Wird der Familiennachzug zum Stolperstein für die Sondierungsverhandlungen zu Jamaika? Jedenfalls steigt der Druck. Die Sondierung „Muss“ bis Freitagmorgen abgeschlossen sein. Künstlich wird so getan, als ob Zeitdruck bestünde. Den hat man sich allerdings mit der willkürlichen Terminsetzung Freitag selbst gesetzt. Man ahnt, weshalb: Mit Krokodilstränen werden FDP und CSU erklären, warum sie umfallen „mussten“ – Sie wissen schon… Man gewinnt den Eindruck, dass die Sondierung nur dazu dient, längst Beschlossenes in einem großen Sack zu stecken, um die problematischen Inhalte zwischen Klein-Klein zu verstecken. Beispiel dafür ist der „Familiennachzug“.
Dann gibt man sich hart. FDP-Chef Christian Lindner sagte der Passauer Neuen Presse : „Der Familiennachzug muss auf wenige individuelle Härtefälle beschränkt bleiben, solange es kein Regelwerk für die Einwanderung und Rückführung von Migranten ohne Aufenthaltsrecht gibt.“ Auch gelungene Integration müsse eine Rolle spielen. „Ich sehe da keine Möglichkeit, den Grünen weiter entgegenzukommen.“ Zuvor hatte auch Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) erklärt, er sehe hier „keinen Spielraum“ in den Beratungen.
Für die WELT sind das „Dicke Bretter“, die da heute zu bohren wären. Allerdings bleibt die Frage im Raum, was da überhaupt verhandelt wird. Geht es um den Familiennachzug in Gesamtheit oder lediglich um den ausgesetzten für subsidiär Schutzberechtigte? Denn genau daran scheitern regelmäßig die Zahlenspiele und Schätzungen. Fällt hier der wesentlich umfangreichere rechtswirksame Familiennachzug anerkannter Asylbewerber unter den Tisch?
Das ist der Rhetorik-Trick Nummer Zwei: Diskutiert wird über das Öffnen oder Schließen einer Nebentür, während das Haupttür sperrangelweit offen bleibt – der viel zahlenkräftigere Nachzug von Angehörigen der Asylberechtigten und der Flüchtlinge nach der Genfer Konvention. Sie stellen zusammen die große 80-Prozent-Mehrheit – und ihr Recht auf Familiennachzug ist unumstritten. Anders ist es bei den sehr viel geringeren Zahlen bei „Subsidiärem Schutz“,der auch nur für 1 Jahr ausgesprochen wird. Man inszeniert einen Nebenkriegsschauplatz, um vom Hauptkriegsschauplatz abzulenken.
Innenminister de Maiziére erklärte noch am 1. September beim Treffen der Innen- und Justizminister, zum Familiennachzug wisse man nicht genau, wie viele berechtigt seien. Daher seien Rückschlüsse auf die entsprechende Gesamtzahl im Moment nicht möglich. Das Auswärtige Amt teilte auf Anfrage des ARD-Faktenfinder mit, dass zu den Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak etwa 200.000 bis 300.000 Familienangehörige nachziehen könnten. Schaut man weiter zurück, findet sich 2015 eine Meldung der BILD, wonach aus geschätzt 920.000 Asylbewerbern „durch Familiennachzug bis zu 7,36 Millionen Asylberechtigte werden“ könnten.
Wenn also gestern die Grünen-Politikerin Claudia Roth bei den Sondierungen zu Jamaika gegenüber dem ARD-„Morgenmagazin“ ein „Ja“ ihrer Partei zur weiteren Aussetzung des Familiennachzugs für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz ausschließt, dann betrifft das sowieso nur einen kleinen Kreis aktuell aufenthaltsberechtigter Personen, die ihre Familie nachziehen lassen wollen. Für die viel größere Gruppe anerkannte Asylbewerber ist diese Aussetzung sowieso kein Thema. Ihrem Familiennachzug steht nichts mehr im Wege.
Für Claudia Roth ist der Familiennachzug „ein Kernbereich“ grüner Politik. Er sei die Voraussetzung dafür, „dass Menschen sich hier integrieren können.“ Zudem gehe es um begrenzte Zahlen von 50.000 bis 70.000 Nachziehenden. „Das könne man doch in einem geordneten Verfahren organisieren“, wenn nur „der politische Wille“ vorhanden sei. Hier allerdings bezieht sie sich ausschließlich auf Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz. Und nur hier spricht sie sogar von einer Aussetzung des Rechts. Von einem Rechtsbruch in anderer Sache keine Rede.
Die große Zahl derer, die sowieso ihre Familie nachkommen lassen können, fällt in dieser Diskussion völlig unter den Tisch. Auch die Union sucht gerne dieses Nebengleis auf. CDU-Innenexperte Armin Schuster erklärte gegenüber der WELT, dass an der Aussetzung des Familiennachzugs festzuhalten sei. Sonst sei die von der Union angestrebte Begrenzung der Flüchtlingszahlen nicht zu erreichen. Die allerdings ist längst utopisch gering angesetzt. Bei 239.050 positiven Bescheiden bisher in diesem Jahr wäre schon der Familiennachzug von nur einer Person pro Antragsteller eine Verdoppelung dieser Zahl.
Wenn also Christian Lindner vollmundig erklärte: „Der Familiennachzug muss auf wenige individuelle Härtefälle beschränkt bleiben“, dann ist das sogar das größte Windei von allen. Denn auch er bezieht sich selbstredend lediglich auf die wenigen Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz.
Aber das scheint die Politik der „Sondierung“ zu sein: So lange viele politische Felder öffnen, bis es unmöglich ist, sie überhaupt noch zu bearbeiten und nachzuvollziehen. Es wird ein Paket verpackt, dass dann über vier Jahre lang schrittweise ausgepackt wird. Es war ja sondiert worden. So entmachtet man das Parlament und befreit sich selbst von der Verantwortung.