Tichys Einblick
Die Öffentlichkeit täuschen

Was Familiennachzug bedeutet, absichtsvoll im völligen Nebel

Christian Lindner führt mit den Grünen vollmundig in die Irre: „Der Familiennachzug muss auf wenige individuelle Härtefälle beschränkt bleiben". Auch er meint nur die wenigen Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz. Aber das stellt er öffentlich nicht klar.

© Odd Andersen/AFP/Getty Images

Wird der Familiennachzug zum Stolperstein für die Sondierungsverhandlungen zu Jamaika? Jedenfalls steigt der Druck. Die Sondierung „Muss“ bis Freitagmorgen abgeschlossen sein. Künstlich wird so getan, als ob Zeitdruck bestünde. Den hat man sich allerdings mit der willkürlichen Terminsetzung Freitag selbst gesetzt. Man ahnt, weshalb: Mit Krokodilstränen werden FDP und CSU erklären, warum sie umfallen „mussten“ – Sie wissen schon… Man gewinnt den Eindruck, dass die Sondierung nur dazu dient, längst Beschlossenes in einem großen Sack zu stecken, um die problematischen Inhalte zwischen Klein-Klein zu verstecken. Beispiel dafür ist der „Familiennachzug“.

Welche Wahlauswirkungen?
CDU-FDP Koalition in Kiel für leichten Familiennachzug
Nun soll es auf Ebene der Parteichefs und Verhandlungsführer keine wesentlichen Fortschritte speziell zum Themenkreis Familiennachzug geben. Alles zu Migration und Integration wurde von gestern auf heute verschoben. Gegenüber der Rheinischen Post erklärte die Grünen Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt: „Ich sage vor allem der CSU: Jetzt macht euch doch mal locker. Schließlich ist doch gerade für die Union die Familie ein Wert an sich.“ Das ist schlau gemacht. Es geht angeblich um Familien, ein in allen Kreisen außer bei den Grünen positiv besetzter Bereich. Schade, dass es nur um Nachzug geht. So verschiebt man rhetorisch das Thema in einen ungefährlichen Bereich.

Dann gibt man sich hart. FDP-Chef Christian Lindner sagte der Passauer Neuen Presse : „Der Familiennachzug muss auf wenige individuelle Härtefälle beschränkt bleiben, solange es kein Regelwerk für die Einwanderung und Rückführung von Migranten ohne Aufenthaltsrecht gibt.“ Auch gelungene Integration müsse eine Rolle spielen. „Ich sehe da keine Möglichkeit, den Grünen weiter entgegenzukommen.“ Zuvor hatte auch Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) erklärt, er sehe hier „keinen Spielraum“ in den Beratungen.

Für die WELT sind das „Dicke Bretter“, die da heute zu bohren wären. Allerdings bleibt die Frage im Raum, was da überhaupt verhandelt wird. Geht es um den Familiennachzug in Gesamtheit oder lediglich um den ausgesetzten für subsidiär Schutzberechtigte? Denn genau daran scheitern regelmäßig die Zahlenspiele und Schätzungen. Fällt hier der wesentlich umfangreichere rechtswirksame Familiennachzug anerkannter Asylbewerber unter den Tisch?

Das ist der Rhetorik-Trick Nummer Zwei: Diskutiert wird über das Öffnen oder Schließen einer Nebentür, während das Haupttür sperrangelweit offen bleibt – der viel zahlenkräftigere Nachzug von Angehörigen der Asylberechtigten und der Flüchtlinge nach der Genfer Konvention. Sie stellen zusammen die große 80-Prozent-Mehrheit – und ihr Recht auf Familiennachzug ist unumstritten. Anders ist es bei den sehr viel geringeren Zahlen bei „Subsidiärem Schutz“,der auch nur für 1 Jahr ausgesprochen wird.   Man inszeniert einen Nebenkriegsschauplatz, um vom Hauptkriegsschauplatz abzulenken.
Innenminister de Maiziére erklärte noch am 1. September beim Treffen der Innen- und Justizminister, zum Familiennachzug  wisse man nicht genau, wie viele berechtigt seien. Daher seien Rückschlüsse auf die entsprechende Gesamtzahl im Moment nicht möglich. Das Auswärtige Amt teilte auf Anfrage des ARD-Faktenfinder mit, dass zu den Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak etwa 200.000 bis 300.000 Familienangehörige nachziehen könnten. Schaut man weiter zurück, findet sich 2015 eine Meldung der BILD, wonach aus geschätzt 920.000 Asylbewerbern „durch Familiennachzug bis zu 7,36 Millionen Asylberechtigte werden“ könnten.

Wenn also gestern die Grünen-Politikerin Claudia Roth bei den Sondierungen zu Jamaika gegenüber dem ARD-„Morgenmagazin“ ein „Ja“ ihrer Partei zur weiteren Aussetzung des Familiennachzugs für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz ausschließt, dann betrifft das sowieso nur einen kleinen Kreis aktuell aufenthaltsberechtigter Personen, die ihre Familie nachziehen lassen wollen. Für die viel größere Gruppe anerkannte Asylbewerber ist diese Aussetzung sowieso kein Thema. Ihrem Familiennachzug steht nichts mehr im Wege.

Für Claudia Roth ist der Familiennachzug „ein Kernbereich“ grüner Politik. Er sei die Voraussetzung dafür, „dass Menschen sich hier integrieren können.“ Zudem gehe es um begrenzte Zahlen von 50.000 bis 70.000 Nachziehenden. „Das könne man doch in einem geordneten Verfahren organisieren“, wenn nur „der politische Wille“ vorhanden sei. Hier allerdings bezieht sie sich ausschließlich auf Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz. Und nur hier spricht sie sogar von einer Aussetzung des Rechts. Von einem Rechtsbruch in anderer Sache keine Rede.

Anerkannte Asylbewerber
Integrationskurs: Fragwürdiges Vorgehen bei Sprachprüfungen
Und man ahnt, wie die Sache ausgeht: Mit einer Kompromissformel, in der dem Buchstaben nach alle Recht kriegen – aber am Ende eben CDU und Grüne, während FDP und CSU mit fragwürdigen Formulierungen abgespeist werden. Wie das laufen könnte, sieht man hier: Zunächst verlautete aus der Union, Familiennachzug für subsidiär Geschützte nur, wenn diese ausreichendes Einkommen, Job und Wohnung nachweisen könnte. Mittlerweile sollen es Formulierungen sein wie die, wonach „Integrationsbereitschaft“ ausreicht – und das ist dann die Teilnahme an einem Sprachkurs auf niedrigstem Niveau. Das Hauptttor, der Familiennachzug für Asylberechtigte, ist ohnehin von Rechts wegen sperrangelweit offen. Dann wird über eine Nebentür so lange geredet, bis eine Formulierung gefunden wird, dass auch die geöffnet werden kann. Es ist ein Formelkompromiss, der die ursprüngliche Absicht, eine erneute Masseneinwanderung zu ermöglichen, nicht bremsen soll.

Die große Zahl derer, die sowieso ihre Familie nachkommen lassen können, fällt in dieser Diskussion völlig unter den Tisch. Auch die Union sucht gerne dieses Nebengleis auf. CDU-Innenexperte Armin Schuster erklärte gegenüber der WELT, dass an der Aussetzung des Familiennachzugs festzuhalten sei. Sonst sei die von der Union angestrebte Begrenzung der Flüchtlingszahlen nicht zu erreichen. Die allerdings ist längst utopisch gering angesetzt. Bei 239.050 positiven Bescheiden bisher in diesem Jahr wäre schon der Familiennachzug von nur einer Person pro Antragsteller eine Verdoppelung dieser Zahl.

Wenn also Christian Lindner vollmundig erklärte: „Der Familiennachzug muss auf wenige individuelle Härtefälle beschränkt bleiben“, dann ist das sogar das größte Windei von allen. Denn auch er bezieht sich selbstredend lediglich auf die wenigen Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz.

Aber das scheint die Politik der „Sondierung“ zu sein: So lange viele politische Felder öffnen, bis es unmöglich ist, sie überhaupt noch zu bearbeiten und nachzuvollziehen. Es wird ein Paket verpackt, dass dann über vier Jahre lang schrittweise ausgepackt wird. Es war ja sondiert worden. So entmachtet man das Parlament und befreit sich selbst von der Verantwortung.

Die mobile Version verlassen