrschers wird jedoch ausgeblendet.
Nach dem Beitritt Polens im Mai 2004 war die „EU-phorie“ groß. Wildfremde Menschen lagen sich in den Armen, die Oderbrücke in Słubice war mit Sektkorken übersät. Die Europäische Union sollte den neuen Mitgliedsländern eine „Rückkehr in den Westen“ ermöglichen, vor allem aber persönliche Freiheiten garantieren, wie Gedanken- und Informationsfreiheit sowie das Recht auf freie Meinungsäußerung. Die EU sollte folglich den ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes all das gewährleisten, was die Sowjetunion ihnen einstmals verwehrte. Als „historischen Moment“ bezeichnete der damalige polnische Ministerpräsident Leszek Miller die Unterzeichnung der Beitrittspapiere. Sein Außenminister Włodzimierz Cimoszewicz hielt damals in Słubice eine flammende Rede. Beide waren erst einige Jahre zuvor aus der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) ausgetreten, die sich strikt an die Vorgaben des Moskauer Machtzentrums gehalten hatte.
Nein, es war nicht alles schlecht. Von der Waren- und Kapitalverkehrsfreiheit hat die polnische Wirtschaft zweifellos profitiert. Zudem habe das Land in den letzten zwanzig Jahren bei Ausgaben von 86 Milliarden Euro insgesamt 261 Milliarden Euro an Transfers aus dem EU-Haushalt erhalten, so Polens Ministerin für Regionalentwicklung Katarzyna Pełczyńska-Nałęcz. Darunter seien 165 Milliarden Euro im Rahmen der Kohäsionspolitik, 11,4 Milliarden Euro aus der Aufbau- und Resilienzfazilität und 78 Milliarden Euro im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) geflossen.
Auch für Deutschland war der EU-Beitritt der Visegrád-Staaten kein unprofitables Geschäft. Deutsche Unternehmen verlagerten Teile ihrer Produktion nach Polen, Ungarn, Tschechien oder in die Slowakei und sorgten so für eine erhöhte Wettbewerbsfähigkeit dieser Firmen. Der von vielen befürchtete Zuzug von Arbeitsmigranten hielt sich damals in Grenzen. Wenn er überhaupt stattfand, dann trug er eher dazu bei, den deutschen Fachkräftemangel abzumildern. Häufig wird übersehen, dass dieser Arbeiterabgang ebenfalls ein hoher Preis war, den die neuen Mitgliedsländer für den langersehnten Beitritt zu entrichten hatten.
Konkret geht es um die „Verordnung über die Konditionalität der Rechtsstaatlichkeit“, die seit Anfang 2021 in Kraft ist. Sie sollte dafür sorgen, dass Verstöße gegen „rechtsstaatliche“ Prinzipien wie die Gewaltenteilung nicht mehr ungestraft blieben. Die EU-Kommission hatte Warschau und Budapest gedroht, die Auszahlung von Mitteln aus dem EU-Haushalt zu kürzen. Beide Regierungen klagten deshalb vor dem EuGH, verloren aber den Streit, weil die linke und intransparente Lobbykratie sich zu diesem Zeitpunkt schon längst aller EU-Institutionen bemächtigt hatte. Schon zuvor kam es zu einer nicht endenden Reihe von Konflikten zwischen der PiS und einigen von heimischen Zuträgern unterstützten rot-grünen EU-Parlamentariern, die einfach nicht mitansehen konnten, wie Kaczyńskis Partei die polnische Justiz vom postkommunistischen Ballast befreite.
Spätestens seit dem Zerwürfnis zwischen Polen und der Europäischen Union über eine sinnvolle Migrationspolitik beharrten die polnischen Konservativen regelmäßig darauf, sich nicht zu beugen, wenn wichtige eigene Interessen betroffen waren. Dies änderte sich am 13. Dezember 2023, als der ehemalige EU-Ratspräsident Donald Tusk im postkommunistischen Lager Verbündete fand und das Gefühl der Macht das Bewusstsein der Verantwortung für das Land verdrängte. Polens neuer Ministerpräsident wird jeder Überarbeitung der EU-Verträge zustimmen, auch wenn über künftige Krisen hinter seinem Rücken entschieden wird. Durch eine Reform der Abstimmungsverfahren im Rat, einschließlich der Einführung der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit statt der Einstimmigkeit in den einschlägigen Bereichen, soll die Handlungsfähigkeit der EU „gestärkt“ werden. Es bedarf keiner herausragenden geistigen Fähigkeiten, um zu erkennen, dass wir es hier mit dem Alptraum eines europäischen „Föderalstaates“ zu tun haben – ganz im Sinne des italienischen Kommunisten Altiero Spinelli.
Wenn die linksliberalen Kräfte und gleichgeschalteten Medien im Jahr 2024 immer noch euphorisch den EU-Beitritt besingen, dann missachten sie, dass der Green Deal ein schlechtes Geschäft für den Planeten ist. Die vermeintlichen Klimaschützer, die einen radikalen Umbau der Agrarwirtschaft herbeisehnen, gleichen einer fanatischen Sekte, die ihre Umweltprobleme einfach in andere Länder und Weltregionen auslagert. Sie erkennen nicht, dass ihr Konzept mit erheblichen Einkommensverlusten in der Landwirtschaft und steigenden Verbraucherpreisen verbunden ist, ignorieren beflissentlich wissenschaftliche Folgenabschätzungen.
Dieses „Null-Emissions-Europa“ hat nichts mit der EU zu tun, in die wir 2004 als entschlossene Verteidiger europäisch-christlicher Kultur große Hoffnungen setzten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich angesichts der beschriebenen Sachlage der Ton gegenüber der EU verschärft – und zwar bis hin zur Parallelisierung von Brüsseler Auflagen für Polen mit einstigen Anweisungen aus dem sowjetischen Moskau. Die gegenwärtige Europäische Union erinnert in der Tat eher an die UdSSR, vor der wir einfach nur flüchten wollten. Dürfen wir trotzdem hoffnungsvoll in die Zukunft blicken? In Zeiten von ausufernder Pauperisierung ist links-grüne „Schönwetter-Politik“ nicht mehr wahltauglich. Am 9. Juni ist Europawahl.