Eine neue CD, ein neuer Song, und schon ist sie wieder da, die nächste Xavier-Naidoo-Erregungskurve. Die politische Klasse nebst Medien geben die Wüteriche. Wütend ist man, seit Xavier irgendwie bekifft vor dem Brandenburger Tor für die Reichsbürger auf dem Fahrrad den Friedensengel gab. Seitdem mag man ihn nicht mehr so recht, den Ex-Fußballwundergeliebten, den ehemaligen Soundtracker der Schmusesongs für die dicken Audis aus dem Bundestagsfuhrpark.
Das Dechiffriersyndikat des Feuilletons
Xavier Naidoo der Abtrünnige, der Verräter, der Klassenfeind, der Netzbeschmutzer. Dachte man doch bisher, man hätte Presse und Musikszene sauber eingetütet und dann kommt da so ein Multimillionär auf irgendeinem verqueren Wahrheitstrip und spielt uns den letzten Gerechten? Pfui, Spinne! Nach der ersten allgemeinen Verunsicherung nun die totale Empörung. Der Schimpf kennt keine Grenzen mehr. Über einen Song. Über ein Liedchen.
Da wird ein Songtext von einem selbstbeauftragten Dechiffriersyndikat im Feuilleton erkennungsdienstlich behandelt, als sei es ein Kassiber aus dem Zweiten Weltkrieg. Man spielt die Rolling Stones wieder rückwärts, weil man den Teufel im Klartext hören will.
Und das Magazin Der Spiegel so weit vorne weg, das man ihn in diesem unheiligen Zorn schon abheben sehen kann: maximal arrogant, aber weiter im bequemen Herrenreitergestus. Klar, das führte zuletzt der Spiegelautor Markus Feldenkirchen bei Maischberger vor, den man ausgerechnet auf Tuchfühlung neben den bösen Herrn Roger Köppel aus der Schweiz platziert hatte. Aber einer kann es immer noch besser: Dieses Mal ist das Andreas Borcholte über den Fall Xavier Naidoo auf SPON.
Der Mannheimer Sänger würde sich endlich unverstellt als der „rechtspopulistische“ Hetzer und Verschwörungstheoretiker positionieren. Naidoos Song „Marionetten“ beinhalte „echte Verschwörungsrhetorik mit antisemitischen Untertönen aus der Spinner-Ecke.“ Der Song „Marionetten“ wäre „umstürzlerische, staatsfeindliche Rhetorik von Pegida und der AfD-Rechten.“ Es würde einem schon beim Lesen dieser Hetzschrift übel. „Naidoo rappt ihn holpernd und ohne Flow über einen billig anmutenden Elektropop-Beat.“ Und so weiter und so fort.
Verhetzende Inhalte, massentauglich
Satire? Vielleicht analog zu diesem Wutdarsteller aus der „heute Show“? Borcholte versucht sich also als Gernot Hassknecht. Nein, dem Kritiker des Kritikers könne man nicht beikommen, denn der sichert sich ab und erklärt: Wer nun die Kritiker kritisiere, der sei sowieso „Reichsbürger“ und halte „alles, was in der so genannten Mainstream-Presse gegen Naidoo hervorgebracht wird, ohnehin für die programmatische, aus Kanzleramt und/oder CIA-Zentrale gesteuerte Abwehrreaktion.“ Wie nennt man so etwas nun? Eine vorauseilende Paranoia? Missbrauch würden Naidoo und seine Kollegen betreiben, „indem sie ihre Popularität instrumentalisieren, um demagogische, verhetzende Inhalte massentauglich zu machen.“
Songs, drastisch, asozial, menschenfeindlich. Der undeutliche Text von Naidoo gibt das aber alles nicht her. Denn hinter einer gesungenen Handlungsaufforderung müsste die politische Bewegung stehen. Die Adaption. Das ist das eigentlich perfide dieser Diskussion. Die Internationale erkämpft das Menschenrecht. Sie war Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung. Die Giovinezza war Triumphhymne der Nationalen Faschistischen Partei Italiens. Aber was hat das alles mit unserem Mannheimer Barden zu tun? Seinem Songtext fehlt dafür die eigentliche Akklamation.
Da sollte man sich doch mal an Heinz Rudolf Kunzes „Willkommen, liebe Mörder“ erinnern, wenn man eine echte Gratwanderung erleben will.
Naidoo steht viel eher in der Tradition der amerikanischen Liedermacher. Phil Ochs beispielsweise, die US-amerikanische Stimme des Protests der 1970er Jahre, der Gebursthelfer der bekifften Blumenkinder. Er sang: „Hier ist ein Land voller Kraft und Herrlichkeit. Voller Schönheit, die Worte nicht beschreiben können. Doch es ist nur so reich wie ein verriegeltes Gefängnistor.“ Ochs weiter: „Es ist ein einzigartiger Sumpf aus Korruption, der das Land vergiftet hat.“ Politiker damals schon nur Marionetten?
Natürlich geht es hier um Zuspitzung ebenso wie um Verschlüsselung, um die interpretatorische Botschaft hinter der Botschaft. Um den Rhythmus des Bösen, des Guten, des Irgendwas. Und dann um diese eine Zeile, die Raum bietet für Interpretation – die Provokation. Wenn Ochs schrieb: „In einer derart brutalen, hässlichen Welt liegt der wahre Protest in Zärtlichkeit und Schönheit.“ Dann adaptiert das Xavier Naidoo als Botschafter der Liebe, so versteht er sich selbst: „Wenn ein Lied meine Lippen verlässt, dann nur damit Du Liebe empfängst.“ Ja, das darf man kitschig finden, aber es bleibt Lyrik zwischen Massenmarkt und Netzkultur. Hier geht es niemandem um faktische Wahrheiten, nicht um gesungene Nachrichten oder den politischen Vortrag mit Piano-Begleitung, sondern um die Wiedergabe eines Sounds einer ganzen Generation. Vielfältiger Stress also aus einem ganz anderen Grund. Aus vielen nicht erklärungsbedürftigen künstlerisch motivierten Gründen.
Nein, es geht hier tatsächlich nur um einen Song auf dem neuen Album von Xavier Naidoo. Ein sensibler Mainstreamer, von dem man nun aber doch bitte, bitte erwarten dürfe, dass er sich auch so benimmt, der gute Schmusesong-Lieferant aus Mannheim.
Gesucht: 80 Millionen Wahrheiten
Aber nein, dieser Herr Naidoo benimmt sich gar nicht so, wie der Herr Grönemeyer. Der Bochumer allerdings empörte sich schon im ersten Durchgang über das Theater um Naidoo: „Was jetzt auf seinem Rücken für ein absurdes Theater abgefertigt wird, ist unverständlich.“ Aber was ist nun, was aktuell passiert?
„Wir brauchen keine Gesinnungspolizei oder Meinungsüberwachung, sondern hoffentlich 80 Millionen verschiedene Köpfe und Wahrheiten“, Nein, kein Zitat aus Naidoos „Marionetten“, sondern ein weiterer Kommentar von Grönemeyer, der hier und heute noch einmal besondere Gültigkeit bekommt.
„Xavier Naidoo ist ein sensationell guter Musiker und Freund. Er ist einer der besten Sänger und Songwriter, den es in Deutschland gibt – ein großartiger Künstler“, postete Pur-Sänger Hartmut Engler, als die Kanonen zum ersten mal gegen den Sänger in Stellung gebracht wurden. Und Til Schweiger empörte sich, dass es doch erschütternd sei, wie mit einem der größten deutschen Sänger, „der auch als Mensch einer der liebsten, lustigsten und gutmütigsten Menschen im Showbusiness ist“, umgegangen werde.
Konzertveranstalter Marek Lieberberg (Rock am Ring) schrieb entsetzt: „Ich bin zutiefst erschüttert über die unglaubliche Hetze, die widerliche Heuchelei und den blinden Hass, für die es keinerlei Berechtigung gibt!“ – nein, nicht über den Song Naidoos, sondern über den Freigeist des Sängers. Presse und Politik haben es nun diesen Loyalitäts-Prominenten aus der Musik- und Filmbranche augenscheinlich nicht vergessen und packen die Gelegenheit beim Schopfe. Um sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen? Nein, denn dann wäre dieser Versuch grandios gescheitert.
Noch mal: Es geht um einen Songtext auf dem neuen Album des Sängers. Um ein nachdenklich stimmendes Gedankenspiel. Um ein im Stile Xavier Naidoos komponierten Text. Um nichts mehr. Wie der Text geht, können sie hier nachlesen und sich ein eigenes Urteil bilden: https://genius.com/Sohne-mannheims-marionetten-lyrics
Nein, wer sich hier so schreihalsmäßig empört, der glaubt nicht an Lobbyisten in Berlin, der hält Martin Schulz nicht für eine postfaktische Erscheinung, der glaubt, Angela Merkel vertrete langfristige Perspektiven, der hält die Grünen für eine Oppositionspartei, der weiß, dass wir noch mehr Migranten brauchen, um unsere Renten zu bezahlen, der hält Ausländerkriminalität für eine Erfindung der „Reichsbürger“ – in einem Satz: Der hat nicht mehr alle Tasten am Klavier.
Dem möchte man zusammen mit Xavier hinterhersingen:
„Wie lange wollt ihr noch Marionetten sein?
Seht ihr nicht? Ihr seid nur Steigbügelhalter
Merkt ihr nicht? Ihr steht bald ganz allein.“
Dann singt man mal nicht zum dritten Platz einer Fußballweltmeisterschaft, sondern zur kommenden Bundestagswahl oder in der Karaokebar um die Ecke, ist doch völlig egal.