Ein Telefonat mit dem deutschen Konsultat auf der griechischen Insel Samos bringt wenig Erkenntnisgewinn, trotzdem der sympathische Konsul persönlich gerne bereit ist, Auskunft zu geben. Er selbst ist ein Sohn der Insel, es bleibt sogar noch Zeit, über das Wetter zu sprechen – die Temperaturen liegen jetzt im März mitunter schon bei angenehmen 20 Grad, die haben wir aber am Wochenende auch in Deutschland.
Hinterfragen wollten wir Meldungen, die besagen, dass die Bewohner der Insel ihre Kinder nicht mehr in die Inselschule schicken, solange dort Kinder von Flüchtlingen mit unterrichtet werden. Besagte Eltern sollen sich angeblich vor allem vor ansteckenden Krankheiten sorgen, die hygienischen Bedingungen im Flüchtlingslager seien nicht gut. Giorges Christides berichtet für den Spiegel von der Insel mit etwas mehr als 30.000 Einwohnern, dass an der Vathy-Grundschule statt ansonsten 150 aktuell nur noch ein paar dutzend einheimische Schüler den Unterricht besuchen. Mit etwas wie einem „Fridays for Future“ hat das allerdings nichts zu tun, hier hindern besorgte Eltern ihre Kinder am Schulbesuch.
Der Konsul berichtet beruhigend, dass seine Enkel weiterhin zur Schule gehen würden. Er gibt uns behutsam zu verstehen, dass hier auch so etwas wie eine Überbesorgtheit Antrieb für viele Eltern sein könnte. Sicher gäbe es unter den „Flüchtlingen“ Erkrankungen, aber eben auch ein gutes Krankenhaus, wo immer mehrere der akut Erkrankten untergebracht seien.
Von Friede, Freude, Eierkuchen im Urlaubsparadies kann aber wohl dennoch nicht die Rede sein, wenn auf Samos im Februar dieses Jahres staatliche und kommunale Behörden die Arbeit niedergelegt haben und auch viele Läden geschlossen blieben, um auf die untragbaren Verhältnisse in einem dramatisch überfüllten Flüchtlingslager hinzuweisen. Die Menschen sollten nun endlich auf das griechische Festland verbracht werden, in einem für etwas mehr als 600 Menschen ausgelegten so genannten Registrierungslager seien mittlerweile fast 4.000 untergebracht. Der Konsul weiß zudem noch von weiteren „Geflüchteten“, die bereits in Häusern auf der Insel verteilt lebten.
Nun könnte die Sorge der Inselbewohner um ihre Kinder doch mehr als nur eine Art Helikoptersyndrom sein. Indizien dafür liefern Berichte einer Organisation, der man nicht nachsagen kann, negative Stimmung gegen Zuwanderer zu machen, wenn die Hilfsorganisation „Samos Volunteers“ mit ihren etwa 30 freiwilligen Helfern gegenüber Deutschlandfunk von unhaltbaren gesundheitlichen Zuständen berichtet, es da wörtlich von einem der Teamleiter heißt: „Unsere Helfer sammeln die Kleider oben in der Zeltstadt – bringen sie runter und wir waschen die dann bei hoher Temperatur. Denn wir müssen Keime und Bakterien abtöten. Viele Flüchtlinge haben Hautkrankheiten – ohne etwas Hygiene bekommen wir das nicht in den Griff. Gegen Krätze brauchst du Medizin, Salben und eben saubere Kleidung. Deshalb versuchen wir, die Sachen der Leute bei 60 Grad zu waschen. Damit wir die Bakterien in den Klamotten alle abtöten.“
Die medizinische Situation sei zudem alles andere als ausreichend, wenn nur ein Doktor und ein paar Pfleger für mehr als 4.000 Flüchtlinge zuständig seien. Jetzt fordern die besorgten Eltern aber nicht zuallererst den Ausschluss der fremden Kinder, sie wünschen sich für diese Mitschüler ihrer eigenen Kinder einfach bessere Verhältnisse in den Lagern, wenn Giorgos Christides berichtet, dass die Eltern ihre Proteste noch ausweiten wollen, wenn die Zustände im Lager nicht verbessert, wenn die Menschen dort nicht endlich „unter vernünftigen Bedingungen lebten und dementsprechend für andere Kinder „ungefährlich“ seien.“
In dem Zusammenhang werden auch Zahlen der Migrationsbewegung aus der Türkei nach Samos genannt, die man schnell hochrechnen kann. Wenn die Samos Volunteers erzählen, dass pro Woche zwischen 50 bis 300 „Flüchtlinge“ auf das griechische Festland gebracht werden und wenn das eben genau die Zahl ist, die sich auf der Insel die Waage mit den Neuankömmlingen hält, dann hieße das ja, dass alleine auf Samos pro Monat zwischen 200 und 1.200 Migranten ankommen, also im Jahr bis zu 15.000 Migranten.
„Die Zahl der Menschen, die von hier aufs Festland gebracht werden, schwankt stark. Mal sind es zwei- oder dreihundert pro Woche, dann wieder nur 50. Und da aus der Türkei immer wieder neue Flüchtlinge kommen, hält sich das im Moment so in etwa die Waage, Samos wird nicht genug entlastet.“
Die Helfer berichten, dass viel mehr Leute von der Insel aufs Festland gebracht werden könnten. „Aber es passiert nichts – das geht nicht schnell genug alles.“
Welche Probleme aber löst hier eigentlich der so genannte „Türkei-Deal“, also der Flüchtlingspakt, den Angela Merkel bzw. die Europäische Union mit der Türkei schon im März 2016 abgeschlossen hatten?
Nein, von der Rückführung illegaler Migranten in die Türkei kann längst keine Rede mehr sein. Laut Welt spotten die Zustände in den Lagern der Ägäis „jeder Beschreibung.“ Explizit verweist die Zeitung dabei auf die Verhältnisse auf Samos und entsprechende interne Berichte der deutschen Botschaft in Athen. Kein geringerer als der Vorsitzende des Lenkungsausschusses zur Umsetzung des Paktes, der Brite Sim”on Mordue, bezeichnete die Situation auf Samos als „Schande für Europa“.
Die Asylverfahren laufen demnach auch dort weiter im Schneckentempo ab und die durch den Pakt erhofften Rückführungszahlen bleiben aus. Die Kernidee des Paktes, dass „Flüchtlinge, die von der Türkei aus illegal zu den griechischen Inseln übersetzen, wieder zurückgeschickt werden, funktioniert einfach nicht. Stattdessen werden diejenigen, die von der Türkei übersetzen, irgendwann auf das griechische Festland verbracht, offensichtlich immer gerade in der Anzahl, das die Zahl der bereits Anwesenden nicht ab- oder zunimmt. Maximal zynisch könnte man hier von einer Bestandspflege sprechen.
Wo diese Zuwanderer, die auf das Festland verbracht werden, anschließend verbleiben, wäre die nächste spannende Frage. Wenn, was in der überwiegenden Zahl der Fälle anzunehmen ist, das Endziel Deutschland heißt, dann dürfte rein rechtlich kein Aufenthalt von längerer Dauer sein, wenn der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg Deutschland gerade die Rückführung von Flüchtlingen in andere EU-Staaten erleichtert hat mit der hochrichterlichen Feststellung, dass Mängel im Sozialsystem noch kein Grund seien, „eine Abschiebung auszusetzen, urteilten die obersten europäischen Richter.“
Nun soll von Januar bis Ende November 2018 die „Rekordzahl“ von 8.658 ausreisepflichtige Asylsuchende in andere Mitgliedsstaaten abgeschoben worden seien, berichtete die „Süddeutsche Zeitung“ unter Berufung auf Angaben des Bundesinnenministeriums.
Das allerdings dürfte alles andere als eine Erfolggeschichte sein, wenn konservativ geschätzt längst jeder dritte Asylbewerber ein so genannter Dublinfall ist, wenn er also bereits in einem EU-Land mit EU-Außengrenze registriert worden wäre. Dem Prinzip nach sind allerdings die allermeisten Asylbewerber solche Dublinfälle, wenn sie nicht beispielsweise über das Resettlement-Programm des UNHCR nach Deutschland eingereist oder eingeflogen sind.
Aber noch mal zurück zu den insgesamt 8.658 Abschiebungen: Die im Zusammenhang mit Samos interessante Frage wäre ja, wie viele der auf das Festland verbrachten Migranten einfach nach Deutschland weiterziehen, hier von Behörden als bereits auf Samos registrierte Migranten festgestellt und also rechtmäßig wieder nach Griechenland abgeschoben werden müssten.
Die Zahlen sind ernüchternd: Griechenland soll bisher keinen einzigen Migranten zurückgenommen haben, berichtete vor wenigen Tagen die Frankfurter Rundschau: „Ersuche Deutschlands an Griechenland (…) Flüchtlinge zurückzunehmen, bleiben meist ungehört. Zurückgenommen worden sei kein einziger Flüchtling.“ Hier wäre Griechenland ebenso hartnäckig wie beispielsweise Ungarn. Athen hatte sich überhaupt nur in 81 von 2.312 deutschen Rücknahmeersuchen überhaupt für zuständig erklärt. Heißt das, dass das Land, das einen mit Angela Merkel befreundeten sozialistischen Regierungschef hat, mindestens in dieser Hinsicht nicht um seinen Ruf fürchten muss?
Nun sagen diese 8.658 Abschiebungen für sich schon etwas aus, wenn tatsächlich über 50.000 Rücknahme-Anträge gestellt wurden. Die Anträge wurden sogar in 35.375 Fällen von den angefragten Ländern akzeptiert, passiert ist indes nur in etwa jedem vierten Fall etwas. Besonders pikant: Von den Anträgen anderer EU-Länder an Deutschland, in Deutschland erstregistrierte Asylbewerber zurückzunehmen, entsprach Deutschland in über 3.500 Fällen den Ersuchen aus Griechenland. Hier wäre noch interessant, warum sich in Deutschland registrierte Zuwanderer nun wieder in Griechenland melden. Ja, es ist kompliziert.
Übrigens: Wenn beispielsweise ProAsyl berichtet, auf den griechischen Inseln würden insgesamt 15.000 Migranten festsitzen, dann scheint das nur die halbe Wahrheit zu sein, wenn es durchaus eine Bewegung gibt: Rechnen wir 4.000 Zuwanderer von Samos mit dem genanntem wöchentlichen Austausch gegen (50- 300), dann sind diese 4.000 rein rechnerisch innerhalb eines Monats komplett ausgetauscht.
Woche für Woche kommt also auch von Samos aus eine bestimmte Zahl (50-300) von Migranten auf das griechische Festland, um wohin weiter zuziehen, wenn Griechenland kaum mit Deutschland vergleichbare Leistungen für seine Antragsteller übrig hat?
Die Tagesschau hat diese unhaltbaren Zustände auf Samos, die den Wunsch der Zuwanderer nach Deutschland zu kommen, so dringend macht, schon einmal im August 2018 in wunderschönster Relotius-Prosa aufgeschrieben: „Wie Glühwürmer geistern die Lichtsignale der Smartphones durch die wilde Zeltstadt hoch über Vathi. Es sind primitive Zelte für mehr als 500 Flüchtlinge – ohne Stromversorgung, keine Duschen, wenig Waschstellen. Abends ist es in dieser Geister-Zeltstadt fast ganz dunkel.“
Zuletzt noch ein Anruf in einem Düsseldorfer Reisebüro, das sich auf Urlaubsreisen auf die griechischen Inseln spezialisiert hat. Wir geben uns als Urlaubsinteressierte aus und fragen, wie das denn wäre mit den „Flüchtlingen“, ob man denn überhaupt dort noch Urlaub machen könne, ohne den Kindern unschöne Bilder anbieten zu müssen. Die nette Dame am Telefon ist selber Inselgriechin und beruhigt uns ganz freundlich: Nein, die Flüchtlinge kämen in speziellen Buchten an und würden dann sehr diskret und unauffällig von den Organisationen gleich in die Hotspots verbracht. So wie sie es erzählt, klingt es routiniert. Man sehe auch gar nichts davon, beruhigt sie weiter, wenn man nicht gerade an einem dieser Hotspots vorbeifahren würde. Klar, da würden natürlich auch mal welche zum Einkaufen gehen und wieder zurück. „Aber das macht doch nichts.“, beruhigen wir die Dame beflissentlich, „vielen Dank, efcharistó!“